Vorreiter des modernen Romans des 20. Jahrhunderts

Zahlreiche Neuerscheinungen kommen zum 200. Geburtstag von Gustave Flaubert auf den Markt

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Flaubert ist aus seinem Werk allein nicht zu erkennen. Er hat sich, sobald er an die Nachwelt dachte – und er dachte an die Ewigkeit – versteckt; er hat über sich getäuscht. Man muß ihn aufsuchen, wo er sich gehen ließ, nicht unter Verantwortung schrieb. Dort wird man erfahren, daß der fühllose Beobachter einen Zärtlichen birgt, der Verächter einen Leidenden; daß dem stummen, strengen Bildner das Herz voll formloser Sehnsucht ist; daß es ihm voll Forderungen und unterdrückter Schreie ist; daß der wach umherblickende Arbeiter lieber in sich hinabschauen und seine Tiefen durch spüren würde; – ja, daß hier ein Plastiker auf der Stelle den Meißel schwingt, wo er einen Analytiker lebendig begraben hat.

So urteilte Heinrich Mann (1871–1950) in seinem frühen Essay Flaubert und die Kritik (1905) über den französischen Romancier Gustave Flaubert (1821–1880), den er auch einen „Heiligen des Romans“ nannte und dessen Werk zum Maßstab des eigenen Schaffens wurde.

Mit seiner Flaubert-Biografie, die 2013 erschien, versuchte der Historiker Michel Winock, den „versteckten Beobachter, Bildner, Arbeiter und Analytiker“ Flaubert sichtbar zu machen. Zum 200. Geburtstag des Schriftstellers ist diese bemerkenswerte Biografie erstmals in deutscher Übersetzung im Hanser Verlag erschienen. Bereits in seinem Vorwort betont Winock, dass er keineswegs „mit französischen oder ausländischen Flaubert-Spezialisten konkurrieren – oder sich gar ihnen andienen will“. Seine Absicht ist vielmehr, die Leser an seinem Interesse an Flaubert teilhaben zu lassen, indem er „das Leben eines Mannes in seinem Jahrhundert“ beschreibt. „Eine Biografie zum Vergnügen, jedoch eine Biografie eines Historikers“ – gewidmet dem „modernsten Romancier seiner Zeit“. Bereits im ersten Satz verortet er Flauberts Leben: „geboren unter Ludwig XVIII. (1821) und gestorben unter Jules Grévy (1880)“. Einige der dreißig Kapitel tragen als Überschrift auch historische Wegmarken des 19. Jahrhunderts („1848“, „Krieg“ und „Die Commune“). Immer hat Winock die bewegte politische und gesellschaftliche Entwicklung in Frankreich im Blick – von der Restauration über Julirevolution und Julimonarchie, Zweite Republik, Zweites Kaiserreich, Krieg, Pariser Kommune bis hin zur Dritten Republik. Mit dieser Herangehensweise erliegt der Autor nicht der Versuchung, aus Flauberts Leben einen Roman zu machen. Für Winock ist es ein Jahrhundert der triumphierenden Bourgeoisie, und genau diese hatte für ihn Flaubert ständig im Visier.

Trotz dieser historischen Ausrichtung stehen Flauberts Lebensstationen im Mittelpunkt der Biografie. So werden in den ersten Kapiteln Flauberts Vorfahren, seine Collegezeit, die ersten Schreibversuche, der Abbruch der Juristenausbildung und die Vorliebe für Geschichte ausführlich beschrieben; ebenso die ersten Liebeserfahrungen und die Freundschaften in den Jugendjahren. Breiten Raum nimmt später auch seine Liebe zu der elf Jahre älteren Louise Colet ein, die bereits eine erfolgreiche Schriftstellerin und gesellschaftliche Größe war und über viele Jahre seine Muse werden sollte. Es war eine leidenschaftliche Liebe, auch wenn beide unter Liebe nicht dasselbe verstanden. Nach Winock stand diese Liebe „nur auf einem Bein – dem Bein Louise‘“. Während sie in diese Verbindung all ihre Gefühle legte, war sich Flaubert unsicher, wie sich die Beziehung entwickeln würde. So sind seine Briefe an Louise ein Zeugnis von Leidenschaft und Abwehr.

Im Februar 1848 eilte Flaubert mit einem Freund nach Paris, um bei den revolutionären Ereignissen dabei zu sein. Doch die Ausbrüche von Begeisterung und Raserei, die er aus nächster Nähe erlebte, erregten bei ihm eher eine Verachtung der Politik. Seine spätere vermeintliche Distanz gegenüber dem historischen Geschehen steht aber im lebhaften Gegensatz zu der Aufmerksamkeit, die seine Romanfiguren den Pariser Szenen entgegenbringen. Besonders deutlich wird das in seinem letzten Roman L’Éducation sentimentale (1869), wo der Protagonist die chaotischen Tage mit den Straßenkämpfen in Paris erlebt.

In einzelnen Kapiteln beleuchtet Winock die literarischen Strömungen in Frankreich in der Mitte des 19. Jahrhunderts sowie Flauberts Verhältnis zu den anderen großen französischen Schriftstellern seiner Zeit, die auch seine Konkurrenten waren: Stendhal, Victor Hugo, Honoré de Balzac, Emile Zola oder Guy de Maupassant. Ein inniges Verhältnis hatte Flaubert zu der Schriftstellerin George Sand (eigentlich Amantine Aurore Lucile Dupin de Francueil), die dem Eigenbrötler oft mit Rat und Trost zur Seite stand, während er sie „liebe Meisterin“ nannte.

Die wissenschaftliche, mitunter pedantische Arbeitsweise mit aufwändigen Recherchen selbst für kleine Nebenrollen und ausgedehnten Reisen zu den Handlungsorten, mit der Flaubert sein literarisches Handwerk ausübte, rückt Winock ebenfalls mehrfach ins Blickfeld. Neben der Biografie des manischen Arbeiters und den historischen Hintergründen widmet sich Winock auch der Analyse einiger Werke und Flauberts Wirkungsgeschichte. Neben seinem Meisterwerk Madame Bovary, den beiden Romanen Salammbô (1862, dt. Salambo: Ein Roman aus Alt-Karthago) und La Tentation de Saint Antoine (1874, dt. Die Versuchung des heiligen Antonius) sowie dem nachgelassenen Fragment Bouvard et Pécuchet (1881, dt. Bouvard und Pécuchet), schenkt Winock L’Éducation sentimentale die größte Aufmerksamkeit, da dieser Roman autobiografische Bezüge enthält.

Die Biografie überzeugt nicht nur mit ihrer ausgewogenen Balance von Lebenserzählung, Werkanalyse und historischem Hintergrund, auch der umfangreiche Anhang hält neben Anmerkungen, Quellenverzeichnis, Bibliografie und einer Zeittafel noch weitere Überraschungen parat: unter dem Titel „Kleine Anthologie“ befinden sich eine Auswahl von anregenden Flaubert-Zitaten (z. B. „Der Erfolg ist eine Folge und darf nicht das Ziel sein.“) sowie ein „Florilegium“ mit Einschätzungen von namhaften Flaubert-Lesern und -Kritikern. Ein Bildteil mit historischen Abbildungen macht ebenfalls neugierig auf den großen Realisten der französischen Literatur.

Neben der Biografie hat der Hanser Verlag noch zwei weitere Neuerscheinungen zum Flaubert-Jubiläum herausgebracht, die beiden Romane Mémoires d’un fou (1938, dt. Erstübersetzung 1907 Erinnerungen eines Narren) und L’Éducation sentimentale (1869, dt. Erstübersetzung 1904 Der Roman eines jungen Mannes) – beide in Neuübersetzungen (Memoiren eines Irren und Lehrjahre der Männlichkeit) von Elisabeth Edl, die für ihre Übertragungen und Editionen schon mehrfach ausgezeichnet wurde. In der Gesellschaftsstudie Lehrjahre der Männlichkeit wird die Geschichte des jungen Frédéric Moreau erzählt, der als Student 1840 mit hochfliegenden Träumen aus der Provinz nach Paris kommt. Er hat große Pläne, als er ein kleines Vermögen erbt. Mit künstlerischen Ambitionen stürzt er sich in das Pariser Stadtleben. Während einer Fahrt mit einem Seinedampfer lernt er Madame Arnoux kennen, in die er sich spontan verliebt und jahrelang auf eine Verbindung hofft. Doch die schöne Madame ist mit einem Kunsthändler verheiratet und so flüchtet sich Frederic auch in andere Liebesbeziehungen. Später gerät er in die Gesellschaft revolutionär gesinnter Künstler und Journalisten. Die Handlung kulminiert schließlich in den Wirren der Februarrevolution von 1848, in die Frederic aus Neugier hineintaumelt. Trotz anfänglicher Begeisterung bleibt er jedoch ein revolutionärer Zaungast, der maßlos enttäuscht ist über den Sieg der Reaktion.

Am nächsten Morgen erfuhr er von seinem Diener die Neuigkeiten. Der Belagerungszustand war verhängt, die Nationalversammlung aufgelöst und ein Teil der Volksvertreter in Mazas. Die öffentlichen Angelegenheiten ließen ihn gleichgültig, zu sehr war er mit seinen eigenen beschäftigt.
[…]
Es war fünf Uhr, leichter Regen fiel. Bürger standen auf dem Trottoir unweit der Oper. Die Häuser gegenüber waren verschlossen. Niemand an den Fenstern. Auf der ganzen Breite des Boulevards preschten Dragoner in gestrecktem Galopp, über ihre Pferde gebeugt, die Säbel blank; und ihre Helmbüsche, und ihre weiten hinter ihnen aufwehenden weißen Mäntel leuchteten vor dem Licht der Gaslaternen, die nebelverhangen im Winde flackerten. Die Menge gaffte, stumm, entsetzt. Zwischen den Angriffen der Kavallerie erschienen Schwärme von Schutzmännern, um die Masse zurückzudrängen in die Straßen.

Flaubert hat das private Schicksal Frédérics mit seinem desillusionierenden Lebensweg meisterhaft mit den politischen Ereignissen der 1840er und 1850er Jahre in Frankreich verknüpft. Der Roman, mit dem Flaubert zehn Jahre nach dem Abschluss von Madame Bovary (1856) begann, wurde zu Lebzeiten nur von wenigen Literaturkritikern akzeptiert; wie die Revolution wurde er ein Misserfolg. Erst im 20. Jahrhundert erkannte man das Werk als Vorläufer der literarischen Moderne. Seitdem steht der Roman in Frankreich fast ebenbürtig neben Madame Bovary, in Deutschland konnte man sich nicht einmal auf einen Titel einigen. Edl, die sich mehrere Jahre mit der Übersetzung beschäftigte, betont in ihrem rund 70seitigen Nachwort, dass der Roman zwischen 1904 und 2001 zehnmal ins Deutsche übersetzt wurde und diese zehn Übersetzungen sage und schreibe sieben verschiedene Titelvarianten tragen: Die Schule der Empfindsamkeit, Der Roman eines jungen Mannes, Die Erziehung des Herzens, Die Erziehung des Gefühls, Lehrjahre des Gefühls, Lehrjahre des Herzens, Die Erziehung der Gefühle, und auch für den Untertitel gibt es immerhin noch deren zwei: Der Roman eines jungen Mannes und Geschichte eines jungen Mannes. Edl dagegen wählte den Untertitel Geschichte einer Jugend und ergänzte als Herausgeberin die Neuerscheinung mit einer Chronologie zur französischen Politik 1814 bis 1870 und zahlreichen Anmerkungen (140 Seiten). Zur Entstehungsgeschichte des Romans gehört auch die Tatsache, dass es bereits ein frühes, damals unveröffentlicht gebliebenes Jugendmanuskript mit dem gleichen Titel von 1845 gab.

War Lehrjahre der Männlichkeit Flauberts letzter vollendeter Roman, so zählt der Kurzroman Memoiren eines Irren zu seinen Frühwerken. Das Manuskript entstand 1838 – Flaubert war gerade im zarten Alter von siebzehn Jahren. Später tat er die leidenschaftliche, leicht pubertäre Erzählung als bloße „Schreibübung“ ab; so blieb sie zeitlebens unter Verschluss und wurde erst posthum 1901 veröffentlicht. Auch hier verliebt sich ein junger Mann in eine verheiratete Frau. Gegen alle Vernunft macht sich der Fünfzehnjährige Hoffnungen, doch die Möglichkeit eines Ehebruchs ist mehr als illusionär. Daraus entwickelt sich schließlich ein Weltschmerz, der nicht geheilt werden kann.

Und es gibt Tage, da verspüre ich ungeheuren Überdruss, und düstere Langeweile umhüllt mich wie ein Leichentuch überall, wo ich hingehe, seine Falten behindern und stören mich, das Leben lastet auf mir wie ein Gewissensbiss. So jung und aller Dinge so überdrüssig, während es andere gibt, die alt sind und noch voller Begeisterung! Und ich bin so tief gefallen, so enttäuscht – was tun?

Bereits in diesem autobiografischen Jugendwerk, in dem Flaubert ein frühes Liebesabenteuer verarbeitete, werden Grundmotive angerissen, die auch seine späteren Werke bestimmen: von der Verliebtheit eines jungen Mannes in eine ältere Frau bis zur Verachtung der bürgerlichen Gesellschaft.

Der Kurzroman nimmt nur knapp hundert Seiten der Hanser-Neuerscheinung ein, die durch Briefe des jungen Flaubert (1830–1852), eine Zeittafel zur Biografie und zahlreiche Anmerkungen ergänzt wird. Weiterhin durch das Nachwort Lehrjahre des Schreibens des Literaturwissenschaftlers Wolfgang Matz, der u. a. auf die literarischen Vorbilder hinweist: Shakespeare, Byron und Goethes Leiden des jungen Werthers.

Der Insel Verlag steuert mit der Erzählung Bibliomanie ebenfalls eine Beitrag zum Flaubert-Jubiläum bei. Flaubert war gerade einmal fünfzehn Jahre, als er 1836 mit dem Debüt für Aufsehen sorgte. Erzählt wird das Schicksal des dreißigjährigen Giacomo, der in einer düsteren Gasse Barcelonas als Buchhändler lebt. Dieser schweigsame Sonderling, ehemals ein Mönch, gibt all sein Geld für Bücher aus. Dabei kann der Büchernarr nicht einmal lesen. Er liebt das Papier, den Staub und den Geruch seiner bibliophilen Schätze.

Da wird eines Tages das älteste Buch Spaniens versteigert. Giacomo will alles verkaufen, um dieses Buch zu besitzen.

Nie hatte er so heftig begehrt. Oh! Wie hätte er da, selbst um den Preis all seines Besitzes, seiner Bücher, seiner Handschriften, seiner sechshundert Pistolen, seines Blutes, oh, wie hätt‘ er dieses Buch gewollt! Alles, alles verkaufen, um dieses Buch zu besitzen, bloß dieses Buch haben, aber er ganz allein; […] Und es das ganze Leben lang in seinen Händen halten, es betasten, wie er es jetzt berührt, es fühlen, wie er es fühlt, und es besitzen, wie er es anblickt!

Bei der Versteigerung erhält jedoch sein ärgster Feind Baptisto den Zuschlag. Ein paar Tage später bricht ein Feuer im Haus des neuen Besitzers aus; Giacomo eilt in das brennende Gebäude und rettet den wertvollen Buchschatz unter Lebensgefahr aus den Flammen. Doch nun wird er verdächtigt, den Brand bei seinem Kontrahenten gelegt zu haben. Er wird zum Tode verurteilt und lehnt eine Begnadigung ab. Es ist erstaunlich, welch tiefgründige psychologische Analyse des Bücherwahns dem jugendlichen Flaubert hier gelungen war. Das Inselbändchen ist mit Illustrationen von Burkhard Neie und einem Nachwort der Literaturwissenschaftlerin Barbara Vinken ausgestattet.

Flauberts Hauptwerk Madame Bovary (1857), das heute zur Weltliteratur gehört, darf zum Jubiläum natürlich nicht fehlen. Der Roman erschien sowohl im Reclam Verlag als auch in der neuen Penguin Edition. Erzählt wird die Geschichte der Ehebrecherin Emma Bovary. Die junge und schwärmerische Tochter eines reichen Bauern besucht ein katholisches Internat für ‚höhere Töchter‘. In jungen Jahren heiratet sie den verwitweten und biederen Landarzt Charles Bovary; doch bald empfindet sie die Ehe und das Landleben bedrückend und lähmend. Um ihre Mädchenträume dennoch zu verwirklichen, hintergeht die gelangweilte Arztgattin ihren zusehends verhassten Mann und stürzt sich in amouröse Abenteuer. Nach einer romantischen Tändelei mit dem jungen Jurastudent Léon Dupuis hat sie eine Affäre mit einem Gutsbesitzer aus der Nachbarschaft, der sich aber wieder rücksichtslos von ihr trennt. Emma ist verzweifelt und verfällt in Depressionen.

Während einer Theateraufführung in Rouen begegnet sie wieder Léon und sie treffen sich nun regelmäßig in einem Hotelzimmer. Doch Emma gerät in einen geradezu zwanghaften Kaufrausch und nimmt deshalb viele Kredite für Möbel und Kleidung auf. Die Kosten kann sie bald nicht mehr bestreiten. Immer tiefer rutscht sie in die Schuldenfalle. Und als sie sich nicht mehr zu helfen weiß, bringt sie sich um.

Wenn es irgendwo ein Wesen gab, stark und schön, eine machtvolle Natur, hochfliegend und zartsinnig zugleich, eine Dichterseele in der Gestalt eines Erzengels, eine Leier mit ehernen Saiten, hymnische Hochzeitsweisen emportönend zum Himmel – warum begegnete sie ihm nicht? Ach, unmöglich! Und es lohnte erst gar nicht das Suchen, es war doch alles nur Lug und Trug! Jedes Lächeln verbarg ein Gähnen der Langeweile, jede Freude einen Fluch, jeder Genuss den Ekel, und die heißesten Küsse machten die Lippen nur unstillbar durstig nach einer höheren Wollust.

In fast fünfjähriger Schwerstarbeit hatte Flaubert diesen Roman als Sprachkunstwerk geformt. Mit fast wissenschaftlicher Akribie analysierte er die seelische Entwicklung seiner Heldin von den jugendlichen Illusionen bis zur völligen Ernüchterung. Als Vorlage diente ihm wahrscheinlich das tragische Schicksal der Landarztgattin Delphine Delamare, die aus Langeweile die Ehe brach, Schulden machte und sich 1848 im Alter von 26 Jahren vergiftete. Das Ereignis hatte damals landesweit Aufsehen erregt. Seit Oktober 1856 erschien der erste Teil von Madame Bovary in Fortsetzungen im Feuilleton der Wochenzeitschrift Revue de Paris. Das rief die Staatsanwaltschaft auf den Plan, die Anklage gegen Flaubert erhob: mit seinen freizügigen Schilderungen würde der Ehebruchsroman gegen „die öffentliche Moral und die Religion“ verstoßen. Die drei Beschuldigten – Autor, Verleger und Drucker der Zeitschrift – wurden zwar freigesprochen, doch das Gericht sprach Flaubert eine „strenge Verwarnung“ aus. Als Madame Bovary im April 1857 in zwei Bänden erschien, wurde das Buch ein riesiger Erfolg. Die Neugier auf einen Roman, der als unmoralisch galt, spielte dabei sicher eine Rolle.

Heute ist es nicht mehr erotische Neugier, sondern das ungeschminkte Porträt einer jungen, lebenshungrigen Frau und die scharfsinnige Analyse einer von Männern dominierten Gesellschaft, die regelmäßig Neuausgaben zutage bringen. Inzwischen gibt es von Madame Bovary nicht weniger als 28 Übertragungen ins Deutsche. Während die Reclam-Ausgabe eine Übersetzung von Ilse Perker und Ernst Sander (1972) bietet, greift die Penguin-Ausgabe auf eine Übersetzung von Hans Reisiger aus dem Jahre 1952 zurück. In der Reclam-Ausgabe findet der Leser zudem ein Nachwort des Romanisten Manfred Hardt, der auf die neue Erzählhaltung des Autors hinweist, die er in Madame Bovary konsequent verwirklicht. Flaubert „mischt sich in keiner Weise in das Geschehen ein, kommentiert nicht, gibt keinerlei Erklärungen und vermeidet streng jede persönliche und subjektive Bemerkung.“ Dieser Romantyp mit seiner nüchternen Sachlichkeit wurde für viele nachfolgende Generation von Romanciers zwar nicht zum „absolut gültigen Modell, aber zum Maßstab“.

Die Penguin-Ausgabe dagegen wird durch Notizen zu Madame Bovary des Übersetzers Hans Reisiger und den Essay von Guy de Maupassant (1850–1893) Über Gustave Flaubert ergänzt, den dieser vier Jahre nach dem Tod seines Freundes veröffentlicht hatte. Der Aufsatz ist ein Beweis tiefer Freundschaft und Dankbarkeit, aber auch Zeugnis aufrichtiger Bewunderung für seinen Mentor und Meister, der ihn immer wieder zum Schreiben animierte. Außerdem teilten beide eine gemeinsame Auffassung von Literatur: das Zurücktreten des Autors hinter seinem Werk.

Gustave Flaubert ist in der Tat der feurigste Apostel der Unpersönlichkeit in der Kunst gewesen. Er duldete nicht, dass der Verfasser sich irgendwie zu erkennen gebe, dass er in einer Seite, einer Zeile, in einem einzigen Wort das Geringste von seiner eigenen Stimmung oder auch nur den Schein einer Absicht mit unterlaufen ließe. Er sollte ein Spiegel vor den Ereignissen sein, ein Spiegel, der sie getreu wiedergibt, sie zugleich aber in jenen unaussprechlichen Widerschein einhüllt, sie mit jenem beinahe göttlichen „Etwas“ schmückt, das die Kunst ist.

Gemeinsam mit einem Nachwort von Elisabeth Edl erschien der Maupassant-Essay jetzt auch in einer gesonderten Publikation des Alexander Verlages.

Bereits Ende 2020 (anlässlich des diesjährigen Jubiläums?) erschienen im Literatur- und Wissenschaftsverlag Göttingen einige Flaubert-Werke – neben den Romanen Madame Bovary, Die Versuchung des heiligen Antonius, Die Schule der Empfindsamkeit und Salambo, der frühen Erzählung November (1842, Erstdruck 1910) und dem Auswahlband Drei Geschichten (Ein schlichtes Herz / Die Legende von Sankt Julian dem Gastfreien / Herodias (alle 1877)) auch zwei Bände mit Reiseberichten. Trotz der selbstgewollten Isolation auf seinem Familiensitz Croisset bei Rouen unternahm Flaubert besonders zu Recherchezwecken immer wieder ausgedehnte Reisen. In Über Feld und Strand (1881) schilderte er eine Reise in die Bretagne, die er im Sommer 1847 mit seinem Freund, dem Schriftsteller Maxime Du Camp (1822–1894), zu Fuß unternahm. Flaubert wollte sich mit dieser Auszeit auch von der mütterlichen Bevormundung befreien.

Zwei Jahre später gingen die Gefährten Flaubert und Du Camp auf eine ausgedehnte Reise (Oktober 1849 bis Juni 1851) nach Ägypten, Palästina, Syrien und Griechenland. Maxime Du Camp war einer der größten Oriententhusiasten seiner Zeit; für ihn war die Reise eher eine photographische Mission mit 125 Salzpapieraufnahmen, die er nach ihrer Rückkehr in einem Bildband veröffentlichte. Flaubert hielt dagegen seine Reiseeindrücke in Briefen fest (vor allem an seine Mutter sowie den Schulfreund Louis Bouilhet (1821–1869)), die jetzt in der LIWI-Neuerscheinung Reisebilder: Briefe aus dem Orient vorliegen.

Dank der Neuerscheinung „Ich schreibe gerade eine kleine Albernheit“ – Ausgewählte Briefe 1832–1880 aus dem Dörlemann Verlag hat man auch die Gelegenheit, Flaubert als brillanten Briefeschreiber kennenzulernen. Den Band hat die Übersetzerin Cornelia Hasting zusammengestellt und die Briefe mit Anmerkungen, einer Zeittafel und einem Nachwort von Rainer Moritz versehen. Neben dem Briefwechsel mit der Mutter, Louise Colet, George Sand und befreundeten Autoren gibt die Auswahl auch einen Einblick in den Skandal um Madame Bovary und den Strafprozess vor einem Pariser Gericht.

Abschließend sei noch auf zwei Hörbücher aus dem Der Audio Verlag hingewiesen. Auf der Grundlage der Neuübersetzung (Elisabeth Edl) von Lehrjahre der Männlichkeit erschien eine Hörspielfassung von Leonhard Koppelmann, mit Senta Berger, Gudrun Landgrebe, Patrick Güldenberg, Jörg Hartmann u. v. a.. Flauberts letzter Roman Bouvard und Pécuchet liegt dagegen in einer gekürzten Lesung (Sprecher Richard Lauffen) nach einer Übersetzung von Ernst-Wilhelm Fischer (1922) vor. In dem unvollendeten Schelmenroman, den Flaubert selbst für den Höhepunkt seines Schaffens hielt, erzählt er von zwei selbstüberheblichen Bürokopisten, die sich dank einer Erbschaft aufs Land zurückgezogen haben, um sämtliche Wissenschaften zu durchforsten – von der Landwirtschaft über Gartenbau, Schnapsbrennerei, Chemie, Medizin, Geschichte, Archäologie und Literatur bis hin zur Theologie. Ausgerüstet mit einem ausgeprägten Sendungsbewusstsein stürzen sie sich jedes Mal auf ein neues Wissensgebiet, um am Ende zu scheitern und anschließend einer anderen Disziplin zu verfallen. Nach all den Desastern landen die beiden Dilettanten am Ende wieder an ihrem Büroschreibtisch, wo sie ihre stumpfsinnige Kopiertätigkeit verrichten müssen. Der Roman, an dem Flaubert fast zwanzig Jahre gearbeitet hat, ist eine Satire auf die Wissenschaftsgläubigkeit seiner Zeit.

Die zahlreichen Neuerscheinung zum 200. Geburtstag von Gustave Flaubert sind ein Beleg dafür, dass seine Werke heute immer noch faszinieren. Während das Interesse an seinen großen Zeitgenossen Stendhal, Honoré de Balzac, Victor Hugo oder Émile Zola eher schwächer zu werden scheint, erfreut sich Flaubert bei Lesern und Literaturwissenschaftlern immer noch (oder wieder) einer großen Beliebtheit. Vor allem mit Madame Bovary erarbeitete er eine neuartige realitätsnahe Erzählweise zur kritischen Darstellung der bürgerlichen Gesellschaft im 19. Jahrhundert und schlug damit eine Brücke zur klassischen Moderne des frühen 20. Jahrhunderts.

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Michel Winock: Flaubert.
Aus dem Französischen von Horst Brühmann und Petra Willim.
Carl Hanser Verlag, München 2021.
654 Seiten, 34,00 EUR.
ISBN-13: 9783446268449

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Gustave Flaubert: Memoiren eines Irren. Roman.
Mit einem Nachwort von Wolfgang Matz.
Herausgegeben und aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Edl.
Carl Hanser Verlag, München 2021.
239 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783446268456

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Gustave Flaubert: Lehrjahre der Männlichkeit. Geschichte einer Jugend.
Herausgegeben, mit einem Nachwort und aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Edl.
Carl Hanser Verlag, München 2020.
799 Seiten, 42,00 EUR.
ISBN-13: 9783446267695

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Gustave Flaubert: Bibliomanie.
Mit Illustrationen von Burkhard Neie und einem Nachwort von Barbara Vinken.
Aus dem Französischen von Erwin Rieger.
Insel Verlag, Berlin 2021.
64 Seiten, 8,00 EUR.
ISBN-13: 9783458205296

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Gustave Flaubert: Madame Bovary. Sittenbild aus der Provinz.
Mit einem Nachwort von Manfred Hardt.
Aus dem Französischen von Ilse Perker und Ernst Sander.
Reclam Verlag, Stuttgart 2021.
438 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-13: 9783150206454

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Gustave Flaubert: Madame Bovary. Roman.
Mit einem Nachwort von Guy de Maupassant.
Mit „Notizen zu Madame Bovary“ und aus dem Französischen übersetzt von Hans Reisiger.
Penguin Verlag, München 2021.
586 Seiten, 10,00 EUR.
ISBN-13: 9783328106722

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Guy de Maupassant: Über Gustave Flaubert.
Mit einem Nachwort von Elisabeth Edl.
Aus dem Französischen von Ernst Wilhelm Fischer.
Alexander Verlag, Berlin 2021.
132 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-13: 9783895815447

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Gustave Flaubert: Reisebilder. Briefe aus dem Orient.
Aus dem Französischen von Frederick Philip Grove.
LIWI Verlag, Göttingen 2020.
120 Seiten, 9,80 EUR.
ISBN-13: 9783965424029

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Gustave Flaubert: Bouvard und Pécuchet.
Sprecher Richard Lauffen.
Aus dem Französischen von Ernst-Wilhelm Fischer.
Der Audio Verlag, Berlin 2020.
1 CD, 10,00 EUR.
ISBN-13: 9783742415264

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Gustave Flaubert: »Ich schreibe gerade eine kleine Albernheit«. Ausgewählte Briefe 1832–1880.
Mit einem Nachwort von Rainer Moritz.
Zusammengestellt und aus dem Französischen von Cornelia Hasting.
Dörlemann Verlag, Zürich 2021.
330 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783038200956

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