Zukunftswissen kompakt

Klaus Herbers wirft einige Schlaglichter auf Formen und Bedeutung der Prognostik im Mittelalter

Von Robin KuhnRSS-Newsfeed neuer Artikel von Robin Kuhn

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kann man in geeigneter Weise ein Werk besprechen, das doch im Grunde (noch) unvollständig ist? Dies ist – vor allem Fachlichen ­– die erste Frage, die sich nach der Lektüre von Klaus Herbers’ Studie Prognostik und Zukunft im Mittelalter. Praktiken – Kämpfe – Diskussionen auf- und in den Schreibprozess hineindrängt. Nachfolgend sei es dennoch versucht. Prognostik, das heißt im Wesentlichen: Zukunftsdeutung, doch wäre es zu kurz gehalten, den Begriff in diesem starren Rahmen zu belassen, denn er bedeutet „nicht notwendigerweise nur das Wissen über Zukunft, sondern kann Aussagen zu Gegenwart und Vergangenheit ebenso einschließen“. Ein in der gesamten Menschheitsgeschichte durchgängig lebendiges Thema also, das in der Form von „Prophetie, Utopie, Weltzeitalter und Apokalyptik“, aber auch praktischen Verfahren wie der Deutung der Sterne stets breit und kontrovers diskutiert wurde und sich in einigen Ausläufern bis in die Gegenwart hineinzieht.

Nun befindet sich Herbers in der schwierigen Position, ebendiese umfassende Disziplin aus mediävistischer Perspektive in komprimierter Form aufbereiten zu wollen. Dass dies auch nur annährend erschöpfend auf weniger als 25 Seiten Fließtext kaum möglich sein kann, versteht sich geradezu von selbst. Die Situation mag der Tatsache geschuldet sein, dass es sich bei dem Text nur um einen erweiterten Vortrag Herbers’ handelt, doch ist es natürlich immer schade, wenn eine derart spannende, komplexe Thematik auf ihre Grundzüge heruntergebrochen werden muss.

Entscheidend ist aber nun, wie der Autor mit dieser Lage umgeht. So führt er gleich zu Beginn an, dass der von ihm vorgelegte Beitrag von zwei noch erscheinenden Studien seinerseits ergänzt werden solle: End of Times: Christian perspectives on History, eschatology and transcendence in the Latin Middle Ages sowie der offenbar korrespondierenden deutschsprachigen Fassung Geschichtsverlauf, Eschatologie und Transzendenz in der lateinischen Christenheit des Mittelalters. Nach einer kurzen Einleitung streift er zunächst die „Perspektiven und Forschungen“ der Prognostik im Mittelalter und stellt ihre religiösen Ursprünge heraus, wobei er auf den nicht zu unterschätzenden Einfluss der arabisch-muslimischen, jüdischen und griechisch-byzantinischen Traditionen sowie auf die Diversität der Quellen hinweist. Damit ist das zweite von insgesamt fünf Kapiteln auch schon beendet. Ist das in dieser Form praktikabel? Durchaus, denn der Autor ist sich der Problematik seiner Verkürzungen sichtbar bewusst und verweist hier auf das reichhaltige Literaturverzeichnis, das neben der zitierten Literatur auch noch weiterführende Monografien und Sammelbände zur Thematik anbietet und in seinem Umfang von beachtlichen 36 Seiten sogar den eigentlichen Text übersteigt.

Der Abschnitt „Praktiken und normative Texte“ tut sich zunächst ein wenig schwer, den praktischen Aspekt der Prognostik herauszuarbeiten. Interessant sind dann vor allem die konkreten Beispiele, die Herbers heranzieht. Diese bestehen aus so unterschiedlichen Texten wie dem Sendhandbuch des Regino von Prüm (906) sowie den Responsa, besonderen Antwortbriefen von Päpsten auf konkrete rechtliche Fragen. Überhaupt handelt es sich stets um Rechtstexte, die sich kollektiv gegen die Prognostik stellen und deren „Sitz im Leben“ schwer anzuzweifeln ist, wobei das prognostische Wie leider etwas spärlich ausgeführt wird. Hier wird aber tatsächlich, wenn auch nur in Ansätzen, verdeutlicht, wie stark der Themenkomplex Prognostik zumindest in den zeitgenössischen Diskursen präsent war, gestützt durch wichtige Quellenarbeit und -kritik.

Mit „Wissenschaft und Prognostik: Toledo und die Astrologie“ beschließt Herbers seine Kurzübersicht über das Mittelalter, indem er chronologisch von den vorherigen frühmittelalterlichen Quellen zum Hochmittelalter sowie Ansätzen des Spätmittelalters überleitet und hierfür die Stadt Toledo als Ausgangspunkt wählt. Toledo, zu dieser Zeit gleichermaßen berühmt wie berüchtigt als das „Zentrum der geheimen Wissenschaften“, der schwarzen Kunst und auch der Astrologie, bietet hier einige lohnenswerte Anknüpfungspunkte. Etwa für den apokalyptischen Toledobrief, dessen beeindruckende Rezeption über mehrere Jahrhunderte die aufgestellten Thesen Herbers’ nur bekräftigen kann. Weitere spannende Beispiele aus dem Dialogus miraculorum (1223/1224) des Caesarius von Heisterbach und den astrologischen Vorhersagen am Hof Friedrichs II. ergänzen die Untersuchungen und führen das Gesamtwerk zu einem schlüssigen Ende.

Der anhängende Ausblick kann schließlich wenig mehr tun, als knapp auf die zukünftige Forschung hinzuweisen. Die hier wie auch sonst immer wieder hervorgehobene „eminent wichtige Rolle“ der Prognostik in der mittelalterlichen Lebenswirklichkeit wird trotz der anschaulichen Beispiele indes zu wenig entfaltet; die Fokussierung auf Texte, die sich gegen die Prognostik wenden, aber vergleichsweise verhalten über die eigentlichen Prozesse und deren gesellschaftlichen Stellenwert berichten, schränkt die Betrachtungen immer wieder ein. Mehr als einzelne markante Aufflackerungen des Phänomens lassen sich somit kaum beleuchten. Das ausgesprochen kurzweilige Bändchen vermittelt daher zwar nicht unbedingt die Fülle an Informationen, die man bei einer solchen Veröffentlichung zunächst erwarten würde, als Einstieg und Handreichung für weiterführende Forschungen eignet es sich jedoch in jedem Fall. Dabei mag man auch Herbers’ vorsichtige Abwägung, dass die Prognostik „bisher kein dominantes Arbeitsfeld in der Mittelalterforschung“ gewesen sei, doch zumindest in ihren Ansätzen relativieren. Nicht zuletzt, weil der Autor direkt selbst einen kleinen Gegenbeweis liefert und einen Einblick in das ebenso umfangreiche wie vielschichtige Erlanger Internationale Kolleg für Geisteswissenschaftliche Forschung (IKGF) Schicksal, Freiheit und Prognose. Bewältigungsstrategien in Ostasien und Europa bietet, das sich mit diesem Themenfeld bereits seit über zehn Jahren in der gebotenen Ausführlichkeit beschäftigt.

Geht man zum Ende nun zu der einleitenden Frage zurück, die sich noch nach Sinn und Form der entstehenden Rezension erkundigte, so lässt sich dieses Kapitel jetzt beruhigt schließen und die passende nächste Zukunftsfrage eröffnen: Wird die Studie mit der künftigen Veröffentlichung der ihr zur Seite gestellten Teile schlussendlich ihr volles Potenzial entfalten? Die ebenso scharfsinnige wie glasklare Antwort eines neuzeitlichen Wahrsagers: fortasse.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Klaus Herbers: Prognostik und Zukunft im Mittelalter. Praktiken – Kämpfe – Diskussionen.
Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz, Mainz 2019.
66 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-13: 9783515124164

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