Denker ohne Weltvertrauen
Vor dreißig Jahren starb Jean Améry
Von Ursula Homann
Eigentlich hatte man ihn zur Frankfurter Buchmesse erwartet, den Schriftsteller und Essayisten Jean Améry. Doch dann kam die Nachricht aus Salzburg: Améry, einer der bedeutendsten deutschsprachigen Publizisten nach 1945, habe sich dort in einem Hotel während einer Lesereise das Leben genommen, am 17.Oktober 1978 - vor nunmehr dreißig Jahren. In einem Brief hatte er sich noch bei der Hotelleitung entschuldigt - wegen eventueller Ärgerlichkeiten - und den Polizeibehörden erklärt, dass er freiwillig, im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte, in den Tod gehe. In einem seiner drei Abschiedsbriefe bekannte er: "Ich bin auf dem Weg ins Freie. Es ist nicht leicht, aber dennoch eine Erlösung." Auf seinem mit Efeu überwachsenen Grabstein auf dem Wiener Zentralfriedhof findet man neben dem Namen und den Geburts- und Sterbedaten auch Amérys Auschwitznummer 172 364 vermerkt. Das am linken Unterarm eingeritzte Brandmal, schrieb er einst, lese sich kürzer als der Pentateuch oder der Talmud und gebe zudem gründlicher als diese Auskunft über eine jüdische Existenz.
Geboren wurde Jean Améry als Hans Mayer am 31. Oktober 1912 in Wien. Sein jüdischer Name ist Chaim. Das Pseudonym Améry legte er sich erst 1955 zu. Er war der Sohn jüdischer Eltern und wurde katholisch erzogen. Zur Schule ging er in Bad Ischl, wohin die Mutter nach dem Tode des Vaters im Ersten Weltkrieg gezogen war und bei mäßigem Erfolg eine Pension mit Gastwirtschaft betrieb. Nach der Schulzeit absolvierte der Sohn eine Buchhandelslehre in Wien, studierte Philosophie bei Moritz Schlick, unternahm erste schriftstellerische Versuche und lebte in der österreichischen Hauptstadt als intellektueller Agnostiker und Bohemien. Nach dem "Anschluss" Österreichs an das "Dritte Reich" 1938 entkam Améry nach Belgien und Frankreich - und wurde hier als Deutscher, nicht als Jude, in französische Lager interniert. Er konnte fliehen, wurde aber nach dem Sieg Hitler-Deutschlands über Frankreich erneut ein Gejagter. Seine Mitgliedschaft bei der Résistance führte alsbald zu seiner erneuten Inhaftierung, diesmal in ein belgisches Gestapo-Gefängnis. Als er der Folter unterworfen wurde, entdeckte man seine jüdische Abstammung. "Mit dem ersten Schlag der Polizeifaust, gegen den es keine Wehr geben kann, endigt ein Teil unseres Lebens und ist niemals wieder zu erwecken", heißt es später in seinem Essay "Die Tortur" (1965).
Améry wird nach Auschwitz deportiert, später nach Buchenwald und Bergen-Belsen, wo er Ende April 1945 durch die alliierten Truppen befreit wird. Nach 1945 kehrt er nach Belgien zurück und wird Journalist. Er verfasst journalistisch-kulturhistorische Arbeiten und literarisch-essayistische Prosa und später auch autobiografisch-essayistische Aufsätze. Zudem ist Jean Améry ein viel beschäftigter Verfasser von Rundfunksendungen und Buchbesprechungen und publiziert seit 1965 in Hans Paeschkes "Merkur" Essays, Glossen und Rezensionen.
1961 erscheint im Schweizer Walter Verlag Amérys "Geburt der Gegenwart. Gestalten und Gestaltungen der westlichen Zivilisation seit Kriegsende 1961" mit einem großartigen Panorama der Nachkriegszeit. Améry wird als "in Belgien lebender doppelsprachiger Kulturjournalist" präsentiert: kein Wort über Auschwitz.
Erst mit dem Beginn des Auschwitz-Prozesses in Frankfurt am Main am 20. Dezember 1963, durch den die deutsche Gesellschaft gezwungen wurde, sich erstmals offen ihren verleugneten Verbrechen im Nationalsozialismus zu stellen, gibt der Publizist seine lange geübte persönliche Zurückhaltung auf. Amérys autobiografisch begründete Verneinung der Frage, ob der intellektuelle Geist des Opfers in der Lage gewesen sei, der Grenzsituation Auschwitz zu trotzen, hat ihn dann über Nacht berühmt gemacht. Endgültig präsent wurde Amérys Leben vor allem durch seine Essay-Sammlung "Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigtem" (1966), in der der Schriftsteller die Erfahrung eines Intellektuellen unter der Folter in Auschwitz summiert und feststellt: "Wer der Folter erlag, kann nicht mehr heimisch werden in der Welt."
Im Vorwort wendet sich der Autor explizit an jene Deutschen, "die sich nicht oder nicht mehr betroffen fühlen von den zugleich finstersten und kennzeichnendsten Taten des Dritten Reiches." Als das Buch im Jahr 1977 neu herausgegeben wird, hat Améry noch mehr Grund als die Jahre zuvor, gegen eine Gegenwart zu rebellieren, "die das Unbegreifliche geschichtlich einfrieren lässt und damit auf empörende Weise verfälscht. Nichts ist vernarbt, und was vielleicht 1964 schon im Begriffe stand zu heilen, das bricht als infizierte Wunde wieder auf. Emotionen? Meinetwegen. Wo steht geschrieben, dass Aufklärung emotionslos zu sein hat? Das Gegenteil scheint mir wahr zu sein. Aufklärung kann ihrer Aufgabe nur dann gerecht werden, wenn sie sich mit Leidenschaft ans Werk macht." Ohnehin sei die Aufklärung, erklärte er in einem "Tribüne"-Beitrag aus dem Jahr 1978, in Deutschland nie attraktiv gewesen.
Psychisch und moralisch hat sich der Schriftsteller zuvor lange außerstande gefühlt, für Deutschland zu arbeiten. Das ändert sich erst, als ihn der Redakteur Helmut Heißenbüttel 1964 für den "Radio-Essay" des Süddeutschen Rundfunks entdeckt und gewinnt. Sein Essay "Über das Altern" wird in mehreren Folgen im Südwestfunk ausgestrahlt. Vier Jahre später kommt die Buchausgabe unter dem Titel "Über das Altern, Revolte und Resignation" heraus.
Ab 1966 hat sich Jean Améry, der längst zum "Medienliebling" aufgestiegen ist, auch immer wieder in der "Tribüne" zu Wort gemeldet und sich dezidiert und scharfzüngig in einzelnen Aufsätzen mit Themen auseinander gesetzt, die ihm am Herzen lagen. So etwa mit Vorurteilen gegenüber Emigranten unter der Überschrift "Die ewig Unerwünschten", mit dem Identitätsverlust der Linken, mit deren Sicht des Zionismus, mit dem "neuen Antisemitismus" und anderem mehr. Zugleich habe Améry, wie Siegbert Wolff 2000 hervorhob, mit seinen "unbequemen, jedoch zutreffenden Analysen" zu jenen gehört, die die "Konturen der Zeitschrift Tribüne mitgeprägt haben."
Zudem trat der unermüdliche Erinnerer und Mahner in Werner Höfers "Internationalem Frühschoppen" sowie in Akademien und bei anderen Diskussionsrunden auf. Es folgen Ehrungen und Preise. Gleichwohl bleiben krisenhafte Anfälle nicht aus. Améry unternimmt einen Selbstmordversuch und liefert 1976 der misslungenen Praxis die Theorie nach, mit dem Buch "Hand an sich legen. Diskurs über den Freitod", in dem er auf dem Recht besteht, über das eigene Leben und den eigenen Tod selbst zu entscheiden.
Das Thema "Selbstmord" klang bereits in dem erst kürzlich veröffentlichten Jugendwerk "Die Schiffbrüchigen" aus den Jahren 1934 und 1935 an. Hier schildert Améry den kontinuierlichen sozialen Abstieg der alter ego-Figur Eugen Althagers und dokumentiert damit zugleich seine eigene allmählich beginnende erzwungene Ausgrenzung aus der bis dahin geschätzten deutsch-österreichischen Kultur. Wenn man sich nun klar macht, was im Leben Amérys auf das folgte, was er schon 1935 mit Weitsicht und Resignation zu einem Kunstwerk zu verdichten verstand, so kann es einem tatsächlich "kalt über den Rücken laufen", wie der Autor selbst 1978 - kurz vor seinem Freitod - bei der Wiederlektüre seines Frühwerks notierte.
In seinem 1971 erschienenen schmalen Buch "Unmeisterliche Wanderjahre" hat Jean Améry die ersten Schocks und die anhaltenden Verwirrungen geschildert, in die er durch seine Begegnung mit Deutschland gestürzt worden war und die auch der studentische Aufbruch der 1960er-Jahre und die neue Linke nicht zu beschwichtigen vermochten. Von dem, was sich damals als Antifaschismus gerierte, war Jean Améry nicht zu beeindrucken gewesen, ebenso wenig durch die Theorien der Frankfurter Schule, in denen das Grauen, das er am eigenen Leibe erfahren hatte, zu denken versucht worden war. "Die realen Greuel", schreibt der Holocaust-Überlebende Améry, "bei denen sich niemand aufzuhalten brauchte, wenn in angestrengter Begriffssprache doziert wurde, bekamen etwas Märchenhaftes, Greuelmärchen. Die abstrakte Reflexion nahm ihnen ihre Schrecken. In den Seminaren wurde der Schrecken transsubstantialisiert." Theodor W. Adorno selbst warf er vor, "den heraufrückenden Generationen Intellektueller nebst dem schneidenden Vokabular auch das fleckenreine linke Gewissen" zu verschaffen. Jede Metapher, jede Philosophie versagte in den Augen Amérys, wenn es um die Darstellung der erfahrenen Schmerzen ging.
Als Essayist war Améry berühmt und geschätzt. Sein zu Lebzeiten veröffentlichter Roman-Essay "Lefeu oder Der Abbruch" (1974) indes, sein einziges fiktives Werk, wurde verrissen und anschließend weitgehend ignoriert. Vom Romancier Améry wolle man nichts wissen, klagte der Autor 1975. Man lasse ihn eben nur als "Parade-Opfer und Leidensjuden des Judenleides gelten".
Eine Reihe der Améry-Bücher wurde erst nach seinem Tod aufgelegt, etwa "Weiterleben - aber wie?". Die hier abgedruckten, zwischen 1968 bis 1978 entstandenen Essays enthalten die schonungslose, wenn auch resignierende Bilanz eines Publizisten, dem die Sicherheit, auf der richtigen Seite zu stehen, immer mehr entglitten war. Am Ende hatte Jean Améry das Gefühl, er würde "in den Wind" sprechen. Ihm war jegliches Weltvertrauen unwiderbringlich verloren gegangen. Kein Glaube, keine Ideologie boten ihm Halt. Jeden Gedanken an ein Jenseits wies er als tröstliche Lüge zurück.
In einem seiner radikalsten Aufsätze, "Ein Unglücksbuch für die Menschheit", nennt Améry den Gott des Alten Testaments grausam und unberechenbar, und an anderer Stelle merkt er an: "Wer sich mit dem Gott des Alten Testaments einlässt, ist zu Angst und Zwangsneurose verurteilt." Es gehe nicht an, "den lieben Herrgott einen guten Mann sein zu lassen." Denn "er ist kein guter Mann. Sein hier nur ironisch evozierter ,unerforschlicher' Ratschluss muss allerwegen mit sämtlichen zu Gebote stehenden Mitteln der Erforschbarkeit erhellt, beziehungsweise muss durch sie korrigiert werden."
In einem Podiumsgespräch gesteht er, bis zum Jahr 1933 habe er Österreich als seine Heimat angesehen. Leider habe er sich geirrt, ebenso 1945, "als ich glaubte, es könne ein totales Neubeginnen geben", doch sei er "immer wieder durch die Geschichte korrigiert worden."
Heimatlosigkeit als Grunderfahrung jüdischer Existenz hat Améry einmal in einem selbstquälerischen Witz zusammengefasst: "Warum gehen die Juden so gerne ins Café? Nun dort ist man nicht daheim und doch nicht in der frischen Luft", und meinte, man müsse Heimat haben, "um sie nicht nötig zu haben". Was bleibt, sei letztlich, so Améry, das selbstzerstörende, "immer währende Schriftstellerexil" eines "ewig Unerwünschten".
Irritiert zeigt er sich über den Abschied der Linksintellektuellen vom Marxismus. In einigen Essays äußert er sich über den "Irrationalismus" der neuen Gurus Michel Foucault und Jacques Lacan, in anderen wiederum über Größen des europäischen Geistes: über Gotthold Ephraim Lessing, Leszek Kolakowski, Gerhard Szczesny, Alexander Mitscherlich und Julien Benda.
Nach dem Zusammenbruch des "Dritten Reiches" war zunächst Jean-Paul Sartre "so etwas wie (seine) Vaterfigur" geworden. Musste doch dem Agnostiker Améry der Gedanke vertraut sein, dass der Mensch nicht als ein von Gott geschaffenes Geschöpf aufzufassen ist. Den Marxismus hat er allerdings, anders als Sartre, unablässig in Frage gestellt, und sich dann im Laufe der Jahre immer mehr vom existentialistischen Denken des berühmten Franzosen entfernt. Er habe sich vor allem an Sartres schmales Büchlein "Les mots" gehalten, das unter all seinen Texten "nicht nur der persönlichste, sondern auch der humanste ist."
In den knapp zwölf Jahre von 1966 bis 1978, in denen Améry im deutschen Sprachraum wirkte, hat er sich oft pointiert zu Wort gemeldet und auf radikale Vernunft gepocht. In seinen Diagnosen war er oft scharf und bitter und hat dabei über vieles, was er schrieb, den Stab gebrochen. Er war ein luzider Denker, der durch seine lakonische Sprache und nicht zuletzt dadurch beeindruckte, dass er mit keiner der gängigen intellektuellen Moden paktierte.
Immer wieder kreiste sein Denken um Grenzsituationen des menschlichen Daseins. Haben Geistesbildung und intellektuelle Grunddisposition einem Lagerhäftling in den entscheidenden Momenten geholfen? Haben sie ihm das Überleben erleichtert? So überlegte Améry und konstatierte: "Wir sind in Auschwitz nicht besser, nicht menschlicher, nicht menschenfreundlicher und sittlich reifer geworden", haben es aber "klüger" verlassen. Mit dem "wir" bezeichnete er die freien und an keine politische Doktrin engagierten Intellektuellen. Sein Unglück war, dass sein Appell an die Vernunft, sein Glaube an eine humane Zukunft, seine unverzagte Hoffnung auf die philosophische Utopie des guten Menschen niemand mehr so richtig erwärmte. Der kühle Kopf diagnostizierte, riss indes nicht mehr mit.
Jean Améry, den erst die Nazis dazu zwangen, ein Jude zu sein, als welcher er, der Atheist, sich eigentlich nie fühlte, hat sich zeitlebens bemüht, Denk- und Lebensformen des Judentums und dessen Religion aus intellektueller Distanz zur Kenntnis zu nehmen. "Für mich heißt Jude sein, die Tragödie von gestern in sich lasten zu spüren." Denn erst durch die Feinderklärung der Nationalsozialisten war er sich als junger Mann seines Judentums bewusst geworden. "Ich war, als ich die Nürnberger Gesetze gelesen hatte, nicht jüdischer als eine halbe Stunde zuvor", so brachte Améry Wendepunkt und Widerspruch seiner Existenz einmal auf den Punkt. Im Grunde jedoch begann der Lernprozess für Améry schon mit dem Umzug aus der oberösterreichischen Provinz nach Wien Anfang der 1930er-Jahre, "wo der Antisemitismus ein Faktum und das Hakenkreuz eine Drohung war." Plötzlich rückte das bis dahin für ihn unbedeutende Detail - die jüdische Herkunft - ins Zentrum seines Lebens. Plötzlich musste er "Zwang und Unmöglichkeit, Jude zu sein" zueinander in Beziehung setzen.
"Jude zu sein, das hieß für mich von Anfang an, ein Toter auf Urlaub zu sein, ein zu Ermordender, der nur durch Zufall noch nicht dort war, wohin er rechtens gehörte und dabei ist es in vielen Varianten [...] geblieben."
Für eine Sendereihe des Süddeutschen Rundfunks dachte Améry Mitte der 1970er-Jahre noch einmal über ,Mein Judentum' nach, das er zunächst auf sich zu nehmen hatte und sich später aneignete, das aber niemals "selbst erworbene Identität" werden konnte. Schließlich sei er in einem christlichen Umfeld aufgewachsen.
"Zu den Erinnerungen, die sich nicht auslöschen lassen, gehören die christlichen Feste, namentlich die weihnachtliche Mitternachtsmette. Auch kann ich, wenn ich mir Mühe gebe, immer noch das katholische Glaubensbekenntnis auswendig hersagen. Wie soll, wie darf ich unter solchen Umständen von ,meinem Judentum' sprechen? Es bestand ja nicht."- " Man unterschlug mir nichts. Nur war das Jüdische kein Thema." Da er dem von der Gesellschaft "über mir verhängten Judesein" nirgendwo entfliehen konnte, begann er, sich "als Jude zu konstituieren."
Mit dem jüdischen Volk und seinem jungen gefährdeten Staat wiederum verband ihn wohl ein grundlegendes Gefühl der Solidarität, aber keinesfalls der Zugehörigkeit. Gleichwohl räumte Améry ein: "Die Existenz Israels hat auch jenen Juden, die mit diesem Land beziehungsweise jüdischem Glauben und der jüdischen Kultur gar nichts zu tun haben, ihre Selbstachtung zurückgegeben."
"Um das Phänomen Israel zu begreifen", so behauptete Améry 1973, müsse man "vollumfänglich die jüdische Katastrophe begreifen. [...] Israel ist - aber wie soll man einem jungen Menschen das deutlich machen? - kein Land wie irgendein anderes: es ist die Zufluchtstätte, wo Überlebende und Verfolgte nach langer Wanderschaft sich in tiefer Erschöpfung niederließen".
Ende März 1976 betonte er während seiner Vortragsreise durch Israel (nur dieses eine Mal hat er das Land kurz besucht): "Israel hat im Guten und im Schlechten ein neues Judenbild realisiert und damit den Juden davon erlöst, dass er sich seine Eigenvorstellung von Antisemiten vorschreiben lassen muss, wie dies seit der Emanzipation der Fall war. Kürzer gesagt: Die Existenz Israels hat auch jenen Juden, die mit diesem Land bzw. mit dem jüdischen Glauben und der jüdischen Kultur gar nichts zu tun haben, ihre Selbstachtung zurückgegeben."
In Israel gehe es, so Améry, um nicht mehr und nicht weniger als um die Möglichkeit, sich endlich eine letzte Rückzugsmöglichkeit vor dem Antisemitismus in aller Welt zu bewahren. Schon 1973, zur Zeit des Jom-Kippur-Krieges, legte er unmissverständlich dar, was er von einer Linken hielt, die glaubte, ihren Antisemitismus hinter dem Wort "Antizionismus" verstecken zu können: "Wer die Existenzberechtigung Israels in Frage stellt, der ist entweder zu dumm, um einzusehen, dass er bei der Veranstaltung eines Über-Auschwitz mitwirkt", heißt es in "Juden, Linke - linke Juden".
Mit Israel verband ihn also durchaus Solidarität. Den dort lebenden Menschen fühlte er sich unablösbar verbunden. Dennoch wollte er in diesem Land keinesfalls wohnen. Es war ihm zu heiß, zu laut und in jeder Hinsicht zu fremd. Auch konnte er nicht gutheißen, "was immer man dort treibt". Er verabscheute seine theokratischen Tendenzen und den religiös getönten Nationalismus. Für ihn war Israel keine Verheißung, kein biblisch legitimierter Territorialanspruch, kein Heiliges Land, sondern lediglich Sammelplatz von Überlebenden, nur ein Staatengebilde, in dem "jeder einzelne Einwohner noch immer um seine Existenz bangen muss". Überdies war Jean Améry ein wacher Kritiker der israelischen Politik, wohlwissend, dass er auf schwankendem Grund stand und oft im Begriff war, sich "Wohlwollen zu verscherzen, Freundschaften zu gefährden, wenn ich öffentlich die augenblicklich im Amte befindliche israelische Regierung als eine irrationalistisch-chauvinistisch inspirierte mit Schärfe ablehne". Trotzdem fügte er entschlossen hinzu: "Wo es aber dann jählings ans Herz der Dinge geht und ich Gefahr wittere für das verzweifelt um sich schlagende Ländchen, ist, jenseits eines Judentums, auf das ich mich nicht berufen kann, weil ich es nicht besitze, mein Judesein am Ende doch ausschlaggebend. Ich ergreife Partei. Für Israel."
Unter den namhaften Zeugen des Holocaust dürfte Améry einer der einsamsten gewesen sein. Seine Berichte über die Folter und die Lager, denen er knapp entronnen war, sind erschütternd zu lesen, auch und gerade durch die radikale Verweigerung jeglichen Trostes. Vielleicht liegt hier die Erklärung dafür, dass es um Jean Améry nach seinem Tod lange Zeit vergleichsweise still geworden ist.
Und wie steht es gegenwärtig mit der Rezeption seiner Texte? Ist das, was er schrieb, obsolet geworden? Immerhin sind seine Reflexionen über die Folter in seinem Essay zur "Tortur", über die Auswirkungen von psychischer und physischer Gewalt auf das einzelne Individuum auch heute noch von erschreckender Aktualität.
Kein Zweifel, es ist höchste Zeit, Améry gleichermaßen als Schriftsteller, als scharfsinnigem Zeitgenossen und kritischem Beobachter gesellschaftlicher Entwicklungen neue Aufmerksamkeit zu schenken. Die Schärfe und Klarheit seiner Urteilskraft passt nämlich ganz und gar nicht zu dem Klischeebild des traumatisierten Opfers, das man sich zu seinen Lebzeiten gerne von ihm gemacht hat.
Manche Anzeichen deuten darauf hin, dass in der Germanistik mittlerweile eine intensive Auseinandersetzung mit Jean Améry als Schriftsteller begonnen hat. Stehen wir gegenwärtig tatsächlich, wie Jürg Altwegg unlängst festgestellt hat, vor einer Améry-Renaissance? In der Universität von Brüssel fand im März 2008, aus Anlass seines dreißigsten Todestages, ein Jean Améry gewidmetes Internationales Kolloquium mit "Neuen Perspektiven" statt, durch die das herkömmliche Améry-Bild einer genaueren Prüfung unterzogen wurde. Auch hat sein Verlag Klett-Cotta in einer großen Ausgabe Amérys wichtigste Werke und Schriften in geschlossener Form neu herausgegeben. Den Abschluss bildet mit einer Fülle von Materialien über Leben, Werk und Wirkung Amérys der letzte, der 9.Band, der dank seiner Vielseitigkeit und seines ausführlichen Anhangs den Gedankenreichtum und die Formulierungskunst dieses brillanten und unbestechlichen Schriftstellers und Publizisten noch einmal deutlich vor Augen führt. Betreut wird die Werkausgabe von Irene Heidelberger-Leonard, "die mit ihrer großen Biographie das Interesse an Jean Améry neu entfacht" hat. (Altwegg)
Gerade weil Jean Améry bis zuletzt die konkrete deutsche Geschichte nie aus dem Blick verloren und philosophischer Hybris immer wieder die nüchterne Rechnung der Aufklärung präsentiert hat, genau deshalb muss man ihn heute von neuem und vielleicht noch aufmerksamer als in der Vergangenheit lesen. Dabei hilft sicher auch der Jean Améry-Preis für Essayistik mit, den Robert Menasse 1999 neu gestiftet hat als "Auszeichnung für hervorragende Leistungen auf dem Gebiet des zeitkritischen, aufklärerischen Essays" - zur Erinnerung an Jean Améry.
Anmerkung der Redaktion: Dieser Aufsatz erschien zuerst in der Zeitschrift "Tribüne. Zum Verständnis des Judentums". 47.Jg. Heft 187 3.Quartal 2008. Wir danken der Autorin für die Publikationsgenehmigung.