Ich glaube, jetzt geht’s los

Seit Jahren bringt sich Peter Becher in die deutsch-tschechische Verständigung ein. Mit „Nachtflug“ liegt nicht sein erstes Buch vor, wohl aber sein bisher persönlichstes

Von Volker StrebelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Strebel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Hinter dem Protagonisten dieses Romans, Paul Bergmann, lässt sich unschwer der Autor Peter Becher erkennen. Ein Nachtflug in den USA wird zum Auslöser für Nachtgedanken Paul Bergmanns, eines Mitarbeiters des Goethe-Instituts in New York.

 

Die Beerdigung seines Vaters in Europa hatte ihm weit mehr zu schaffen gemacht, als er sich zunächst eingestehen wollte. Um seine Gedanken zu sammeln, hatte Paul Bergmann beschlossen, eine Woche in Chicago zu verbringen. Die Gedanken aber sind frei, sie lassen sich nicht kanalisieren. Im dämmrigen Halbschlaf unwirklicher Flugzeugatmosphäre entrollen sich Bilder und Szenen längst vergangener Zeiten.

In zehn Kapiteln fügen sich die Erinnerungen des Paul Bergmann und schlagen dabei einen Bogen von frühester Kindheit bis zur Jetzt-Zeit. Dabei bestechen den Leser die präzisen Beobachtungen, die auf Gerüche und Gefühle genauso reagieren wie auf intellektuelle Herausforderungen. Auffällig ist, dass der sensible Wahrnehmungsapparat des Paul Bergmann in allen Lebensaltern funktioniert. Entsprechend dicht ist die Atmosphäre des Erlebten aufgeladen, ob es sich dabei um ein verheerendes Gewitter im Hochgebirge handelt, das der kleine Paul im Schutze der Mutter und der Großmutter in einer Hütte erlebt, oder ob es die unbeschwerten Tage in Paris sind, die der Erstsemestler mit seinem Spezi Gerry erlebt.

Mit Gitarren waren sie losgezogen, unbeschwert und ohne jeglichen Argwohn. Das Leben lag ihnen zu Füßen, der Sommer war geradezu trunken in seiner exotischen Fremdheit. Als sie mit ihren Gitarren auf dem Quai vor dem Pont Neuf spielen, gesellen sich zwei Mädchen dazu, Jacqueline und Marianne. Irgendwann landen sie in der Studentenbude von Michel, dem Cousin eines der Mädchen, der in der Nähe des Boulevard St. Germain haust. Räucherstäbchen, Bücherstapel und der obligatorische „Plattenspieler, auf dem sich Leonard Cohens rauhe Stimme drehte. Susan takes you down to the river…“. Die beiden deutschen Studenten können dort auch übernachten und alles kommt, wie es kommen muss, in jedem Falle aber immer anders, als es zunächst den Anschein hat. Vergessen hat Paul Bergmann diese herrlichen Stunden in Paris jedenfalls nie.

Auf einen Brief von Marianne hatte er später noch geantwortet, aber dann niemals etwas von ihr gehört. Die Lieder von Jacques Dutronc begleiten ihn bis heute: „Paul schaut sich manchmal die alten Fotos an und ist ganz erstaunt, wie jung Marianne und Jacqueline darauf aussehen, weitaus jünger als seine Tochter“.

Neben Jazz und Musik, die das Zauberhafte dieser Welt sichtbar zu machen scheinen, reihen sich Begegnungen mit Frauen in die meisten Erinnerungskapitel ein. In Paris und Südfrankreich, in München, wo Paul studierte, in Berlin oder in Prag. Auch hier überwiegen die völlig unerwarteten Wendungen der Ereignisse.

Pauls Lebensstationen sind nicht gerade von Konventionalität gekennzeichnet, seine intensive Art der Wahrnehmung der Dinge gestattet ihm allerdings auch keine andere Wahl. Lieber beugt er sich selbst zurechtgelegten Riten. Im Kapitel „Herbstfahrt über den See“ wird beschrieben, wie Paul auf dem Ammersee bei München alljährlich im Herbst bewusst mit dem letzten Schiff zum anderen Ufer fährt, „ohne zu wissen, wie er zurückkehren würde. Auch das gehörte zum Ritual, kein Fahrplan durfte studiert, keine Einkehr geplant werden, wie ein Herbstblatt musste man sich treiben lassen, offen für jede Möglichkeit. Einmal war er in eine Geburtstagsfeier hineingeraten, einmal hatte er in einer Scheune übernachtet, einmal im Regen ein Auto angehalten“.

Paul Bergmann ist ein Getriebener, der sich gerne Überraschungen aussetzt, ein Flaneur wachsamer Wahrnehmung, ein Erinnerungskünstler menschlicher Sinne. Derart angereicherte Sätze, treffend und konzise formuliert, lassen die Lektüre zu einem Dahinschnurren geraten.

Eindrucksvoll gelingt dem Autor das Ineinander von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft im Kapitel „Über den Dächern von Dachau“, in welchem die Geburt seiner Tochter beschrieben wird. Kurz vor den Wehen spaziert Paul noch mit seiner hochschwangeren Frau Thea über den Dachauer Waldfriedhof. Er weiß, dass hier sein Onkel begraben liegt, über den in seiner Familie nicht oft geredet worden war. Erst als Erwachsener hatte Paul Genaueres von dessen Schicksal erfahren: „Josef B., Gefangenennummer 638, Verhaftungsgrund Schutzhäftling, Nationalität Sudetendeutsch, Einlieferung 27.11.1938, Entlassung, 30. August 1940“.

Die sudetendeutsche Herkunft von Paul Bergmanns Familie hatte ihm zeitlebens zu Denken gegeben, der verschwiegene antifaschistische Onkel verkörperte dabei das Widersprüchliche an diesem Schicksal. Womöglich waren alle Wege Pauls in der Welt nur gesuchte Auswege. Das von ihm gezeugte neue Leben macht sich unversehens bemerkbar: „Ich glaube, jetzt geht’s los, sagte Thea leise“.

Titelbild

Peter Becher: Nachtflug. Roman.
Verlag Karl Stutz, Passau 2009.
155 Seiten, 16,80 EUR.
ISBN-13: 9783888491399

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