Eine Enzyklopädie des heutigen Dagestans

Alissa Ganijewas Romandebüt „Die russische Mauer“

Von Daniel HenselerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Henseler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die russische Kaukasusrepublik Dagestan liegt am äußersten Rand Europas – und unseres Blickfelds. Seit sich die Situation in Tschetschenien im Verlauf der letzten Jahre einigermaßen beruhigt hat, gilt Dagestan als die gegenwärtig unruhigste Region des Nordkaukasus. Immer wieder kommt es zu Anschlägen und zu Zusammenstößen zwischen der Polizei und islamistischen „Waldbrüdern“. Ansonsten dringen aber nicht allzu viele Nachrichten zu uns vor. Selbst die Olympischen Winterspiele in Sotschi und dessen Umland haben daran nichts geändert – Dagestan liegt ganz am anderen Ende des Kaukasusgebirges. Für eine breitere Öffentlichkeit in Russland verbleibt Dagestan ebenfalls in der Regel im toten Winkel der Wahrnehmung. Auch gebildete Russen assoziieren mit dieser Region meist nur wenig: Allenfalls haben sie von den vielen Sprachen und Ethnien gehört, und ältere Generationen erinnern sich möglicherweise noch an den awarischen Dichter Rassul Gamsatow (1923-2003). Wahrscheinlich erwähnen sie den Fußballklub Anschi Machatschkala, der in der höchsten russischen Liga spielt. Noch am ehesten aber denken die meisten Russen an Extremismus, Terror und an das viele aus Moskau in den Nordkaukasus gepumpte Geld. Verdichtet hat sich dies in der neuerdings oft bemühten Losung „Wir haben den Kaukasus lange genug durchgefüttert!“ Viele Russen möchten folglich den Kaukasus am liebsten von Russland abtrennen und ihn „sich selbst überlassen“. Andere aber halten dagegen: Aus wirtschaftlichen, geopolitischen und imperialistischen Überlegungen heraus betrachten Sie die Kontrolle über den Kaukasus als äußerst wichtig für Russlands Interessen.

An dieser Stelle setzt auch die junge dagestanische Schriftstellerin Alissa Ganijewa mit ihrem Romandebüt „Die russische Mauer“ an. Ganijewa, ethnische Awarin, wurde 1985 in Moskau geboren, verbrachte aber die ersten 17 Lebensjahre in Dagestan – im Gebirge und in der Hauptstadt Machatschkala. Am Moskauer Maxim-Gorki-Literaturinstitut besuchte sie den Studiengang für Literaturkritik. Ihre Rezensionen und Essays widmet sie vor allem dem Werk jüngerer Schriftsteller, die in den 1970er- und 80er-Jahren geboren wurden. Wie Ganijewa in Interviews sagte, fehlte ihrer Ansicht nach in der russischen Literatur jemand, der das heutige Dagestan so beschreibe, wie es wirklich sei. Daher habe sie kurzerhand unter männlichem Pseudonym eine längere Erzählung verfasst und sie 2009 für einen Literaturpreis eingereicht. Erst bei der Preisübergabe wurde der Öffentlichkeit die wahre Identität der Autorin enthüllt. In „Salam, Dalgat!“ (deutsch in „Das schönste Proletariat der Welt. Junge Erzähler aus Russland“) beschreibt Ganijewa den jungen Dagestaner Dalgat, der durch Machatschakala schlendert und als eine Art Beobachter alles aufsaugt, was um ihn herum geschieht. Damit gelingt Ganijewa eine naturalistische und ungeschönte Darstellung der dagestanischen Wirklichkeit.

In „Die russische Mauer“ hat Alissa Ganijewa dieses Projekt wieder aufgenommen. Schamil, Hauptfigur des Romans, hat manches mit Dalgat gemein. Auch Schamil wandert durch das heutige Dagestan und beobachtet das alltägliche Geschehen. Das größere Format des Romans erlaubt es der Autorin nun allerdings, die Perspektive in verschiedener Hinsicht auszuweiten: Nicht allein die Hauptstadt Machatschkala wird hier porträtiert, sondern auch das gebirgige Hinterland mit seinen Dörfern, Landschaften und Bewohnern gerät in den Blick. Vor allem aber schildert Ganijewa die in Dagestan heute wirkenden Kräfte und Einflüsse: die verschiedenen ethnischen Gruppen, die in der Verwaltung nach einem Proporz berücksichtigt werden müssen, sowie ihre jeweiligen politischen Projekte. Ganijewa zeigt auch die engen Familienbande in der Gesellschaft auf und entwirft Dutzende von Figuren. Die einen werden über den ganzen Roman hinweg verfolgt, andere nur kurz erwähnt. Hier mag man als Leser bisweilen den Überblick verlieren. Aber die große Menge der Figuren ist zweifellos ein wichtiger Teil von Ganijewas Vorhaben, das sie mit diesem Roman verfolgt. Auch die Korruption, etwa im Bildungswesen oder bei der Vergabe von Arbeitsstellen, wird geschildert. Ganijewas Augenmerk gilt ebenso den religiösen Strömungen: Da ist zum einen der wachsende Einfluss der Salafiten (der „Bärtigen“) – auch Schamils Braut Madina gerät in die Fänge der Radikalen. Viele Dagestaner fassen den Salafismus jedoch als saudischen Import auf. Zum anderen sind da die Vertreter eines gemäßigten, traditionellen kaukasischen Islams (Sufismus), der nach Ganijewa aber ebenfalls nicht frei von Heuchelei ist. In diesem sozio-religiösen Geflecht versuchen vor allem die jungen Menschen ihr Leben zu leben – zwischen Islamismus und Tradition, zwischen westlicher und östlicher Globalisierung.

Eine eigentliche Handlungslinie gibt es im Roman nicht. Neben Schamils Erkundung der dagestantischen Wirklichkeit, die wie eine Art Klammer wirkt, wird der Text aber dennoch von einer Entwicklung geprägt: Man munkelt, die Russen hätten begonnen, den Kaukasus durch einen langen Wall vom russischen Kernland abzutrennen. Die Gerüchte bewahrheiten sich schließlich, und Dagestan gleitet in die Katastrophe ab.

Was aber leistet dieses Buch? Zunächst einmal kann man den Roman soziologisch und ethnografisch lesen. Man kann ihn als eine realistische, ja naturalistische Enzyklopädie des zeitgenössischen Dagestans auffassen. Wie in einem breit angelegten Gewebe werden die in Gesellschaft und Politik herrschenden unterschiedlichen Strömungen und Ansichten miteinander verknüpft. Dabei dürfte es Ganijewa auch um Aufklärung in der russischen Öffentlichkeit gehen. Die Autorin zeigt Dagestan, wie es ihrer Ansicht nach wirklich ist. Obwohl man den Roman mit Blick auf den Mauerbau auch als Antiutopie, Fantasy oder alternative history lesen könnte, scheint Ganijewa vielmehr in eine andere Richtung zu weisen: Die hypothetische Mauer zur Abtrennung des Kaukasus von Russland ist eher ein Kunstgriff – ein Verfahren, das bereits bestehende Tendenzen in Dagestan nicht auslöst, sondern sie lediglich akzentuiert und auf die Spitze treibt. Die Autorin nimmt in ihrem Buch nicht Stellung – allzu facettenreich und widersprüchlich ist ihr Bild von Dagestan. Sie ist um Objektivität bemüht. Die Exzesse der dagestanischen Wirklichkeit (Islamismus, Korruption, Terrorismus oder Aberglauben) müssen von den Lesern schon selbst als solche erkannt und gegebenenfalls bewertet werden. Im Roman darf man auch nicht unbedingt klare Entwicklungslinien erwarten, obwohl Schamil während seiner „Wanderungen“ durch Dagestan durchaus seine Erfahrungen macht. Im Großen und Ganzen ändern sich die Dinge nur allmählich und meist im Kleinen – als vorerst kaum wahrnehmbare Verschiebungen im Gefüge des Alltags, deren Folgen zunächst nicht absehbar sind. Als würden sich im Teppich hie und da ein Motiv oder eine Farbe leicht verändern, ohne dass dies das Gesamtbild sogleich beeinflussen würde.

Und was bleibt vom Roman in literarischer Hinsicht? Da wären vor allem die Sprache und der Stil zu nennen. Ganijewa schreibt in einem Russisch, das gleichermaßen zahlreiche Charakteristika der Jugendsprache wie auch viele Dagestanismen enthält. Letztere müssen mithilfe von Fußnoten freilich auch einem russischen Publikum erklärt werden. Christiane Körner hat dies in ihrer deutschen Übersetzung insgesamt schön wiedergegeben. Ganijewa beweist auch Humor, etwa wenn sie sich einen älteren, nostalgisch-romantischen Schriftsteller namens Machmud Tagirowitsch Tagirow ausdenkt und ihm ihre eigenen Juvenilia in Form von Gedichten in der berühmten Onegin-Strophe unterschiebt. Ganijewa selbst kann über diese „Stilübungen“ heute nur noch lachen, aber für Tagirows poetische Ergüsse kommen sie gerade recht.

Im Original trägt der Roman den Titel „Prazdničnaja gora“ (wörtlich etwa: „ Berg der Feste“). Dieser Berg der Feste wird im Roman mehrfach aufgerufen. Es ist ein mythischer Berg, von dem man allerdings nicht weiß, ob er tatsächlich existiert. Dort oben soll so etwas wie ewiger Frieden herrschen. Der Berg kann verschieden interpretiert werden. Vielleicht meint er ein ideales Dagestan – Dagestan bedeutet in den Turksprachen nichts anderes als Bergland! –; vielleicht verweist er aber auch auf ein irdisches oder ein himmlisches Paradies. Bedauerlich ist aber, dass Ganijewa dieses Motiv im Roman nur vage andeutet und dadurch sein Sinnpotenzial kaum ausnutzt. Hier wäre wohl mehr möglich gewesen. So sehr man außerdem nachvollziehen kann, dass in der deutschen Übersetzung ein reißerischer Romantitel gewählt wurde: Die Entscheidung für die „russische Mauer“ und gegen den „Berg der Feste“ schwächt das Sinnpotenzial des letzteren noch zusätzlich. Auch das ist schade. Die Mauer erhält damit in der deutschen Übertragung allzu viel Gewicht. Denn sie verfügt im Roman nicht unbedingt über einen Eigenwert; sie funktioniert viel eher als Katalysator. Nicht die große Politik steht im Zentrum des Romans, sondern das Schicksal der einzelnen Menschen. In der deutschen Übersetzung ist übrigens die eine oder andere kleine Schwäche zu vermerken („Er kam aus seinem Park hervor und sah die Straße herunter“; korrekt wäre „hinunter“, denn die Perspektive ist hier diejenige des Subjekts!).

Die bis auf Alexander Puschkin zurückgehende Literatur in russischer Sprache über den Kaukasus ist traditionell von zwei Elementen geprägt: Sie wurde und wird vor allem von Männern verfasst; und die Autoren selbst stammen meist nicht aus dem Kaukasus. Auch auf diesem Hintergrund ist Alissa Ganijewas „Die russische Mauer“ bemerkenswert. Hier ist eine Frau am Werk, und sie schreibt von innen heraus und mit der nötigen „landeskundlichen“ Kompetenz.

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Alissa Ganijewa: Die russische Mauer. Roman.
Übersetzt aus dem Russischen von Christiane Körner.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2014.
232 Seiten, 22,95 EUR.
ISBN-13: 9783518424254

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