Einmaleins der Genozide
Daniel Jonah Goldhagen hat für seine Studie „Schlimmer als Krieg. Wie Völkermord entsteht und wie er zu verhindern ist“ den Taschenrechner ausgepackt. Nicht nur deshalb ist das Buch misslungen
Von Jan Süselbeck
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseInterdisziplinäre Forschungsanstrengungen kommen voran
Wie entstehen Genozide? Wie können Menschen so etwas überhaupt tun? Und wie könnte man solche Massenmorde, da sie auch im 21. Jahrhundert weitergehen, als hätte es Auschwitz nicht gegeben, wirksam verhindern? Sigmund Freuds berühmtes Diktum, alles was die Kulturentwicklung fördere, arbeite auch dem Krieg entgegen, wurde durch den Nationalsozialismus fundamental in Frage gestellt, weil er die Möglichkeiten der Aufklärung und des Fortschritts dazu nutzte, die massenmörderische Barbarei auf die Spitze zu treiben.
Jan Philipp Reemtsma hat in seinem Buch „Vertrauen und Gewalt. Versuch über eine besondere Konstellation in der Moderne“ (2008) darauf hingewiesen, dass es heute insbesondere darauf ankäme, „in welcher Weise aggressive Äußerungen als Gewalt angesehen und als erlaubte, verbotene oder gebotene Gewalt akzeptiert oder nicht akzeptiert werden“. Nachrichtensendungen, Filme, das Radio, die Literatur, Zeitungen und bestimmte Inhalte im Internet nehmen auf den Verlauf eines solchen Diskurses maßgeblichen Einfluss – und zwar vor allem auch deshalb, weil schon allein die Wahrnehmung von Gewaltakten den Menschen Lust bereiten und ihre Emotionen auf ambivalente Weise manipulieren kann. Die Medien definieren die Größe der Distanz immer wieder neu, die eine Gesellschaft zu jener verhängnisvollen Lust an der Grausamkeit behält, die Kriege und Genozide den Tätern auszuleben erlauben: „Die Kulturentwicklung der Moderne kann nicht aus der Welt schaffen, dass der Mensch zur Gewalt (auch zur verbotenen) nach wie vor fähig bleibt“, konstatiert Reemtsma, „und dass die Ausübung der Gewaltform, die die Moderne schlechthin delegitimiert hat – die autotelische – als absolute Macht über den Anderen, nämlich in der Fähigkeit, dessen Körper zu zerstören, eine Lustquelle ersten Ranges darstellt, ja modern vielleicht darum darstellt, weil sie verboten ist, weil sie die Ausnahme ist. Sie auszuüben bedeutet, die Kulturforderungen der Moderne schlechthin über den Haufen zu werfen.“
Der größte „Wurf“ in dieser Richtung, den Freud nicht mehr mit erleben musste, war das, wofür heute der Name Auschwitz steht. Da die Geschichte dieses Zivilisationsbruches zunächst nur rudimentär aufgearbeitet wurde und vielfältigen Verdrängungs- und Verleugnungsprozessen unterlag, blieben auch Teile der Sprache, die die Shoah mit organisieren half, blieben Bilder und ästhetische Darstellungsweisen der spezifischen Gewaltformen des deutschen Faschismus in der Kultur der Nachwelt bis heute präsent.
Die Erforschung der Frage, warum Menschen nach wie vor Genozide begehen, scheint also selbst im 21. Jahrhundert wichtig geblieben zu sein, ja angesichts neuer Massenvernichtungswaffen und ihrer wachsenden Verbreitung in der Welt sogar immer dringender zu werden. Auch eine voluminöse Studie wie die des Gründungsdirektors des „Genocide Studies“-Programms an der Yale University, Ben Kiernan, versucht dieser Situation zu begegnen. Kiernan unternimmt es in „Erde und Blut“, Völkermord und Vernichtung in einem weit gefassten Abriss „von der Antike bis heute“ zu erklären. Er stützt sich dabei auf die vielleicht nur im ersten Moment überraschend erscheinende Idee, die ideologische Überhöhung zu erobernden Territoriums zwecks kultivierenden Ackerbaus sei einer der historischen roten Fäden gewesen, an denen entlang sich Genozide immer wieder entwickelten. Kiernans über 900-seitige Arbeit liefert zu dieser nicht eben neuen, aber wohl noch nie so konsequent verfolgten Hypothese eine Fülle von Belegen. Doch nicht nur die territoriale Expansion und damit gezielt verknüpfte, propagandistische „Blut- und Boden“-Mythen führten in der Weltgeschichte zu Genoziden, sondern vor allem auch der Rassismus, der Antisemitismus und die mit ihnen einhergehenden, immer wieder neu tradierten Verschwörungstheorien.
Selbst Literaturwissenschaftler beginnen mittlerweile zunehmend, sich mit diesen Themen zu befassen, die nicht nur das literarische Schreiben nach Auschwitz problematisierten, sondern auch im neuen Jahrtausend, aufgrund neuer Hiobsbotschaften aus aller Welt, weiter Eingang in die Weltliteratur finden. Unfassbar extreme Geschehnisse wie der Genozid in Ruanda, bei dem 1994 etwa 800.000 Menschen mit Macheten massakriert wurden, avancierten bereits zum Thema vieler Romane, und zwar, in zwei Fällen, auch der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur – bei Hans Christoph Buch und Lukas Bärfuss. Der in den USA lehrende Literaturwissenschaftler Paul Michael Lützeler zum Beispiel hat in seinem soeben erschienenen Buch „Bürgerkrieg global. Menschenrechtsethos und deutschsprachiger Gegenwartsroman“ zwei ausführliche Kapitel über diese beiden Autoren und damit auch den ruandischen Genozid und seine Geschichte verfasst. Vor ihm hat sich bereits der Komparatist Robert Stockhammer in seinem schmalen, aber äußerst dicht formulierten Band „Ruanda. Über einen anderen Genozid schreiben“ (2005) intensiv und auf noch breiterer Materialbasis mit dem Thema und den Schwierigkeiten seiner literarischen und auch literaturwissenschaftlichen Aufarbeitung auseinandergesetzt.
Menschen töten Menschen, weil sie es wollen
Auch der Politologe Daniel Jonah Goldhagen hat sich die eingangs formulierten Fragen immer wieder gestellt und versucht sie in seinem neuen Buch „Schlimmer als Krieg. Wie Völkermord entsteht und wie er zu verhindern ist“ direkter denn je zu beantworten. Bereits mit seiner in der Presse äußerst kontrovers diskutierten Studie über „Hitlers willige Vollstrecker“ wurde der junge amerikanische Wissenschaftler 1996 zum internationalen Star, als seine medienwirksame Vortragsreise durch Deutschland zur Überraschung der skeptischen Historiker zum wahren Publikumstriumph geriet. Fast alle Experten hatten Goldhagens Bestseller damals zunächst verrissen, ohne damit eine der wichtigsten deutschen Nachkriegsdebatten über den Holocaust als ‚deutsches Projekt‘ verhindern zu können – den „eliminatorischen Antisemitismus“, wie ihn der junge Wissenschaftler nannte.
Was die Geschichtspolitiker hierzulande daran so aufbrachte, war Goldhagens simple These, dass die deutsche Gesellschaft die Shoah genau deshalb in ihrer Breite unterstützte, weil sie diesen Massenmord schlichtweg befürwortet habe: Nicht irgendwelche abstrakten Strukturen, die ‚böse Moderne‘ oder gar eine ominöse „kumulative Radikalisierung“ (Hans Mommsen) habe die europäischen Juden umgebracht, sondern ganz konkret die Deutschen – und zwar, weil sie genau das auch tun wollten.
Mit Spannung durfte man also Goldhagens seither immer einmal wieder angekündigte Studie zur vergleichenden Genozidforschung erwarten, deren Niederschrift unter anderem durch sein 2002 erschienenes, vergleichsweise enttäuscht aufgenommenes Buch „Die katholische Kirche und der Holocaust“ hinausgezögert wurde. Nun aber ist das voluminöse, über 650seitige Buch endlich da: Und es greift noch einmal die erwähnten Argumente auf, um sie nunmehr geradezu hemdsärmelig auf die gesamte Weltlage anzuwenden.
Das Buch ist von großem Selbstbewusstsein und dem Impetus geprägt, die Menschen endlich wachzurütteln und ihnen konkrete Wege aufzeigen zu können, wie man Völkermörder in aller Welt zukünftig frühzeitig dingfest und unschädlich machen könnte. Dazu breitet der Autor zunächst einmal Gräuelgeschichten aus aller Welt aus, um die Leser wie auch schon in „Hitlers willige Vollstrecker“ gezielt betroffen zu machen und ihnen das faktische Geschehen eines Massenmordes, wie er 1994 in Ruanda verübt wurde, als Phänomen des „Eliminationismus“, wie er es jetzt nennt, auf emotionalisierende Weise nahezubringen.
Man solle einmal überlegen, wie es wäre, „einen Mann eigenhändig zu töten, abzuschlachten, mit der Machete zu zerhacken. Oder eine Frau. Oder ein Kind. Sie schlagen zu. Schlagen noch einmal zu. Schlagen wieder und wieder auf ihn ein. Stellen Sie sich vor, Sie hören, wie der Mensch, den Sie gerade umbringen, bettelt, um Gnade fleht, um sein Leben. Stellen Sie sich vor, Sie hören die Schreie Ihres Opfers, während Sie auf es einschlagen, es ‚zerschlitzen‘, wieder auf es einhacken und immer wieder, oder die Schreie eines Jungen, wenn Sie auf seinen achtjährigen Leib einhacken“.
Menschen täten so etwas nur, folgert Goldhagen wie auch schon in seiner früheren Arbeit über die Shoah, wenn sie es auch wirklich wollten und keinerlei Strafverfolgung fürchteten – und wenn es staatliche Führer, wo und wann auch immer, anordneten. Goldhagen räumt selbst ein, er habe gezögert, gewisse Fallgeschichten, die das Buch streckenweise zu einer äußerst quälenden Lektüre machen, einzubauen. Wobei er sich den vielleicht beunruhigendsten Teil ganz für den Schluss aufhebt: Eine wahrhaft markerschütternde Polemik gegen den „Politischen Islam“, wie er den Islamismus eines Mahmud Ajmadinedschad, der Hisbollah oder auch von al-Qaida nennt und den er für die „geschlossendste und mörderischste Ideologie seit dem Nationalsozialismus“ hält. Deren „kompromissloses politisches Sendungsbewusstsein, gepaart mit Kernwaffenbesitz, könnte dazu führen, dass uns der fürchterlichste Fall von Massenmord erst noch bevorsteht“, warnt Goldhagen – und dies nicht einmal zu Unrecht.
Der gefährlichste Todeskult seit dem Nationalsozialismus
„Der Politische Islam ist heute die gefährlichste eliminatorische politische Bewegung“, argumentiert Goldhagen, da sie „sich ausdrücklich, eindeutig und unverfroren zum Völkermord bekennt“. Es handele sich um eine geradezu „phantastische Weltanschauung“, sei der Politische Islam doch „totalitär, aggressiv, eroberungssüchtig, selbstherrlich im Gefühl seiner Überlegenheit und seines Herrschaftsanspruchs, intolerant, voller Ressentiment, realitätsfern“. Nur gut, dass Goldhagen hier betont, dies heiße nicht, „den Islam selbst oder alle Muslime“ in diese Zuschreibungen mit einzubeziehen. Sonst würde sich wohl nicht nur der Erfinder des Begriffs „Orientalismus“, Edward W. Said, angesichts von Goldhagens wütenden Zuschreibungen im Grabe umdrehen, sondern es käme womöglich beim Entstehen einer größeren Debatte über sein Buch wieder einmal zu jenen notorisch gewordenen Tumulten in der islamischen Welt, vor denen selbst westliche Verlage in vorauseilendem Gehorsam immer häufiger zurückzuschrecken beginnen, indem sie Bücher, die für Gefühle der Beleidigung sorgen könnten, aus ihrem Programm nehmen.
Der Siedler Verlag gehört offenbar noch nicht dazu, und das ist im Prinzip auch gut so. Nicht genug betont werden kann zumindest Goldhagens Diagnose eines beklagenswerten und bedrohlichen Todeskults im Politischen Islam, der in der immer wieder auftauchenden und nicht anders als bizarr zu nennenden Kriegserklärung an die westliche Welt gipfelte: „Wir werden siegen, weil sie das Leben lieben und wir den Tod.“ Mit Reemtsma gesprochen handelt es sich hierbei um eine typische Rhetorik des Genozids, die eine „Idealisierung der Gewalt“ betreibt, genauer: eine „Heiligsprechung autotelischer Gewalt“. Dass diese explizit mörderische Ideologie mittels neuer Medien längst auch schon in die Kinderzimmer der muslimischen Welt übertragen wird, lässt Goldhagen förmlich erschaudern: „Nichts lässt mehr frösteln, nichts ist bezeichnender für Macht und Reichweite dieser Kultur des Todes als die an die Kinder gerichteten Musikvideos, die per Fernsehen und Podcasting verbreitet werden.“
Zudem berührt Goldhagen noch einen weitereren Punkt, der seiner US-Kollegin Judith Butler gar nicht gefallen dürfte, die in ihrem neuen Buch „Krieg und Affekt“ (2009) andeutet, die große Empörung über Selbstmordattentate könne die Folge typisch westlicher Selbstgewissheit sein, die zur systematischen Ausblendung eigener Kriegsverbrechen gegen die ‚Anderen‘ in der islamischen Welt führe: „Was euphemistisch als Selbstmordattentate umschrieben wird, sollte der Realität entsprechend als proto-genozidaler Bombenangriff bezeichnet werden“, stellt dagegen Goldhagen klar. Es sei schon erstaunlich, wundert er sich, „wie viele Menschen, viele gebildet und aus der Mittelschicht, sich freudig in die Luft sprengen, um Massenmord zu begehen und die Massen einzuschüchtern, indem man jedem Angehörigen der Zielbevölkerung vor Augen führt, dass er jederzeit umgebracht werden kann – und das alles im Dienst des Politischen Islams.“
Nur folgerichtig ist es da, dass Goldhagen seine Leser am Ende dieses Kapitels auch noch ausdrücklich auf das hinweist, was in der sogenannten „Charta der Hamas“ nachweislich schwarz auf weiß zu lesen steht. Mit einem „Feuerwerk vorwurfsvoller Fantasien“ beschuldige die Hamas darin immer wieder „in NS-Manier“ die Juden, die Welt zu zerstören, um im Gegenzug deren kompromisslose Vernichtung zu fordern, und zwar nicht ‚nur‘ in Israel, sondern ausdrücklich in der ganzen Welt. Und das ist, wie Goldhagen betont, noch längst nicht alles: „Islamisten denken nicht nur an Juden als Dämonen, die zu eliminieren sind. Nicht einmal hauptsächlich. Ihre eigentliche Erbitterung und Aggression richten sich gegen den Westen und die Vereinigten Staaten als dessen stärkste Macht, Israel ist in ihren Augen vor allem ein Vorposten des imperialistischen Westens, den dieser in seiner Auflehnung gegen den Politischen Islam unterstützt, so dass die Vernichtung Israels nur den ersten Schritt zur generellen Eliminierung des Westens markiert.“
Besonders beunruhigend mögen diese Feststellungen Goldhagens auch deshalb erscheinen, weil „die finanzkräftigsten und mächtigsten Streitkräfte aller Zeiten“, die der USA und auch Israels, im „Niedergang“ begriffen sind, wie zumindest der renommierte israelische Militärhistoriker Martin van Creveld im Vorwort seiner neuen Studie „Gesichter des Krieges. Der Wandel bewaffneter Konflikte von 1900 bis heute“ nüchtern diagnostiziert. Der Autor verweist dazu unter anderem auf den israelischen Rückzug aus Gaza und insbesondere den „beunruhigenden“ Fall der amerikanischen Intervention im Irak, die es trotz einer riesigen Übermacht der USA und ihrer Verbündeten nicht geschafft habe, mit einer vergleichweise kleinen Gruppe marodierender Terroristen fertig zu werden. So warnt auch van Creveld am Ende seiner Studie, gewissermaßen im Einklang mit Goldhagen: „Der Terrorismus breitet sich in die ‚entwickelte Welt‘ aus. Gerade weil so viele seiner Protagonisten im Stande sind, in dieser Welt zu operieren, stellt der Terrorismus eine weit größere Bedrohung dar als alle drittklassigen Diktatoren“. Darum warnt der Autor seine Leser eindringlich: „Entweder schüttelt die ‚entwickelte Welt‘, mit den Vereinigten Staaten an der Spitze, endlich ihre Lethargie ab, erkennt das Wesen des Problems […] und lernt, wie sie mit den Terroristen fertig wird, oder die Terroristen werden mit ihr fertig werden. Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Wir haben, wie immer, die Wahl.“
Dürfen Massenmörder ermordet werden?
Obwohl also manches mahnende Wort Goldhagens diskussionswürdig erscheinen mag, ist sein Buch misslungen. Eine intensivere Berichterstattung der Medien anzumahnen, die UNO als gemeingefährliche Ansammlung tyrannischer Völkermordstaaten abzuwatschen und das Völkerrecht zu Gunsten künftiger robuster Präventiv- und Interventionskriege in aller Welt herabzustufen, ist keine bahnbrechende Idee – Joschka Fischer (Die Grünen) etwa, der als deutscher Außenminister bereits 1999 mit einer ähnlichen Argumentation den Angriffskrieg gegen Serbien als einen solchen ‚gegen Auschwitz‘ rechtfertigte, würde sofort begeistert zustimmen. Und eben das Beispiel der Balkan-Kriege der 1990er-Jahre, deren Begründung nachträglich von vielen Kommentatoren in Zweifel gezogen wurde – und dies aufgrund der längst widerlegten Propagandalügen des deutschen Verteidigungsministers Rudolf Scharping (SPD) von 1999 wohl auch zu Recht – , jenen Präzendenzfall völkerrechtswidriger Angriffskriege gegen Serbien also bemüht Goldhagen immer wieder in seinem Buch, um zu betonen, hier sei man bereits 1995 mit dem Nato-Einsatz „Deliberate Force“ nicht etwa zu früh, sondern sogar viel zu spät militärisch eingeschritten. Der ehrgeizige Politologe möchte mit seiner Arbeit, deren Erscheinen mit einem in der ARD gesendeten Dokumentarfilm flankiert wurde, wieder einmal eine internationale Debatte lostreten, wie auch die Buchankündigung des Verlags dröhnend verkündet hat – doch schon das vor der deutschsprachigen Publikation seines Bands im „Spiegel“ publizierte Interview ließ erkennen, dass dies nicht gelingen wird: Die notorisch verstockten Reporter des einflussreichen Hamburger Nachrichtenmagazins empörten sich hier noch einmal ein wenig wegen Goldhagens altbekannter Thesen zur deutschen Schuld am Holocaust, die sie nach wie vor für „falsch“ hielten – reagierten aber ansonsten eher nur ungläubig bis abwinkend auf Goldhagens barsche Forderung, Völkermörder künftig international konsequent mit dem Tod zu bedrohen: „Sie sind Freiwild, sie dürfen ermordet werden.“
Das ist allerdings ein in seiner affektiven Wortwahl tatsächlich bestürzender Satz – und dies vor allem auch für jemanden, der angetreten ist, die Folgen solcher Formulierungen zu bekämpfen, die dann eben meist nicht nur einzelne Täter, sondern erfahrungsgemäß viel mehr Menschen betreffen, die eventuell gar nichts verbrochen haben. Genau dieses risikoreiche und unwägbare Vorgehen fordert Goldhagen jedoch auch in seiner Studie – nämlich relativ umstandlos mit mörderischer Gewalt auf Politiker zu reagieren, wenn sie denn einmal von den demokratischen Staaten dieser Welt als Diktatoren erkannt worden seien, die Genozide planten oder durchführten. Und er plädiert sogar für die noch konsequentere Aussetzung von Kopfgeldern auf solche Täter, da dies insgesamt viel billiger sei als großangelegte militärische Einsätze.
Angesichts der zunehmenden Skepsis, mit der selbst die Deutschen den Bundeswehreinsatz in Afghanistan mittlerweile beäugen, dürfte Goldhagens Votum für unkomplizierte und schnelle Interventionen überall da, wo andere Mittel nicht mehr fruchten und es einen Völkermord zu verhindern gelte, beim hiesigen Publikum nicht unbedingt auf große Begeisterung stoßen. Zu sehr fällt doch bei Goldhagen außerdem die Frage unter den Tisch, wer denn dann zukünftig im Einzelfall genau darüber bestimmen sollte und dürfte, wo ein „Völkermord“ stattfindet und wer als beteiligter Täter gelten solle, den man nun berechtigterweise und ohne große Umschweife ‚eliminieren‘ dürfe. So gesehen hat auch Harald Welzer mit seinem heftigen Goldhagen-Verriss in der „Zeit“ Recht: „Goldhagens Buch ist nicht nur uninformiert, es ist absurd. Sein Vorschlag läuft ja auf das hinaus, was er zu bekämpfen vorgibt: auf eine durch die Staatengemeinschaft nicht legitimierte Praxis der Eliminierung jener, die als Feinde definiert werden. Zur vorgeschlagenen Politik zählt auch die Abschaffung sowohl des staatlichen Gewaltmonopols wie der Feststellung von Schuld durch ein rechtsstaatliches Verfahren. ‚Solange der Krieg gegen die Menschheit andauert, ist das Töten der Täter ein defensiver Akt, der den Teil der Menschheit beschützt und bewahrt, der angegriffen oder unmittelbar gefährdet wird.‘ Das ist ein ungeheuerlicher Satz.“
Der Irakkrieg etwa ging für Goldhagen, wie er in seinem Buch betont, ganz abgesehen von der Lüge der Bush-Administration, das Land verfüge über Massenvernichtungswaffen, aus Prinzip schon in Ordnung, weil Saddam Hussein nach seinem Dafürhalten ein Massenmörder war. Die Frage, ob ganz abgesehen davon der ganze US-Einsatz, der nach wie vor anhält, den Irak in einen unübersichtlichen Bürgerkrieg stürzte und heute tagtäglich weitere zivile Opfer fordert, die mit Husseins Taten rein gar nichts zu tun hatten, trotz der moralischen Begründung Goldhagens nicht doch ein Fehler gewesen sein könnte, tangiert den Autor in seinem Buch kaum.
Differenzierter argumentiert hier etwa der Soziologe Mark Juergensmeyer in seiner Studie über die „Globalisierung religiöser Gewalt. Von christlichen Milizen bis a-Qaida“ (2009). Zwar meint auch Juergensmeyer, dass die islamistische Selbstmordättentäter- und Massenmörder-Kultur weniger durch ein religiöses denn durch ein „politisches Kalkül“ motiviert seien und streicht die besorgniserregende Globalität ihrer Verheerungen heraus. Religiöse Vorstellungen von einem kosmischen Krieg verschärften ihren Konflikt mit der westlichen Welt noch zusätzlich, gerierten sich als allumfassende Weltanschauung und dämonisierten die Gegner als „satanische Kräfte“: „Dieser Absolutismus erschwert es, Kompromisse zu schließen, und impliziert das Versprechen des totalen Sieges durch göttliche Intervention. Ein Heiliger Krieg wird allerdings in einer göttlichen Zeitspanne geführt und muss nicht sofort gewonnen werden. Der Zeithorizont ist riesig und vielleicht sogar unendlich.“
Trotz alledem plädiert Juergensmeyer aber für einen besonneneren Umgang mit der Sachlage, und nicht für weitere Militärschläge, wie sie Goldhagen propagiert: „Trotz dieser wahrhaft apokalyptischen Vision eines weltweiten Konflikts zwischen religiösem und säkularem Nationalismus besteht auch Grund zur Hoffnung.“ Es sei „genauso wahrscheinlich, dass die meisten religiösen Aktivisten […] nicht ohne weiteres in der Lage sind, sich miteinander zu vereinigen“. Außerdem sei klar, „dass sie irgendeine Art von wirtschaftlicher und politischer Verständigung mit der säkularen Welt suchen werden, sobald sie wirklich einflussreiche politische Positionen errungen haben“.
Auch das noch: Geschichtsschreibung mit dem Taschenrechner
Eines der Mankos von Goldhagens Studie ist auch ihre „Geschichtsschreibung mit dem Taschenrechner“, wie sie der Historiker Wolfgang Wippermann in seiner Kritik des „Schwarzbuchs des Kommunismus“ von Stéphane Courtois 1998 anprangerte und gegen die er seinerzeit noch niemand Geringeren als Goldhagen ins Feld führen konnte. Dies geht nun nicht mehr: Denn selbst der Verfasser von „Hitlers willige Vollstrecker“ ergeht sich nun in einer phasenweise nur noch kopflos zu nennenden vergleichenden Auflistung von Genoziden und Body Counts, wobei er manchmal sogar mit den Ziffern durcheinanderkommt und deshalb gleich nur noch von „zigtausenden“ oder „zigmillionen“ Toten spricht. So heißt es einmal in einer haltlosen Übertreibung, die NATO hätte durch ihr verspätetes Eingreifen im zerfallenden Jugoslawien nicht verhindert, dass die dortigen Täter „bereits Millionen Opfer auf dem Gewissen“ gehabt hätten. Zwei Dutzend Seiten später kommt Goldhagen abermals auf das Thema zurück und spricht plötzlich ‚nur‘ noch davon, dass die Serben „Zehntausende Muslime umgebracht, Hunderttausende brutal vertrieben und zahllose Frauen vergewaltigt hätten“. So genau nimmt es der Autor also offenbar – trotz des endlosen Zahlen- und Tabellenbrimboriums, das er in seinem Buch präsentiert – am Ende wohl doch nicht mit den Fakten.
Doch das ist nicht einmal das Hauptproblem. Denn aus solchen Zahlenspielchen resultiert bekanntlich oft das problematische quantitative Ergebnis, dass beim Holocaust lange nicht so viele Menschen umgekommen seien wie zu manch anderer Zeit und an vielen anderen Schauplätzen der Geschichte. Absurderweise versucht sich Goldhagen damit zu behelfen, dass er in seinem Band auch noch das Tempo einzelner Genozide vergleicht, um damit möglichen Protesten gegen eine tendenzielle Relativierung der Shoah zuvorzukommen: „Auch wenn die Deutschen nicht die meisten Menschen umbrachten, waren sie doch die unersättlichsten Mörder unserer Epoche: Sie vernichteten die unterschiedlichsten Opfer und töteten, nachdem sie die wichtigsten für ihre Vernichtungsaktionen vorgesehenen Gebiete erobert hatten, von allen massenmörderischen Regimen im Schnitt die meisten Menschen pro Jahr.“ Dem widerspricht allerdings bereits eine Bemerkung, die Goldhagen in seinem erwähnten Dokumtarfilm macht und die besagt, die Hutu in Ruanda hätten sogar noch effektiver und schneller gemordet als die Deutschen zu Zeiten der Shoah.
Auch wenn Goldhagen also die Einzigartigkeit der NS-Judenvernichtung in seinem Buch hier und da immer noch pflichtschuldig betont, so rückt er darin dennoch die amerikanischen Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki, den sowjetischen Gulag, die Massaker der Roten Khmer in Kambodscha, Milosevics angebliche Massenmorde, ja selbst die chinesische Politik in Tibet und die Vertreibung der Deutschen im Zweiten Weltkrieg wiederholt direkt daneben und widerspricht sich damit unter der Hand selbst. Gerade die Besonderheiten einzelner Genozide wären aber viel genauer zu analysieren gewesen, um einer solchen unweigerlichen geschichtspolitischen Relativierung zu entkommen. Die Schwierigkeit etwa, angesichts des Genozids in Ruanda eindeutig von „Tätern“ und „Opfern“ zu sprechen, wie es Goldhagen in „Hitlers willige Vollstrecker“ im Blick auf ‚die Deutschen‘ tat, erkennt der US-Politologe in seinem neuen Buch nicht. Dass in Ruanda auch Tutsi ihre eigenen Familienmitglieder ermorden konnten, indem sie sich, um selbst zu überleben, erfolgreich als Hutu ausgaben und den massenmordenden Bürgermilizen anschlossen – und dass auch Hutu, die man für Tutsi hielt oder die sich ganz einfach weigerten, sich an dem irrsinnigen Gemetzel zu beteiligen, sofort massakriert werden konnten, widerspricht Goldhagens gebetsmühlenhaft vorgetragener These, solche Mörder wollten immer tun, was sie täten, und sie seien selbstverständlich von der Rechtmäßigkeit ihres Handelns überzeugt.
Bestürzende Ahnungslosigkeit
Obwohl Goldhagen für seine Buchrecherchen und seinen Dokumentarfilm eigens nach Ruanda gereist ist, muss man die offensichtliche Ahnungslosigkeit seiner Thematisierung des dortigen Genozids von 1994 als geradezu bestürzend bezeichnen. So schreibt er bereits zu Beginn seiner Studie, die Auslöschung von „Identitäten“ sei ein zentrales Ziel von Massenmorden, um damit zu verkennen, dass gerade die Konstruktion solcher ethnischer „Identitäten“ in Ruanda zum Völkermord führte – und nicht nur dort. Nicht zuletzt beteiligt sich Goldhagen selbst fleißig an der erneuten pauschalen Zuweisung solcher problematisch gewordener Synekdochen: „Und wir müssen darauf achten, die Täter beim Namen zu nennen; wir sollten keine Angst haben, sie Türken zu nennen, wenn sie Türken sind, Japaner, wenn sie Japaner sind, Deutsche, wenn sie Deutsche sind, Sowjets, wenn sie Sowjets sind, Amerikaner, wenn sie Amerikaner, Serben, wenn sie Serben sind, Hutu, wenn sie Hutu sind, Islamisten, wenn sie Islamisten sind.“
Solche verstörend sinnfreien Aufzählungen, die problemlos durch einen einzigen kurzen Satz hätten ersetzt werden könnten, dehnt Goldhagen in seinem Buch manchmal sogar über Seiten aus, was zur unnötigen Aufblähung des Textumfangs führt und an manchen Stellen die Frage aufkommen lässt, für wie dumm er seine Leser eigentlich hält. Will er ihnen etwa mit dieser ulkigen Gewissenhaftigkeit demonstrieren, wieviele Länder der Erde er dem Namen nach kennt oder wie viele Genozide er ergoogelt hat, indem er sie immer wieder alle gemeinsam auflistet, um irgendeine Feststellung zu verallgemeinern?
Was im Falle von „Hitlers willige Vollstrecker“ durch die Plausibilisierung mittels einer extensiven NS-Quellenanalyse noch zu einer differenzierten Debatte führen konnte, in der sich Goldhagen um die politische Kultur in Deutschland verdient machte, wie Wippermann seinerzeit betonte, wirkt hier nur noch plump und unintellektuell. Schlimmer noch: Dass gerade die pauschale Benennung, die Goldhagen hier unter anderem auch für ‚die Hutu‘ einfordert, 1994 nichts weniger als die zentrale Voraussetzung für den Völkermord an den Menschen war, denen man seinerzeit mehr oder weniger zufällig die unumgängliche ethnische Konstruktion zuwies, „Tutsi“ zu sein, wird in seinem Buch, das vorgibt, definitiv zu erklären, wie Genozide entstehen, überhaupt nicht reflektiert. Der bereits erwähnte Komparatist Robert Stockhammer etwa hat in seinem in der literaturwissenschaftlichen Zeitschrift „Arcadia“ im Jahr 2008 publizierten Aufsatz „Conditions of Identity in Writing or: about a Genocide“ eindrucksvoll dargelegt, wie diese verhängnisvollen Benennungsmechanismen in Ruanda konkret funktionierten – und welche Schlussfolgerungen man auch als Autor, der nachträglich über einen solchen Genozid schreibt, daraus ziehen sollte. Dass Goldhagen nicht einmal das beim Verfassen seiner Schrift getan zu haben scheint, während er nun mit breiter Brust antritt, um darin dem Rest der Welt das Funktionieren von Genoziden zu erklären, damit man sie fortan verhindern lernen könne – das ist wohl das größte Problem seines verunglückten Buchs.
Anmerkung der Redaktion: Eine stark gekürzte Version des Artikels erschien am 24. Oktober 2009 in der „taz“.
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