Ein Mann kommt nach Deutschland

Harald Martensteins Romandebüt "Heimweg" erzählt die Familie als Ort der Erinnerung

Von Jochen StrobelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jochen Strobel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Harald Mertensteins Roman "Heimkehr" handelt von dem Spätheimkehrer Joseph, der sich nach langjähriger russischer Kriegsgefangenschaft im Leben der 50er-Jahre in Westdeutschland nicht mehr zurechtfindet. Seine Frau liebt ihn nicht mehr und zudem muss er damit fertig werden, dass er Menschenleben auf dem Gewissen hat. Das alles erinnert zunächst an Wolfgang Borcherts "Draußen vor der Tür" und andere Texte der Nachkriegsliteratur, die die Psyche des entwurzelten, desorientierten Wehrmachtssoldaten zum Thema machten. Gleichsam die Innensicht des Täters also.

Der Erzähler, auf wundersame Weise ein Enkel des Protagonisten, ist allwissend, er weiß aber auch genau, was in seinem Großvater vorging. Er erzählt die schrecklichsten Dinge, den verbotenen Mord in der Familie und den befohlenen Mord im Krieg, als seien es harmlose Ereignisse der Familiengeschichte. Der Roman bezeichnet zugleich den langsamen Übergang von einer noch martialischen Kriegsheimkehrer-Rhetorik zu einer Delegitimierung systemkonformen Verhaltens: die erfolgreich verdrängten Untaten des Großvaters kehren erst in der Erzählung des Enkels wieder - als Offizier im Zweiten Weltkrieg hatte er nicht nur nach dem berüchtigten Kommissarbefehl einen sowjetischen Funktionär exekutiert, sondern dazu auch noch einen unschuldigen vierzehnjährigen Jungen.

Die Kriegs- und Nachkriegsgeschichte des Großvaters wird so eingebettet in eine Genealogie, die immer wieder Outlaws, Sonderlinge, Verrückte, auch: Mörder und Selbstmörder, kannte, vom legendären Räuber Heigl bis zu besagtem Erzähler, der weder Mensch noch Tier (und jedenfalls kein gnomenhafter Blechtrommler) zu sein scheint, eine nicht greifbare Instanz, die in der Welt der Familiengeschichte und gleichzeitig darüber steht. Er ist vielleicht nur ein Kobold im Kopf der Großeltern selbst, eine Ausgeburt ihres schlechten Gewissens, ein winziges Gegengewicht zu Vergessen, Verlierermentalität und Ressentiment, ein nur als Erinnerndes und Erzählendes existentes, sonst unbestimmtes Wesen, von dem wir beinahe nur wissen, dass es aus der Sicht des 21. Jahrhunderts erzählt.

Ähnlich wie es in den vergangenen Jahren häufiger im Medium des familienbiografischen Sachbuchs als in dem des Romans darum ging, Kriegs- und Nachkriegsgeschichte aus der Familienperspektive zu erzählen und auch zu erklären, will dieser Erzähler ebenso wissen, wie es wirklich gewesen ist - unterhalb der Ebene der Politikgeschichte, aber auch jenseits einer kollektiven Alltagsgeschichte aus Elvis, Freddy und den frühen Fernsehstars, die eben höchstens als Wahnfiguren der Großmutter Katharina den Roman mitbevölkern dürfen. Ins Ungefähre rückt die erzählte Geschichte aufgrund der Unzuverlässigkeit der Handelnden wie des Erzählers: Woher nimmt er sein Wissen? Was haben Großvater und Großmutter tatsächlich erlebt, zumal in die Familie der Großmutter immer wieder die Wahnwelt der Schizophrenie eingebrochen war? Während die Großmutter an der realen Anwesenheit ihrer tatsächlich doch halluzinierten Gäste aus ihrer Genealogie wie aus den Unterhaltungsprogrammen der 50er-Jahre nicht zweifelt, misstraut der Leser seinem Wahrnehmungsapparat zunehmend: Welche von den Figuren, die vor seinem geistigen Auge auftreten, ist echt, welche ist nur Hirngespinst? Martenstein seziert auf diese Weise fast beiläufig die Traumfabrik der populären Kultur von damals, deren Helden Freddy Quinn oder Bert Kaempfert heißen.

Ein Familienroman ist das Buch, da die Nachgeborenen, die Großeltern des Erzählers und dieser selbst, sich an langfristig wirksamen mentalen Strukturen orientieren und da den Erzähler diese Geschichten eben nur deshalb interessieren, weil es um seine Großeltern geht. Das Exzentrische und Revoluzzerhafte, der Unwille, sich in die bürgerliche Gesellschaft einzupassen, gehört schon seit dem Urahn, dem Räuber Heigl, zu dieser Familie, doch auch die Fähigkeit zum Weiterleben in aussichtsloser Lage ist Familientradition - nach dem Zweiten Weltkrieg ist das wieder einmal die Parole schlechthin. 1945 ist in diesem Roman eine 'Wendezäsur' nicht im Sinn einer objektiven Gegebenheit, sondern einer subjektiven, sich im Erzählen und Erinnern, vielleicht auch im Fingieren erst konstituierenden Grenze. 'Familie' ist ein Ort des Weitertragens von Erinnerung als Geschichten, die Übergänge zwischen 'wahr' und 'gesponnen' sind fließend. Martensteins sehr lesenswerter und geschickt komponierter Roman fokussiert weniger die erzählten Ereignisse als vielmehr die Frage nach der Wahrheit und nach der Legitimation des Erzählens selbst, er ist also ein Nachkriegsroman auf zweiter Stufe, der die Wege erkundet, die eigene Geschichte, eingebettet in die seiner Familie, zu verdrängen und wahlweise neu zu erfinden.

Es kommt noch etwas hinzu. Harald Martenstein ist Redakteur beim Berliner "Tagesspiegel", gleichzeitig seit Jahren bekannt als "Lebenszeichen"-Kolumnist der "Zeit". Den schnoddrigen, lakonischen, nicht selten auch beißend sarkastischen Ton seiner oft genialen Kolumnen kann der Ich-Erzähler seines Romandebüts nicht immer vermeiden. Der Erzähler des Romans und das Ich der Kolumnen sind zweifellos zwei Kunstfiguren, deren Gemeinsamkeit darin besteht, dass sich unter dem Deckmantel der Naivität Moralisten verbergen, denen daran liegt, dass Erinnern mehr sei als eine Pflichtübung.


Titelbild

Harald Martenstein: Heimweg. Roman.
C. Bertelsmann Verlag, Gütersloh 2007.
224 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783570009536

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch