Verwunderungsübung
Peter Sloterdijks erstaunliche Rede über „Streß und Freiheit“
Von Nico Schulte-Ebbert
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDas Staunen in Philosophie und Wissenschaft, so beginnt Peter Sloterdijks Rede, die er am 6. April 2011 im Rahmen der Berliner Reden zur Freiheit gehalten hat, dieses Staunen also, das bei Platon und Aristoteles noch am Anfang der Disziplinen stand, sei verschwunden. Gerade die Sozialwissenschaften seien eine „verwunderungsfreie Zone“, was umso erstaunlicher sei, da sich gerade diese Disziplin mit den Völkern und Gesellschaften befasse, die mit Millionen und Milliarden Menschen funktionieren. „Eine Zivilisation wie die unsere“, so Sloterdijk, „die auf der Integration individualistischer Populationen in riesenhaften politischen Großkörpern beruht, ist eine real existierende Höchstunwahrscheinlichkeit.“
Peter Sloterdijk, geboren 1947, ist Professor für Ästhetik und Philosophie an der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe und lehrt an der Akademie der Bildenden Künste in Wien. Wie kein anderer Denker versteht er es, aktuelle Themen gekonnt zu beschreiben und kreativ zu analysieren, manchmal etwas abstrakt und allzu neologismenlastig, doch im Kern stets präzise und gewinnbringend. Mit „Streß und Freiheit“ – wie in seinen letzten Werken legt der Autor auch in diesem Wert auf die sogenannte ‚alte’ Rechtschreibung – greift Sloterdijk einen Begriff auf, der gerade mit der Wahl Joachim Gaucks zum Bundespräsidenten wieder in aller Munde ist: die Freiheit. Denkt dieser die Freiheit mit Verantwortung, so stellt jener der Freiheit den Stress anbei – eine verblüffende Kombination.
„Streß und Freiheit“ ist ein schmales, doch äußerst interessantes Buch. Der Autor begreift darin Gesellschaften als „selbst-stressierende, permanent nach vorne stürzende Sorgen-Systeme“. Sloterdijks Stil haftet etwas Dekonstruktivistisches an: er vermeidet traditionelle Begriffe und ersetzt diese durch oftmals abschreckende, technizistisch-medizinische Umschreibungen, die allerdings ein völlig neues Licht auf das Alte, das vermeintlich Verstandene und Verständliche werfen und so zum Nachdenken anregen. Sloterdijks Definition einer Nation als „ein Kollektiv, dem es gelingt, gemeinsam Unruhe zu bewahren“, ist in seiner aphoristischen Gestalt ein Beispiel für Nachdenklichkeit, die Hans Blumenberg mit den Worten: „Es bleibt nicht alles so selbstverständlich, wie es war“ bestimmte.
Stress ist nach Sloterdijk der Motor des Kollektivs, der täglich durch die Medien mit „Erregungsvorschlägen“ aufgetankt wird. Doch wie gesellt sich die im Titel seines Buches angegebene Freiheit zum Stress hinzu? Um diesen Zusammenhang zu illustrieren, führt der Autor zwei „Urszenen europäischer Freiheitsgeschichte“ an: Die erste entnimmt er Livius’ „Ab urbe condita“ und erklärt anhand einer Anekdote von der wunderschönen und tugendhaften Lucretia „die Geburt der republikanischen Freiheit aus der kollektiven Empörung“. Über zweitausend Jahre später setzt Sloterdijk die diesem frühen Freiheitsbegriff kontrastierende zweite Urszene an: Er zitiert aus dem Fünften Spaziergang der „Träumereien“ Jean-Jacques Rousseaus, den dieser auf dem Bieler See als Meditation festhielt. Hier stellt sich das moderne Individuum als „neues Subjekt der Freiheit“ vor, das „das Gefühl der puren Existenz erfährt“. Beide Beispiele werden nachvollziehbar erklärt.
Im dritten Kapitel befasst sich der Philosoph mit zwei Formen der Unfreiheit – die politische Unterdrückung und die Bedrückung durch die Realität –, die er als „Varianten von Streßerleben“ kennzeichnet. Je nachdem wie die Stressbilanz ausfalle, käme es zu Revolutionen gegen diese Unfreiheiten, die sich als „Auflehnungsstreß“ äußeren. Sloterdijk bedient sich hier einer äußerst bildreichen Sprache, wenn er von „subjektiver Verstrahlung“ spricht, die vom Rousseauschen „Kernreaktor“ ausgehe, ein buntes Metapherngewebe, das politisch-philosophische Gedanken anschaulicher zu erklären vermag.
Sloterdijks Zeitdiagnosen sind von bestechender – und erstaunlicher! – Pointiertheit. So sieht er im Begriff der Wirklichkeitskonstruktion den Jargon der Bewahrer von Objektivität, mit dem sie die Flucht des „Subjekts aus der gemeinsamen Streß-Wirklichkeit zu verhindern“ suchen. Der Autor fasst im Folgenden unterschiedliche philosophische „Reaktion[en] gegen den „Skandal der Subjektfreisetzung“ zusammen, unter anderem mit den Worten: „Kant hatte den Träumer aus dem Boot geholt und ihn für den Staatsdienst angeworben. Hier erst wandelt sich das Subjekt vom Untertan zum Herrn, vom Liegenden zum Zugrundeliegenden.“
Die heutige Freiheit sei es, so Sloterdijk, die sich mit einem „Willen zum Streß“ verbunden habe und somit negativ konnotiert werde. Das Streben nach Erfolg, nach Reichtum, nach Anerkennung bestimme den modernen Freiheitsbegriff. Dieser „Zwangsbelastung“ zu entgehen und ‚eigentliche’ Freiheit zu erlangen, sei das Thema Samuel Becketts, aus dessen Theaterstück „Eleutheria“ der Philosoph etwas zu ausführlich zitiert, um am Ende den Bogen zu Rousseau zu spannen: „Der Mensch, der liegt, ist der Freiheit näher.“
Im abschließenden Kapitel resümiert Sloterdijk seine Überlegungen und wendet sie auf aktuelle Ereignisse und Zustände an wie etwa die Finanzkrise oder das Freiheitsstreben des sogenannten ‚arabischen Frühlings’. Dieses, wie auch sein Appell an die (liberale) Politik, hätte man sich ausführlicher gewünscht, doch der Rahmen einer Rede über die Freiheit hat dem wohl enge Stress-Grenzen gesetzt.
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