Ein Klassiker der Nachkriegsliteratur

Das Jahrbuch für die Literatur der fünfziger Jahre, treibhaus, würdigt Wolfdietrich Schnurre zum 100. Geburtstag, herausgegeben von Günter Häntzschel, Sven Hanuschek und Ulrike Leuschner

Von Günter RinkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Günter Rinke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Anzuzeigen ist ein Band, der allein schon deswegen ein Lob verdient, weil es ihn gibt. Wolfdietrich Schnurre war einer der großen deutschen Nachkriegsschriftsteller, in eine Reihe zu stellen mit Heinrich Böll, Günter Grass, Alfred Andersch, Siegfried Lenz und anderen, der aber nie den ganz großen Erfolg hatte. Die Gründe dafür sind vielfältig und wurden schon zu Lebzeiten Schnurres erörtert. Umso mehr besteht heute die Gefahr, dass dieser Autor in Vergessenheit gerät, obwohl von ihm immer noch Texte in Deutsch-Lesebüchern zu finden sind.

Das von Günter Häntzschel, Sven Hanuschek und Ulrike Leuschner herausgegebene Buch über Schnurre kann zwei Aufgaben erfüllen: Zum einen kann es diejenigen Leser/innen mit Wolfdietrich Schnurre bekannt machen, die von ihm noch nichts wissen oder kaum mehr als den Namen kennen. Zum anderen enthält er neueste Beiträge zur Schnurre-Forschung in Form von sieben Fachaufsätzen und trägt damit dazu bei, dass diese, bislang überschaubare Forschung nicht zum Erliegen kommt. Darüber hinaus bereichert es die Philologie mit zahlreichen, verstreut in Zeitschriften erschienenen oder unpubliziert im Archiv lagernden Erstfassungen (oder Zweitfassungen) bereits bekannter Texte. Sie fordern zum Textvergleich heraus und werfen ein Licht auf Schnurres Arbeitsweise: Häufig veröffentlichte er Texte mehrfach, teils unverändert, teils wenig bis stark verändert bis hin zu ganz neuen Formulierungen, Selbstaussagen und Bewertungen.

Ungefähr ein Drittel des Bandes umfasst eine Auswahl aus Schnurres Werk: frühe Prosa, darunter Erzählungen, Fabeln, Parabeln, Autobiographisches, Poetologisches, dialogische Kinderszenen, ein Briefwechsel mit Hans Werner Richter von 1977 zur Abschiedstagung der Gruppe 47, zwei Filmexposés (zu Filmen, die leider nicht realisiert wurden), Vorarbeiten zu einem Buch Maler-Impressionen und ein Brief an eine Frankfurter Schulklasse. Der zeigt, wie ernst Schnurre die Schüler nahm, die sich mit einer seiner Geschichten beschäftigt hatten. Zur Einordnung der Texte dienen hilfreiche, kursiv gesetzte Zwischentexte der Herausgeber.

Illustriert ist dieser Teil mit zahlreichen Fotos, die den Schriftsteller in verschiedenen Phasen seines Lebens zeigen. Auf einem der Bilder ist der für Schnurre und sein Werk außerordentlich wichtige Vater Otto Schnurre zu sehen. Er ist in dem Buch Als Vaters Bart noch rot war, dem bekanntesten Text des Sohnes, zur literarischen Figur geworden. Durch ihn, den alleinerziehenden Vater, der Bibliothekar und Ornithologe war, wurde der Sohn schon als Kind mit der Natur vertraut gemacht und zum Lesen animiert. Auf einem anderen Foto sieht man, wie Schnurre und sein Pudel einander anlächeln. Der darunter stehende feuilletonistische Text Notizen eines Pudelnarren kann als Vorarbeit zu dem satirischen fiktiven Tagebuch Aufzeichnungen des Pudels Ali angesehen werden. Das vom Autor selbst illustrierte Buch hatte in den fünfziger und sechziger Jahren einigen Erfolg.

Beispielhaft für Schnurres Schaffen als Illustrator werden zwei karikaturartige Zeichnungen wiedergegeben. Der Schriftsteller hatte eine Doppelbegabung. Bis zu seinem Tod gehörte er der Gruppe der Berliner Malerpoeten an. Zudem interessierte er sich, auch beruflich, für das Medium Film, war er doch einige Jahre lang als Filmkritiker tätig und schrieb später zahlreiche Fernsehspiele. Eine besondere Trouvaille, die seine Kenntnis dieses Mediums beweist, ist das Exposé zu einem Fernsehfilm mit dem Titel Sonntag in Berlin. Es enthält viele konkrete Bildvorstellungen vom Leben und Treiben der Menschen in der geteilten Stadt und erinnert damit an Filmklassiker der Weimarer Republik wie Robert Siodmaks Menschen am Sonntag von 1929 und Walter Ruttmanns Berlin – die Sinfonie der Großstadt von 1927. Durch diese Bilder und durch eine humorvolle Geschichte verbindet Schnurre das versehrte Berlin der Gegenwart mit der Kulturmetropole der 1920er Jahre: Zwei Freunde geraten nach reichlichem Biergenuss beim Angeln auf der Havel in den Ostsektor, werden erwischt, aber der wachhabende DDR-Offizier erweist sich als der alte Freund Gustav aus Vorkriegszeiten. Man tauscht Erinnerungen aus, trinkt noch ein Bier zusammen, und die beiden werden unauffällig zurückgeschleust. Das Beispiel, das Züge von einem modernen Märchen hat, zeigt Schnurres „Humor mit einem weinenden Auge“, der viele seiner besten Kurzgeschichten und Prosaskizzen trägt.

Als Mensch vorgestellt wird Schnurre im zweiten Teil des Bandes mit Texten von Zeitzeugen. Kenner von Schnurres Leben und Werk dürften hier die Widersprüche und Brüche vermissen, ohne die wohl kein Leben verläuft, die aber bei diesem Autor besonders auffallen: Oft lästerte er über die Vielschreiber, die Romane in Serie auf den Markt bringen. Er verfasste aber einen Text wie Beim Schreiben eines Romans gleich zweimal (eine Version davon findet man im vorliegenden Band) und lieferte in seinem letzten Lebensjahrzehnt schließlich den großen Roman Ein Unglücksfall ab, den die Literaturkritik zu Unrecht wenig schätzte. Seinen Vater pries er meist in hohen Tönen und widmete ihm liebevolle literarische Porträts, jedoch sagte er in einem kurz vor seinem Tod geführten Interview, er habe seinen Vater wegen dessen ständig wechselnder Frauenbeziehungen immer gehasst. In seinem Erfolgsbuch, dem Aufzeichnungsband Der Schattenfotograf von 1978 beschwor er oft die Liebe zu seiner Frau und dem Adoptivsohn, aber er verließ beide mit einer um Jahrzehnte jüngeren Studentin und zog mit ihr nach Schleswig-Holstein, wo er seinen Lebensabend verbrachte.

Mögen diese Dinge vor allem für zukünftige Biographen interessant sein, so ist Schnurres Auseinandersetzung mit seiner Vergangenheit vor 1945 auch für die Wissenschaft relevant. Dem Thema widmet sich Jan-Pieter Barbian, ausgewiesener Fachmann durch seine Studie Literaturpolitik im „Dritten Reich“, im ersten Aufsatz des Bandes. Er zeigt überzeugend auf, dass auch Schnurre, der seine Schuld durch die Beteiligung an Hitlers Krieg zu seinem Lebensthema erklärte, in seinen Äußerungen zu seinem Verhalten vor 1945 nicht widerspruchsfrei war. Beispiele sind unterschiedliche Aussagen zu seinem Eintritt in die Wehrmacht: Hat er sich freiwillig gemeldet oder ist er gegen den eigenen Willen eingezogen worden? Die zweite Version liest man in der im vorliegenden Band abgedruckten Fassung des bekenntnishaften und programmatischen Essays Der Auszug aus dem Elfenbeinturm. Ein eher schwacher Beleg für Schnurres mögliche „politische Konformität“ im NS-Staat ist die Tatsache, dass der angehende Schriftsteller sich um einen „Befreiungsschein“ der Reichsschrifttumskammer bemühte. Auch scheint die These, Schnurre habe sich, wie andere bekannte Autoren der Nachkriegszeit, eine „Art Wunschbiographie“ erschrieben, durch die Quellen in dieser Zuspitzung nicht abgedeckt.

Unumstritten ist Schnurres konsequent antimilitaristische und jegliche Gewalt ablehnende Haltung, die er nach 1945 in zahlreichen Prosatexten und Gedichten zum Ausdruck brachte. Diesen Aspekt untersuchen Manuel Förderer in seinem Aufsatz zum „Motivkomplex von Natur und Gewalt“ und Cornelia Staudacher in ihrem Beitrag über die „literarische Verarbeitung der Kriegserfahrungen in den Kassiber-Gedichten“. Förderer analysiert am Beispiel dreier Erzählungen, wie bei Schnurre Natur als „Evokationsraum von Gewalterfahrungen“ und als Aufgabe erscheint, Gewalt zu überwinden. Der traumatisierte Soldat sucht beim Überblicken einer weiten Landschaft plötzlich unwillkürlich nach Deckung. Im zweiten Fall wird „Natur zur Antithese kriegerischer Gewalt stilisiert“.

Förderers Überlegungen sind aufschlussreich und stringent. Zu fragen ist allerdings, ob die Natur bei Schnurre wirklich ausschließlich als „Reflexionsraum des Humanen“ erscheint oder ob er sie nicht auch als eigenständige Größe, als gewissermaßen gleichberechtigte Mitspielerin, die Respekt verdient, zu ihrem Recht kommen lässt. Dies gilt auch für viele Gedichte, die Schnurre unter dem Titel Kassiber versammelt hat. Zu Recht attestiert ihnen Cornelia Staudacher „einen detail- und naturgetreuen Realismus“, der eine oft fast hermetisch wirkende Verschlüsselung nicht ausschließt. Ebenso zutreffend konstatiert sie eine Grundhaltung des Zweifels und der Ratlosigkeit, vor allem wenn Erfahrungen aus der Vergangenheit lyrisch verarbeitet werden. Ein weiterer Beitrag von Manuel Förderer illustriert die Arbeit des Lyrikers Schnurre am Beispiel zweier Gedichte aus dem Nachlass.

Grundlegende Einsichten gewinnt Ines Heiser in ihrem Beitrag über Kindheitsbilder bei Wolfdietrich Schnurre. Muss Kinderliteratur an die Lesebedürfnisse und -fähigkeiten von Kindern angepasst sein und womöglich pädagogische Botschaften vermitteln? Schnurre verneinte diese Frage zunächst, modifizierte seine Haltung jedoch, nachdem er einige Erfahrungen mit dem Schreiben von Kinderbüchern gewonnen hatte. Seine Forderungen nach Realismus und Wahrhaftigkeit weisen ihn nach Heisers Auffassung „als typischen Vertreter der in den ausgehenden 1960er Jahren entstehenden emanzipatorischen Kinder- und Jugendliteratur“ aus.

Jonas Nesselhauf beschäftigt sich mit dem Medienpraktiker Schnurre, indem er verschiedene Fassungen der Erzählung Ein Fall für Herrn Schmidt sowie die Hörspiel- und die Fernsehfassung dieses Stoffes untersucht. Anders als Manfred Durzak, der in einem Aufsatz von 1989 die beiden Adaptionen gegenüber der Zweitfassung der Kurzgeschichte stark abwertet, betont Nesselhauf die Verschiedenheiten der „inhaltlichen Schwerpunktsetzung“ und begründet sie medienspezifisch. Dabei kann er Stärken der auditiven und audiovisuellen Fassungen aufzeigen und entkräftet auch Schnurres eigene selbstkritische Äußerungen zum Fernsehspiel. Allzu forsch tut er allerdings Durzaks vor allem poetologisch begründete Einwände als „wenig hilfreich“ ab.

Im abschließenden Beitrag vergleicht Friederike Schneider Stellungnahmen Schnurres, Uwe Johnsons und Heiner Müllers zum Bau der Berliner Mauer. Dies war der einzige Anlass, aus dem sich Schnurre öffentlich und direkt politisch positionierte. Er und Günter Grass verlangten von den DDR-Schriftstellern, dass sie es auch tun sollten, ein Anspruch, den Schneider kritisiert, weil er aus der ungefährdeten westdeutschen Position vorgetragen wurde. Zu bevorzugen scheint sie Uwe Johnsons aus der inneren Kenntnis beider Systeme erwachsene abwägende Haltung. Bedenklich wird es, wenn sie auch Heiner Müllers Lavieren tendenziell für legitim erklärt. Dessen Aussage, die Stasi habe zum Alltag gehört, man habe das nicht so ernst genommen, darf nicht unwidersprochen bleiben. Jüngst zählte Ines Geipel, eine direkt Betroffene, noch einmal auf, in welchen Formen mindestens drei Millionen Menschen von der zur Diktatur des Proletariats verklärten Diktatur der Einheitspartei-Funktionäre in verschiedensten Formen malträtiert oder ums Leben gebracht wurden. Auch wenn Schnurre selbst sich zehn Jahre später Johnsons Position annäherte, blieb er zumindest in dem Punkt, ein Schriftsteller dürfe sich keiner Parteidisziplin unterwerfen, sonst sei er keiner mehr, unbeugsam.

Fazit: ein vielschichtiges, begrüßenswertes Buch, das hoffentlich dazu beiträgt, dass Wolfdietrich Schnurre wieder mehr gelesen wird.

Titelbild

Günter Häntzschel / Sven Hanuschek / Ulrike Leuschner (Hg.): Wolfdietrich Schnurre. treibhaus 16.
edition text + kritik im Richard Boorberg Verlag, München 2020.
309 Seiten , 32,00 EUR.
ISBN-13: 9783967074055

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