Mythos entmythifiziert

Inwiefern die Debatte um Robert Eggers Filmepos „The Northman“ zu kurz greift

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

Im Juli erschien die BluRay von Robert Eggers Epos The Northman, ein Film, der gerade auch bei einem Mainstream-Publikum zunächst hohe Erwartungen geweckt hatte und dann im Zuge einer von Wokeness auf der einen Seite und der zunehmenden Hoffähigkeit rechtsextremen Gedankenguts auf der anderen in der öffentlichen Wahrnehmung zerrieben wurde. Eine Debatte, die vor allem zeigt, wie unreflektiert Kunst mittlerweile für ideologische Zwecke vereinnahmt wird. Dabei ist The Northman ein hochkomplexes Spiel mit der Rolle des Mythischen für den Menschen.

Als bereits im vergangenen Jahr angekündigt wurde, dass der amerikanische Regisseur Robert Eggers nach seinen dunklen Meisterwerken The VVitch und The Lighthouse einen neuen Film in die Kinos bringen würde, war die Erwartungshaltung sehr hoch. Und nicht nur, weil der Ästhet nach seinen perfekten Rekreationen der amerikanischen Siedlerzeit (The VVitch) sowie des späten 18. Jahrhunderts (The Lighthouse) sich nun mit einer beeindruckenden Schauspielerriege (was man auch kritisch beäugen könnte) sowie mit sehr viel Geld ausgestattet (ebenso) mit Anleihen aus dem Übersinnlichen an die Wikinger-Zeit wagen würde. Fantasy-Epen sind ja in Zeiten von Game Of Thrones und Herr der Ringe sehr beliebt. Auch die bislang tiefe Verwurzelung von Eggers Geschichten im Mythischen wie auch im Folk Horror versprachen eine über die rohe Gewalt sowie die Game Of Thrones-Ästhetik des Trailers hinausgehende Beschäftigung mit mythischen Elementen.

Die Vorab-Begeisterung eines Mainstream-Publikums in den Sozialen Medien jedoch ließ, was die Rezeption angeht, Schlimmstes befürchten von einer Generation, die den Film wahlweise entweder im Zeichen Politischer Korrektheit als Beschwörung eines überkommenen Männlichkeitskults oder auf der anderen Seite als gelungene Inszenierung rechtsextremer Topoi feiern würde. Natürlich ist beides richtig, aber in der Deutung des Films greift dies viel zu kurz.

Bereits die Rezeption seiner beiden vorhergehenden Werke verharrte mitunter viel zu sehr im Bereich rationaler Hermeneutik, die das Storytelling in den Mittelpunkt stellte und die inszenierte Kraft, die der Mythos aus sich selbst heraus entfaltet, außen vor lässt. Am Ende von The VVitch sieht man die Protagonistin bei einem Hexensabbat sichtlich erleichtert das Hexenfeuer hinauf gen Himmel schweben. Dieser Erlösungsmoment wurde von vielen Seiten als „kitschig“ bezeichnet und als Ende, das einen bis dahin gelungenen, weil dunklen, „Horrorfilm“ kaputt mache. Das Gegenteil ist der Fall, weil The VVitch aufmerksam der Logik des Rituals folgt, das er inszeniert: Der Verführung der Protagonistin durch den Teufel und die darauffolgende Aufnahme in den Hexencoven.

Natürlich kann man den Film allegorisch deuten oder die Hexenwerdung der Protagonistin Tomassin als Self-Fulfilling-Prophecy lesen, als kritische Auseinandersetzung mit der Hexenverfolgung und dem damit zusammenhängenden religiösen Wahn in den USA, worüber man dann wiederum eine Parallele zur heutigen soziopolitischen Situation Amerikas ziehen könnte. In diesem Fall ist das Ende natürlich kitschig, weil irgendwie unpassend, oder möglicherweise nur ein Traum. Nach der Logik des durchgespielten Rituals der satanischen Verführung ist die Hexenwerdung jedoch die endgültige Erlösung, der sich die Protagonistin, der dieses Schicksal von Anfang an vorherbestimmt war, lustvoll hingibt.

Hier sieht man bereits, wie komplex dieser Film im Grunde ist. In The Lighthouse – den ich persönlich für weit weniger gelungen, weil überästhetisiert, halte – wird ein weiterer Mythos inszeniert: der Aberglaube der Seefahrer. Und auch er wird überaffirmiert und mit einem Mysterium belegt, das kaum aufzuklären ist, weil der Film eine eigene Mythologie entwickelt, die nur aus ihm selbst heraus zu entschlüsseln ist. So muss wohl jede*r Zuschauer*in für sich selbst entscheiden, was in dem hellen Licht des Leuchtturms lauert, das den Menschen verführt. Dennoch sind die zahlreichen Verweise auf Seefahrer-Mythen – z.B. die Meerjungfrau, der Albatross – intelligent gesetzt und helfen dabei, ein Gesamtgebilde zu weben, das hochkomplex ist, aber, leider, von der Überästhetisierung der visuellen Inszenierung, die etwas zu klug sein will, (und vom Overacting des natürlich in der Regel absolut großartigen Willem Dafoe) regelrecht erschlagen wird. 

The Northman führt all diese Aspekte auf eine in seiner Überambition fast schon surreale Art und Weise ad absurdum: Die rohe Gewalt, die Männlichkeitsriten, das im wahrsten Sinne des Wortes Animalische. Der Plot ist extrem simpel gehalten, weil eh bekannt: Es ist die gleiche Geschichte um den Prinzen Amleth, die bereits Shakespeare adaptierte. Der Onkel tötet den Vater, um selbst König zu werden und die Königin zu rauben. Der Sohn schwört Rache. Anders als der Shakespeare‘sche Prinz ist Eggers Amleth jedoch alles andere als ein Zögerer und Zauderer. In bewusster (von Eggers auch bestätigter) Anlehnung an den großen Genre-Klassiker, Conan der Barbar, flieht der kindliche Prinz vor seinem Untergang, geht durch die harte Schule des Barbarentums, und kehrt als vermeintlicher Sklave zurück zum Übeltäter, um blutige Rache zu üben. 

Und schon beginnen die Köpfe zu rollen. Anders als in Conan der Barbar ist die Frau nicht das unmündige geraubte Wesen, sondern, auch das führte letztlich zu Kritik, die Wurzel alles Bösen: Erst das von Björk wunderbar gespielte Orakel, welches das ganze Desaster lostritt, dann die Sklavin Olga, die behauptet, über magische Kräfte zu verfügen und den Racheakt vorantreibt, als der Prinz dann doch ein wenig zögert, und schließlich die teuflische Mutter, die eher Lady Macbeth ist und die ganze Schandtat, inklusive des Auftragsmords an ihrem eigenen Sohn, minutiös geplant hatte.

Man kann das alles kritisieren und als substanzlos abtun. Vor allem aufgrund seiner Inszenierung, die man mit etwas bösem Willen in ihrem blutgetränkten Pathos auf den ersten Blick durchaus als faschistoid bezeichnen kann (auch wenn alle, wie schon bei Eggers vorherigen Filmen, zumindest in technischer Hinsicht die bildgewaltige, detailverliebte ästhetische Inszenierung loben). Doch das verkennt, was Eggers thematisch hier tatsächlich leisten möchte, und das ist eine Enttarnung, quasi eine Entmythifizierung des Mythischen.

The Northman kann tatsächlich vollständig als Allegorie gelesen werden, als Versinnbildlichung männlicher Wahnvorstellung, die sich durch die Geschichte hindurch kaum verändert hat und somit auch als konsequente Negation des Mythos. Der von Amleth imaginierte Walkürenritt kommt zweimal vor und ist einer der Schlüsselmomente für die Deutung des Films: In der ersten Sequenz, nach der Flucht von Olga und Amleth aus den Fängen des bösen Königs, wird die Walküre in Amleths Traumbildern mit seiner Geliebten Olga assoziiert, welche in dieser die Pferde nach Walhalla führt. Doch die Muse gibt in der nächsten Einstellung dem noch delirierenden Amleth überraschend zu verstehen, dass sie keinesfalls eine Walküre ist und somit den Mythos mit einem Schlag entkernt. Der blinde Glaube an das möglicherweise im Fieberwahn wahrgenommene Orakel zu Beginn des Films bestimmt Amleths Schicksal, nicht umgekehrt. Sein Drang, die Prophezeiung des Orakels zu erfüllen, ist in seinem blinden Pathos fehlgeleitet – hätte er Fjölnir profan und hinterrücks vor der Hütte getötet, wäre die Prophezeiung missachtet worden, aber der Rachegelüste genüge getan. So aber arbeitet sich Amleth immer wieder am Mythischen ab, ohne hinter die Fassade zu blicken und zu verstehen, dass es letztlich eine Lüge ist. 

Der Film weist dabei zahlreiche ironische Brüche auf; etwa, als ein Menschenopfer – zentraler Bestandteil eines die Götter besänftigenden Rituals – nicht stattfinden muss, weil Amleth bereits statt des dargebotenen Jungfrauenopfers den Wächter an der Opferstätte getötet hat, so dass Fjölnir der Meinung ist, dem Opferwillen sei genüge getan. 

Der Film spielt auf diese Art durchweg mit der Profanisierung des Mythos und bildet einen Übergang vom animistischen zum christlichen Weltbild ab, was man in der einzigen Szene, in der das Christentum erwähnt wird, sehr gut ablesen kann: Als Amleth die Gefährten seines Cousins – wohl eher des optischen Effektes wegen – rituell gekreuzigt hat, wird diese Tat den ‚barbarischen‘ Christen aus Osteuropa, also den Sklaven, zu denen auch Amleth zählt, zugeschrieben, beten diese doch schließlich einen nackten Mann an, der an einem Holzkreuz hängt. Tatsächlich sind die Heiden bereits mit dem christlichen Virus infiziert und glauben selbst nicht mehr an ihre Rituale, wie es noch Amleths Vater tat.

Den Höhepunkt erreicht die Profanisierung des Mythischen im Moment des zweiten Walkürenritts, der sich als simple Illusion (und Todessehnsucht) herausstellt, ein Trugbild der Religion, als welche sich auch das Heidnische entpuppt. Der heroische Tod und der darauffolgende Eintritt nach Walhalla erweisen sich möglicherweise als Illusion in den letzten Sekunden vor dem Tod, während das Erbe, die von Olga geborenen Zwillinge, in einer Schnitt-Gegenschnitt-Sequenz das irdische Leben affirmieren.

Es gibt noch viele weitere Momente in The Northman, die diese unterschwellige Botschaft vermitteln: Die Entzauberung der Welt als Folge ihrer Entmythisierung, der Verlust ursprünglicher, archaischer Glaubenskonzepte und die Trivialisierung von Geschichte. Eggers Detailverliebtheit – man beachte beispielsweise auch den konsequenten Gebrauch von Runenschrift bei den Texttafeln, der weit mehr ist als ein billiger Gag – grenzt zwar immer an eine Überästhetisierung, doch öffnet sie zumindest die Tür zu weiterführenden Lesarten, die in diesem Text nur angedeutet werden. Sie sollten als Einladung zur ernsthaften Beschäftigung mit diesem vielleicht auch zu Recht umstrittenen Film verstanden werden.