„Es gibt eine sehr hohe Lesefreudigkeit in Norwegen“
Ein Gespräch mit Tobias Voss, Leiter Internationale Projekte der Frankfurter Buchmesse, und Karina Goldberg, Projektmanagerin Ehrengast Programm der Frankfurter Buchmesse
Von Sascha Seiler
Norwegen ist Gastland der Frankfurter Buchmesse 2019 – eine vergleichsweise kleine Literatur, die jedoch nicht zuletzt dank des internationalen Erfolgs des Schriftstellers Karl Ove Knausgård in den letzten Jahren viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen konnte. Dass es neben dem prominenten wie umstrittenen Autor zahlreiche weitere norwegische Schriftstellerinnen und Schriftsteller gibt, die ihre ganz eigene, oft kompromisslose Vision von Gegenwartsliteratur verfolgen können, liegt nicht zuletzt auch an den gut organisierten staatlichen Förderungen sowie der höchst professionellen Vermittlung norwegischer Literatur ins Ausland. Wir sprachen mit Tobias Voss, dem Geschäftsleiter Internationale Projekte der Frankfurter Buchmesse, und Karina Goldberg, der Projektmanagerin des Ehrengast-Programms, über die Besonderheiten des skandinavischen Gastlands.
Wo sehen Sie die Besonderheiten des norwegischen Buchmarkts?
Tobias Voss: Erlauben Sie mir erst einmal ein paar allgemeine Bemerkungen, die die Struktur des Buchmarkts betreffen. Norwegen ist von der Einwohnerzahl her ein relativ überschaubares Land. Es gibt dort zwei norwegische Sprachen: das Neunorwegisch und das Bokmål, also die Buchsprache. Das Neunorwegisch ist älter und wird eher um Oslo herum und an der Westküste gesprochen. An der Grenze zu Schweden wird hingegen vornehmlich das Bokmål gesprochen. Das Neunorwegisch ist im 19. Jahrhundert entstanden, weil man sich abgrenzen wollte gegenüber den dänischen Besatzern. Da ist ein Sprachforscher durch ganz Norwegen gefahren und hat Begrifflichkeiten zusammengesucht; das war eine Sprache der Nationalfindung sozusagen. Das zweite, die Buchsprache, ist eine Sprachvariante, die im Moment eher in der Literatur verbreitet ist. Die meisten Verlage publizieren beide Sprachen, es gibt aber auch Verlage, die nur das eine oder das andere machen.
Was man insgesamt sagen kann, ist, dass es eine sehr hohe Lesefreudigkeit gibt in Norwegen. Im Durchschnitt liest jeder Norweger im Jahr 15,5 Bücher. Das ist eine stolze Zahl. Die Frauen lesen ein bisschen mehr, nämlich durchschnittlich 17 Bücher im Jahr, die Männer nur 12.
88 Prozent der Leute geben an, dass sie im Jahr mehr als ein Buch gelesen haben. Das ist auch eine stolze Zahl bei 5,5 Mio. Einwohnern. Von den Auflagen her ist es so, dass die großen Titel ungefähr wie bei uns auch in Richtung 250.000 Exemplare gehen, was eine ganze Menge ist, aber das sind dann die Bestseller. Früher haben 25 Prozent des Markts die Buchclubs ausgemacht, das war bei uns ja früher auch stärker, aber mittlerweile haben die wie in Deutschland auch in Norwegen zu kämpfen.
Wie verbreitet ist die zeitgenössische norwegische Literatur in Deutschland?
Voss: Das Problem für uns in Deutschland mit der norwegischen Literatur war, zumindest bevor ich mich mit dem Gastland beschäftigt habe, dass das hier alles irgendwie unter „Skandinavisch“ läuft. Vorher wäre ich mir auch selbst unsicher gewesen, ob Nesbø jetzt ein norwegischer oder ein schwedischer Autor ist. Ich war auch sehr überrascht zu hören, dass Ibsen auf Dänisch geschrieben hat, nicht auf Norwegisch. Das wird bei uns bisher eher regional verortet und das wird sich jetzt ein Stück weit ändern. Es gibt immerhin drei norwegische Nobelpreisträger – Hamsun, Undset und Bjørnson – was für ein so kleines Land sehr beachtlich ist.
Typisch für die norwegische Literatur ist eine Verbundenheit mit der Natur, das taucht in vielen Texten auf. Krimis sind natürlich weiterhin ein großes Thema, vor allem im Lizenzgeschäft. Einzigartig, das sollte man mal dazu erklären, ist die Art der Buchförderung in Norwegen. Es gibt 723 Titel im Jahr, die eine Förderung erhalten. Also eine gesicherte Abnahme wird in Aussicht gestellt. Das kommt aus den frühen 60er Jahren, als man vermeiden wollte, dass das Englische überhandnimmt. Manche Verlage finden das ein bisschen antiquiert und kritisieren das. Von manchen habe ich gehört, sie beteiligen sich daran gar nicht. Es wird allerdings bei der Auswahl Wert auf Qualität gelegt, es gibt eine Jury usw. Es ist eine Form der Sicherung norwegischer Sprachtradition; das gibt es so nicht noch einmal auf der Welt.
Was sehen Sie für Trends in der norwegischen Gegenwartsliteratur?
Voss: Es sind natürlich Autoren mit biographischem Ansatz wie Knausgård. Das erste Mal konfrontiert worden ist man mit Jostein Gaarders Sophies Welt, aber noch jemand, den ich ausgesprochen schätze, ist Jon Fosse. Der hat ein wunderbares Buch geschrieben über den letzten Tag eines Sterbenden. Er ist eher für Theaterstücke bekannt, das ist jetzt ein kleiner Roman, sehr berührend. Große Themen sind ansonsten Kinder und Familie, was ganz anderes ist z.B. „Max, Mischa und die Tet-Offensive“ von Johan Harstad, auch da hat man zwar einen biographischen Ansatz mit drin, es geht aber durch die Verbindung mit dem Vietnam-Krieg darüber hinaus. Die Naturverbundenheit äußert sich auch in Arbeiten von Maja Lunde, sie schreibt ihre Romane ja thematisch über Bienen, Wasser, Pferde. Politische Sachbücher werden auch viel gemacht, Erika Fatland, auch eine relativ junge Autorin, hat eine Recherche zu dem Anschlag im Süden Russlands veröffentlicht. Das jüngste Buch von ihr handelt von Grenzen, sie ist die Grenzen der alten Sowjetunion abgefahren und hat Reportagen gemacht. In Norwegen ist das ein großer Seller. Sie ist übrigens gemeinsam mit Knausgård die Eröffnungsrednerin.
Knausgård ist ja ein weltweiter Erfolg jenseits der Kriminalliteratur gewesen, vor allem ein sehr unerwarteter Erfolg. Ist diese Euphorie zu spüren, wenn man mit den Verlagen arbeitet?
Voss: Als ich das erste Mal für die Messe in Norwegen war, wurde mir mit einem gewissen Schmunzeln gesagt, die Deutschen wären ja vollkommen verrückt, weil sie jeden Krimi kaufen und alles aufsaugen. (lacht) Das fanden sie eher kurios. Ich glaube aber schon, dass die Verbreitung von norwegischer Literatur insgesamt relativ gut läuft. Das hängt damit zusammen, dass gerade die ‚kleineren Sprachen‘ in Europa eine sehr gute internationale Vermarktung betreiben. Bei den Finnen ist es FILI, bei den Niederländern der Letterenfonds, in Norwegen NORLA, eine Institution aus den 60ern, die den Gründungszweck hatte, Übersetzungen norwegischer Literatur, Romane, Sachbücher und Lyrik, zu fördern. Die Bekanntheit der norwegischen Literatur momentan ist auch dem Team von NORLA zu verdanken. Solche Erfolge wie Knausgård oder Gaarder kann man allerdings nicht vorhersagen. Die Kollegen haben eher mit dem Problem zu kämpfen, dass viele Leute da einfach den Stempel ‚Skandinavien‘ draufsetzen und gar nicht genau differenzieren, gerade zwischen Schweden und Norwegen.
Eine dritte Sprache ist die der Sami, mit dem Ungarischen und Finnischen verwandt. Die haben eine kleine Literatur, die aber durchaus wahrgenommen wird. Die wird auch beim Gastland-Auftritt eine große Rolle spielen.
Man legt in Norwegen viel Wert darauf, die kulturelle Identität der Sami wieder ins Bewusstsein der Menschen zu rücken. Wird da bei der Buchmesse auch Wert daraufgelegt, das als kulturelle Identität zu präsentieren?
Karina Goldberg: Auch die samische Literatur und Kultur ist im Gastlandpavillon ein Themenschwerpunkt. Selbst viele Norweger wissen wenig darüber, auch weil das Verhältnis dazu historisch mit Unterdrückung und Spannungen zu tun hatte. Jetzt möchte man versuchen, die Auseinandersetzung mit der samischen Geschichte, Literatur und Kunst im Gastlandpavillon in den Fokus zu rücken und an die Öffentlichkeit zu tragen. Da gibt es eine Anthologie von samischen Poeten, in der Zentralbibliothek in Frankfurt wird es einen Abend geben mit samischen Lyrikern, im Museum für Angewandte Kunst Frankfurt gibt es eine große Ausstellung House of Norway über Desgin, Mode, Theater, wo unter anderem das samische Nationaltheater und samische Künstler präsent sind. Es wird also auf der Messe und in der Stadt samische Kultur zum Erleben und Kennenlernen geben. Und die samische Sängerin Elle Marja Eira wird zum Abschluss der Eröffnungsfeier der Frankfurter Buchmesse ein samisches Lied auf der Bühne performen.
Eine Idee, die für sehr viel Aufsehen gesorgt hat, ist der sogenannte Literaturzug…
Voss: Ja, das ist ein Zug mit Autoren, der zusammen mit der Kronprinzessin Mette-Marit in Frankfurt ankommen wird. Mette-Marit hat eine enge Beziehung zu Literatur und daher ist so eine Schirmherrschaft wunderbar geeignet.
Goldberg: Für sie hat diese Art Zug, in dem sie in Norwegen mit Schülern und Autoren schon gefahren ist, Tradition. Die Idee war, das Konzept dieser Tradition im Rahmen des Gastlandauftritts nach Deutschland zu bringen. Sie wird am Sonntag vor der Buchmesse in Berlin sein und präsentiert zusammen mit einigen norwegischen Autoren eine Anthologie namens Heimatland – Was es bedeutet norwegisch zu sein, die sie gemeinsam mit dem Schriftsteller Geir Gulliksen herausgegeben hat. Danach fährt sie zusammen mit den Autoren sowie Journalisten nach Köln, von dort aus mit anderen Autoren nach Frankfurt. Ein Großteil der norwegischen Autoren ist dann in diesem Literaturzug, der am Dienstag vor der Eröffnung ankommen wird.
Gibt es einen bestimmten Fokus für den norwegischen Auftritt?
Voss: Ja, die Kollegen haben einen großen Wert auf den engen Kontakt zu den Buchhändlern gelegt. Die Isländer waren damals auf die Leser fokussiert, jetzt ist der Fokus auf den Buchhändlern. Die Buchhändler wurden auch zu mehreren Reisen nach Norwegen eingeladen – so werden sie zum Fan norwegischer Literatur und dann gibt es eine Ecke norwegische Literatur im Laden. Schon clever.
Goldberg: Zusätzlich zu den Reisen, bei denen die Buchhändler auch Autoren kennenlernen durften, wurde auch ein spezielles Magazin für alle Buchhändler herausgebracht. NORLA und die Ehrengastorganisatoren aus Norwegen fördern konkret Veranstaltungen mit norwegischen Autoren in Buchläden. Die Idee ist also, die Autoren da hinzubringen, wo die Leser sind und wo die Bücher gekauft werden.
Norwegisch spricht ja kaum jemand, es wird immer mehr übersetzt, da man ja sonst keinen Zugang dazu hat. Tomas Espedal hat mir in unserem Gespräch für diesen Schwerpunkt erzählt, er und Knausgård würden oft als einzige norwegische Autoren zu Events zur skandinavischen Literatur eingeladen, aber es wären immer sieben bis acht Isländer dabei, die extrem von dem Gastlandauftritt profitiert haben.
Goldberg: Zur Nachhaltigkeit des Erfolgs der Buchmesse: Finnland war ja 2014 Gastland, dieses Jahr feiern sie 5-jähriges Jubiläum als Gastland. Sie haben unter dem Motto „Finnland. Cool & Happy“ sogar ein paar Aktivitäten geplant, wo sie auf ihre Erfolgsgeschichte zurückblicken und resümieren, was seitdem passiert ist. Zum Beispiel wird es auf der Buchmesse eine große finnische Veranstaltung im Frankfurt Pavillon geben, wo auch ein Übersetzerpreis verliehen wird. Man sieht, was für einen großen Effekt das für die Verleger und Autoren hatte.
Voss: Das Gastland-Konzept hat dann natürlich den größten Erfolg in Deutschland. Auch wenn das Förderprogramm natürlich multilateral ist, spielt Deutschland schon eine große Rolle. Das ist eine der wenigen Voraussetzungen für ein Gastland: Es werden Geschichten gehandelt, die Lizenzen für Geschichten. Wir haben mit 12 Prozent eine relativ gute Übersetzungsrate. Zum Vergleich: In den USA sind es nur 3 Prozent in der Belletristik. Ich denke, wenn etwas ins Deutsche übersetzt wird, hat das auch eine Leuchtturmwirkung auf andere Länder. Als die Niederlande zum ersten Mal 1993/94 Gastland waren, sagte mir der Letternfonds, das sei der Durchbruch gewesen, bei dem sie internationale Kontakte auf der ganzen Welt knüpfen konnten. Das sehen wir als unsere Aufgabe an, dafür zu sorgen, dass mehr Geschichten ausgetauscht werden.
Gibt es von Norwegen schon mehr Übersetzungen (im Vergleich zu Georgien), die jetzt zur Messe herauskommen?
Goldberg: Auf unserer Neuerscheinungsliste von Oktober 2019 stehen jetzt 510 Titel aus und über Norwegen, die meisten davon, ca. 300, sind übersetzte Titel, die anderen sind Bücher über Norwegen. Eine sehr beeindruckende Zahl.
Voss: Und auch eine vergleichsweise große Zahl. Bei Frankreich waren es ebenfalls über 500, Georgien allerdings 160 Titel. Von der Bevölkerungszahl sind die ja vergleichbar mit Norwegen. Das macht den Auftritt der Georgier selbstverständlich nicht schlechter, sagt aber einiges aus über das norwegische Interesse.
Gibt es bei Sachbüchern auch eine Tendenz? Besonders viele Reisebücher vielleicht?
Voss: Es gibt einen starken Sachbuchmarkt. Da ist eine Initiative besonders bezeichnend: mit NORLA hat von Stavanger aus das Projekt ICORN seinen Anfang genommen. Das ist ein Projekt mit ca. 80 Städten als Mitgliedern, die es politisch verfolgten Autoren ermöglichen, für ein bis zwei Jahre einen Zufluchtsort zu bekommen und ihrer Arbeit nachzugehen. Es sind Arbeitsstipendien. Auch Frankfurt ist Mitglied, momentan mit Aslı Erdoğan, die auch bei der Eröffnung der Reihe Die Stunde der Freiheit, welche täglich von 13.00 – 13.30 Uhr im norwegischen Pavillon stattfindet, vor Ort sein wird. Es spiegelt sich eine liberale, politische Haltung Norwegens auch im Buchmarkt wider.
Goldberg: ICORN ist auch auf der Messe vertreten mit eigenem Stand und Bühne und vielen Veranstaltungen. Eine größere gibt es zum Beispiel im Frankfurt Pavillon am Donnerstagnachmittag, wo Juergen Boos und Ine Eriksen Søreide, die Außenministerin von Norwegen, dabei sein wird, der Titel lautet The Hour of Freedom – Facts, Fiction & Freedom of Expression. Das wird sich durch den ganzen Auftritt als Schwerpunktthema durchziehen.
Voss: Etwas Typisches sind, abgesehen vom Sachbuchmarkt, natürlich immer noch die Krimis, mittlerweile auch mitsamt Verfilmungen. Das kennt man auf der ganzen Welt.
Goldberg: Wobei beim Gastlandauftritt der Krimi gar nicht so sehr in den Vordergrund gestellt wird. Es sollen bewusst andere Genres und Stimmen in den Fokus gerückt werden. Gerade diese Förderungsmöglichkeit, die es in Norwegen gibt, die den Autoren eine gewisse Sicherheit gibt, sichert auch die Vielfalt im Schreiben. Sachbuchautoren können auch mal einen Roman schreiben, Lyriker mal ein Sachbuch usw. Der diesjährige Slogan „Der Traum in uns“ ist aus einem Gedicht von Olav Hauge, darin heißt es auch, dass der Traum einen in Buchten führt, um die wir noch nicht wussten. Das sagen die Norweger immer wieder, dass die Besucher und Leser in die Buchten geführt werden sollen, die sie noch nicht kannten. Also Seiten an Norwegen bzw. an der norwegischen Literatur entdecken, die sie noch nicht kannten.
Hat man schon etwas im Auge, das angepriesen werden wird als sozusagen kommende norwegische Literatur-Sensation?
Goldberg: Mein Eindruck von den Norwegern ist, dass sie niemanden gerne in den Vordergrund stellen. Es fällt ihnen generell schwer, überhaupt Highlights zu nennen, weil sie ein Verständnis von flachen Hierarchien haben und sich niemand in den Mittelpunkt stellt. Alle Autoren sollen gleich behandelt werden. Deshalb wundert es mich nicht, dass sie diesbezüglich noch nichts angesprochen haben. Sie arbeiten mehr thematisch, für bestimmte Themen gibt es eben bestimmte Autoren. Aber ein ‚Highlight‘ gibt es da nicht.
Voss: Es ist ein sehr konsensual geprägter Charakter, das merkt man in der Zusammenarbeit. Konflikte werden sehr moderat angesprochen, da würden wir fast schon drüber weghören. Dass das Politische im Vordergrund steht, hat man auch bei der allerersten Veranstaltung des Gastlands im Februar auf der Münchner Sicherheitskonferenz gesehen. Dort haben wir eine Diskussion organisiert zwischen Åsne Seierstad und der Premierministerin: Wie stellen sich die Demokratien des Westens nach dem Desaster von Utøya dar? Das war sehr spannend. Der Auftritt findet also über das ganze Jahr nicht nur in Frankfurt statt, sondern Frankfurt ist dann der Höhepunkt.
Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz