Sterben und überleben in Leningrad

Im „Blockadebuch“ berichten Eingeschlossene von der Belagerung Leningrads während des Zweiten Weltkriegs

Von Daniel HenselerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Henseler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Etwa eine Million Menschen starben nach Schätzungen während der Belagerung Leningrads (1941–1944) durch deutsche und mit ihnen verbündete Truppen im Zweiten Weltkrieg. Als der liberale russische Fernsehsender „Doschd“ Anfang 2014 seine Zuschauerinnen und Zuschauer danach fragte, ob die Stadt damals hätte kapitulieren sollen, um Menschenleben zu retten, stach er in ein Wespennest. Patrioten und Heldenverehrer, darunter der Kulturminister, zeigten sich empört: Sie betrachteten bereits das bloße Formulieren dieser Frage als Beschmutzung des Andenkens an die Toten. Der Druck aus der Öffentlichkeit und von Seiten der Politik wuchs daraufhin stetig an, bis diverse Kabelbetreiber „Doschd“ unter fadenscheinigen Vorwänden aus ihrem Angebot strichen. Dies sollte keine einzelne Episode bleiben, wie ein aktuelles Beispiel zeigt: Vor wenigen Wochen kündigte der Filmemacher Alexei Krassowski an, eine Neujahrskomödie über das belagerte Leningrad drehen zu wollen. Postwendend folgten erneut erboste Reaktionen. Noch existiert der Film gar nicht, doch der Regisseur sieht sich bereits Drohungen ausgesetzt.

Die beiden Vorkommnisse werfen ein Licht auf ein Thema, welches das heutige Russland prägt wie nur wenige andere, nämlich die mitunter heftigen Debatten über das „richtige“ und „falsche“ Gedenken an die Vergangenheit des Landes. Die herrschende politische Elite will dabei die Erinnerungskultur ein für allemal von oben herab dekretieren. Der Zweite Weltkrieg ist dabei nur ein, aber wohl das prominenteste Beispiel. Und so lautet die offizielle Lesart: „Wir haben den Zweiten Weltkrieg gewonnen, wir haben Europa vom Faschismus befreit, und die Menschen in Leningrad haben heldenhaften Widerstand geleistet.“ Unangenehmen Fragen wird dabei aus dem Weg gegangen: War die Rote Armee ausreichend für die Verteidigung vorbereitet? Haben der Kreml und die Behörden Leningrads wirklich immer das Menschenmögliche getan, um die Bevölkerung zu schützen?

Vor diesem gereizten Hintergrund erscheint ein Projekt wie das erschütternde Blockadebuch von Daniil Granin und Ales Adamowitsch geradezu notwendig, denn es lässt Überlebende der Belagerung zu Wort kommen und gibt auf diese Weise ergreifende Einblicke in den Alltag jener Jahre. Die Autoren wollten gerade nicht das pathetische Bild vom heldenhaften Widerstand ins Zentrum rücken, sondern das ungeheure Leiden von Hundertausenden von Menschen zum Thema machen. Beide hatten selber im Krieg gedient: Granin als Freiwilliger an der Front und später in den Schützengräben bei Leningrad, Adamowitsch kämpfte als Partisan gegen die Wehrmacht in seiner weißrussischen Heimat.

Das Blockadebuch ist allerdings keine neue Publikation. In Ingo Schulzes Vorwort sowie in der Einleitung wird die Entstehungsgeschichte detailliert nachgezeichnet. Das Vorhaben ging auf eine Initiative Adamowitschs zurück. Mitte der 1970er Jahre haben Granin und Adamowitsch begonnen, Gespräche mit Überlebenden der Belagerung zu führen und diese auf Tonbändern aufzunehmen. Dabei konzentrierten sie sich bewusst auf die Intellektuellen. Sie wollten die Leidensfähigkeit der Menschen beschreiben, aber auch ihre Grenzen erkunden. Dabei waren sie bestrebt zu zeigen, worin „geistige Nahrung“ in solch katastrophaler Zeit bestehen kann. Die Autoren sammelten insgesamt um die 200 Berichte, die schließlich circa 4.000 Seiten Papier füllen sollten. Sie trafen anschließend eine Auswahl, redigierten und kommentierten das Material, wobei sie immer wieder direkt aus den Gesprächsprotokollen zitierten. Dieser Erste Teil des Buchs konnte 1977 in der Zeitschrift Nowy mir veröffentlicht werden, allerdings nicht ohne zensurbedingte Eingriffe und Kürzungen. 1984 erschien das Projekt zum ersten Mal in Buchform, worauf bald eine erste deutsche Übersetzung folgte. 2014 legte Adamowitschs Witwe Natalija eine neue Version des Blockadebuchs vor, die mit einigen zusätzlichen Materialien ergänzt wurde. Auf dieser Veröffentlichung basiert die hier anzukündigende deutsche Ausgabe.

Das Blockadebuch ist ein Dokument über die unfassbaren Qualen, welche die Menschen in Leningrad während der Belagerung vom September 1941 bis zum Januar 1944 erdulden mussten. Bisweilen ist die Lektüre fast nicht auszuhalten, kaum jemand wird den Text ohne Unterbrechung durchlesen können. Auf den ersten Blockadewinter war die Stadt nur wenig vorbereitet – innerhalb kurzer Zeit waren praktisch keine Lebensmittel mehr erhältlich. Der Erste Teil des Buchs ist nach Themen gegliedert. Hier wird etwa darüber berichtet, wie die Menschen dem Hunger und den Bombardierungen zum Trotz versuchten, ihren Alltag zu organisieren und ihrer Arbeit nachzugehen. So wird von einer Briefträgerin erzählt, die tagaus, tagein die Post austrug und in manchen Wohnungen nur noch Verhungerte antraf. Ein besonders eindrückliches Kapitel ist den Kindern Leningrads gewidmet. Man erfährt aber auch einiges darüber, wie die Menschen nach und nach gelernt haben, sich den Verhältnissen so gut wie möglich anzupassen. Die Wissenschaft arbeitete trotz schwierigster Bedingungen auf Hochtouren: So fanden Forscher heraus, dass man aus Kiefernadeln einen Sud herstellen kann, der zumindest ein paar Vitamine zu liefern vermag. Andererseits ist man als Leser aber auch fassungslos: Viele Ärzte wusste damals nicht einmal, dass man ausgehungerte Menschen ganz vorsichtig wieder an die Nahrungsaufnahme gewöhnen muss. In den Zeugnissen aus dem eingekreisten Leningrad ist auch von einem Museumsführer in der weltberühmten Eremitage die Rede, der den Besuchern die Bilder erklärte. Dabei waren die Gemälde längst evakuiert worden – an der Wand hingen längst bloß noch die Rahmen!

Der Zweite Teil des Buchs ist anders strukturiert: Er basiert auf den Tagebüchern, die drei im belagerten Leningrad Eingeschlossene hinterlassen haben: Georgi Knjasew – ein Historiker, der 15-jährige Jura Rjabinkin sowie eine Mutter, Lidia Ochapkina. Knjasew und Ochapkina haben die Blockade überlebt, während der Junge wohl verhungert ist – sein Tagebuch ist erst später auf Umwegen wieder aufgetaucht. Während im ersten Teil des Blockadebuchs viele individuelle Schicksale nur angedeutet werden konnten, dringt man als Leser im zweiten Teil nun viel tiefer in die Biografie der drei ausgewählten Menschen ein. Man bekommt die Veränderungen der Außenwelt und des Innenlebens unmittelbar mit. Man erlebt mit, wie die drei von Hunger geplagt werden, wie sich kleine Zeichen der Hoffnung ankündigen und wieder verschwinden, wie sie Pläne und Projekte schmieden – auch für die Zeit nach dem Krieg – und diese dann doch wieder begraben müssen. Alle sind sie ganz absorbiert von der Sorge um Angehörige, von den monströsen Herausforderungen wie auch den scheinbar nichtigen Problemen des Alltags.

Auch wenn das Blockadebuch sich von der üblichen sowjetischen Hagiografie über die Belagerung unverkennbar unterscheidet, so ist es doch auch selbst wiederum ein Zeugnis der eigenen Entstehungszeit. Die Autoren sind in vielerlei Hinsicht durch ihre Epoche geprägt und durch manche Umstände eingeschränkt. So werden im Blockadebuch heikle und potenziell problematische, weil „politische“ Themen zwar allenfalls aufgenommen, aber doch nur recht knapp und mit großer Vorsicht abgehandelt. Dass viele Menschen im eingekreisten Leningrad Trost im Glauben gefunden haben, wird lediglich ein paar Mal und eher beiläufig angedeutet. Zwei Kapitel über Hungerkannibalismus – beziehungsweise über eine Säuberungswelle in der städtischen Parteiorganisation – haben die Autoren erst später hinzugefügt. Das Buch wird von einem ergänzenden Text Granins mit dem Titel Rumkuchen beschlossen: Es handelt davon, dass die Stadtoberen stets genügend zu essen hatten, während das Volk verhungerte. Auch dieses Kapitel findet sich erst in der neuesten Ausgabe. Diese Bemerkungen mindern den Wert dieses eminent wichtigen Buchs keineswegs. Es ist jedoch wesentlich, dass man das Blockadebuch im Kontext seiner Entstehungszeit liest. Im Übrigen lohnt es sich, ergänzend eine geschichtswissenschaftliche Darstellung der Blockade Leningrads hinzuzuziehen, wie sie etwa Anna Reid vorgelegt hat: Blokada. Die Belagerung von Leningrad 1941–1944. Hier wird auch auf die bisweilen unrühmliche Rolle der städtischen Behörden deutlich näher eingegangen.

Das Blockadebuch erzählt davon, wie die Einwohner Leningrads während der 872 Tage dauernden Belagerung versuchten, zu überleben. Es ist ein Zeugnis schier unendlichen Leidens. Es zeigt aber auch den unermesslichen Lebenswillen auf, den die Menschen immer wieder an den Tag zu legen vermochten. Bei der Lektüre lässt einen überdies ein beängstigender Gedanke nicht los: Eine Belagerung einer europäischen Stadt erscheint einem zwar gegenwärtig als unwahrscheinlich, aber was geschähe beispielsweise, wenn ein Blackout – etwa als Folge eines Hackerangriffs – das Stromnetz großflächig und über mehrere Tage hinweg lahmlegen würde? Es muss dabei ja nicht gleich zu einer Hungerkatastrophe kommen. Gleichwohl darf man aber hoffen, dass die Behörden und der Zivilschutz wissen, was in diesem Fall zu tun wäre. Ja, gerade auch für sie kann das Blockadebuch eine wertvolle Lektüre darstellen. Sie würden darin manches über das Verhalten von Menschen in einer Extremsituation, aber auch ihre Lernfähigkeit erfahren.

Titelbild

Ales Adamowitsch / Daniil Granin: Blockadebuch. Leningrad 1941-1944.
Mit einem Vorwort von Ingo Schulze.
Aus dem Russischen von Ruprecht Willnow und Helmut Ettinger.
Aufbau Verlag, Berlin 2018.
703 Seiten, 36,00 EUR.
ISBN-13: 9783351037352

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