Die Leiden des jungen italienischen Schriftstellers
Ein Blick auf den italienischen Buchmarkt
Von Francesca Bravi
Es war einmal ein „junger Schriftsteller“ in Italien…
Ein Panorama des aktuellen Literaturbetriebs in Italien müsste eine Vielzahl von wimmelnden Erscheinungen erfassen, die nur schlecht festgehalten werden können. Demzufolge kann hier nur eine grobe Skizzierung vorgenommen werden. Die folgenden Beobachtungen beruhen hauptsächlich auf den Erfahrungen, die ich seit der Entstehung des Projektes leggìIO (http://leggiio.tumblr.com) machen konnte, das 2011 am Romanischen Seminar der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel ins Leben gerufen wurde. Eine junge literarische Stimme aus einem anderen Land erreicht selten das Ausland – und wenn, dann häufig nur über die Medien, vor allem über das Internet. Jedes Jahr wird deshalb ein/e junge/r italienische/r Schriftsteller/in im Juni für eine Lesereise eingeladen. Analysen der aktuellen Situation des Buchmarkts in Italien sind ein wichtiger Bestandteil dieser Lesungen. Die Zahl kleiner Verlage nimmt zu, und es scheint immer einfacher, in das Verlagssystem hineinzukommen. Hinzu kommt eine umstrittene Verlagspolitik in Bezug auf die Debütanten („esordienti“), die dazu beigetragen hat, „junge Autoren“ als eine Art Untergattung zu stigmatisieren und als Produzenten einer bestimmten Ware anzusehen. Die Texte der sogenannten „jungen“ Schriftsteller sprechen aber gegen eine solche Kategorisierung oder lassen sie zumindest problematisch erscheinen.
Die Diskussion um eine „junge Literatur“ ließ sich in den letzten Jahren auf verschiedenen Ebenen verfolgen. Bereits 2009 verkündete Roberto Carnero, Professor für italienische Gegenwartsliteratur an der Universität Mailand, in einem Artikel den Tod des jungen Schriftstellers: „Il giovane scrittore è morto“. Man spricht seit den 1980er Jahren von einer „giovane narrativa“. Ab dem Sommer 1985 beginnen italienische Verlage, junge Schriftsteller auf der Frankfurter Buchmesse vorzustellen. Seitdem sind Literaturkritiker und Verlage aufmerksamer geworden für das Phänomen der jungen italienischen Prosa.
Seit über dreißig Jahren benutzt man also diese Kategorie in der Literaturkritik und in der Verlagswelt. Sicherlich ist diese Bezeichnung auch mit einer Erneuerung in der literarischen Praxis in Verbindung zu bringen, die sich zwischen experimentellem Avantgardismus, andauerndem Realismus und reinem Konsum bewegt. Aber „giovane scrittore” ist in stärkerem Maße als eine kommerzielle denn als eine generationssoziologische Kategorie zu verstehen. Aus diesem Grund existiert für viele die „junge Literatur“ nicht mehr, wie auch die Jugend an sich nach und nach nicht mehr existiere, weil die ganze Existenz, auch die der Erwachsenen, Merkmale übernehme (Flexibilität und Anpassungsfähigkeit zum Beispiel), die früher nur der Jugend zugeschrieben oder abverlangt werden konnten.
Besonders gut lassen sich die neueren literarischen Bewegungen seit je in Anthologien beobachten. Unter den wichtigen Titeln der letzten Jahre wären zu nennen „Under 25. Terzo millennio“, ein 2006 bei Costa & Nolan in Genua erschienener Sammelband. Darin sind zehn Autoren vertreten, die zwischen 1977 und 1984 geboren wurden, drei Frauen und sieben Männer aus verschiedenen Orten Italiens. Diese Anthologie wurde von Pier Vittorio Tondelli herausgegeben und die Auswahl wurde von gleichaltrigen Literaturkritikern getroffen. In den letzten Jahren hat auch der unabhängige Verlag Minimum fax nach dem Vorbild des Granta Magazine oder des New Yorker einige wertvolle Anthologien veröffentlicht: „La qualità dell‘aria“ (2004), „Best off. Il meglio delle riviste letterarie italiane“ (2005 und 2006), „Voi siete qui“ (2007) „Senza corpo“ (2009).
Die neueste Anthologie ist die soeben bei L‘Orma Editore erschienene Sammlung „La terra della prosa. Narratori italiani degli anni Zero (1999–2014)“ [Die Erde der Prosa. Italienische Erzähler der Nullerjahre], die Andrea Cortellessa herausgegeben hat. Darin sind Autoren wie Tommaso Pincio, Paolo Nori, Ugo Cornia, Nicola Lagioia, Christian Raimo, Laura Pugno, Roberto Saviano, Andrea Bajani, Francesco Pecoraro, Gilda Policastro und Emmanuela Carbé u.v.a. vertreten. Diese sehr interessante und repräsentative Auswahl gewährt einen guten Einblick in die Veränderungen und die Vielfalt der italienischen Literatur der letzten fünfzehn Jahren.
Auf Deutsch existiert eine sehr schöne, 2011 im Verlag Klaus Wagenbach Verlag erschienene Anthologie mit dem Titel „A casa nostra. Junge italienische Literatur“ herausgegeben von Paola Gallo und Dalia Oggero. Darin sind Autoren wie Paolo Giordano, Nicola Lagioia, Andrea Bajani, Peppe Fiore, Antonella Lattanzi, Gabriele Pedullà, Paolo Cognetti, Valeria Parrella und Silvia Avallone vertreten. Einige von ihnen sind mittlerweile auch in Deutschland sehr bekannt geworden.
Im August 2010 hat Nicola Lagioia in der Kulturbeilage der Wirtschaftszeitung Il Sole 24 ore ein „Manifesto per autori under 40“ [„Manifest für Autoren unter 40“] veröffentlicht, in dem er einige Überlegungen über Italien und seine U40-Schriftsteller anstellt. Er beschreibt Italien als ein Land der „zweiten Welt“, was sich auch in einer Tendenz zum Realismus in der Literatur und zur Vermischung der Gattungen ausdrücke. Damit berührt er Themen, die bereits in der Diskussion um Roberto Savianos Erfolg oder um den „New Italian Epic“ des Wu Ming-Kollektivs (vgl. den Beitrag von Tobias Gunst in dieser Ausgabe) und in vielen Blogs erörtert wurden und die im „Memorandum 1993–2008“ zusammengefasst sind (online verfügbar und 2009 von Einaudi in der Sammlung „New italian epic“ veröffentlicht).
Lagioia beschließt seinen Text mit der Aufforderung, der Medusa den Spiegel der Sprache vorzuhalten und die schwierige Gegenwart trotz allem zu lieben, um sie erlösen zu können und sich so ein Sprungbrett für die nächsten 40 Jahre zu verschaffen. Das ist als ein kulturelles Experiment der sogenannten Generation TQ (der Abkürzung für „Trenta-Quaranta“, die Dreißig– Vierzigjährigen) – auch bekannt als „Generazione di apprendistato all’irrealtà“ [Generation der Irrealitätslehrlinge] – anzusehen, der sich Schriftsteller und Künstler wie Giuseppe Antonelli, Nicola Lagioia, Giorgio Vasta, Alessandro Grazioli oder Mario Desiati zurechnen ließen, die aber ihre gemeinsamen Aktivitäten wieder eingestellt haben (2013 schloss „aus Trägheit“ deren Blog, in dem alle Manifeste und Namen der Teilnehmer versammelt waren).
Darum ist es also verständlich, dass die jungen italienischen Schriftsteller auf die Bezeichnung „giovani scrittori“ häufig allergisch reagieren. Michela Murgia, die in Deutschland durch ihr erfolgreiches und sehr gelobtes Buch „Accabadora“ (Wagenbach 2009) bekannt geworden ist, äußerte sich diesbezüglich wie folgt: „Es gefällt mir nicht, wenn ich als jung definiert werde. Wenn man älter als 25 ist, sollte man das Recht haben, erwachsen genannt zu werden“ („Non mi piace essere definita giovane: dopo i 25 anni essere chiamati adulti dovrebbe essere un diritto“). Murgias Klage zeugt von der Schwierigkeit, sich einerseits den gängigen Kategorien zu entziehen, andererseits gerade mit diesen Kategorien, deren Inhalt sich im Zeitfluss ständig verändert, umzugehen.
Einige der wichtigsten Stimmen der aktuellen Prosaliteratur sollen nun kurz vorgestellt werden (auch in der italienischen Lyrik sind sehr interessante Bewegungen zu erkennen, aber das wäre ein eigenes Thema). Es sind nur wenige von den vielen bemerkenswerten Autoren, die zwischen der Mitte der Siebziger und Mitte der Achtzigerjahre geboren wurden und die in Deutschland wenig bekannt sind, weil sie noch nicht ins Deutsche übersetzt worden sind.
Stark bleibt der Einfluss der amerikanischen Literatur der Kurzprosa auf Autoren wie Paolo Cognetti (Jahrgang 1978), der eine neue Form der Kurzgeschichte geschaffen und dafür eine eigene, klare Sprache gefunden hat. In seinem „Roman aus Erzählungen“ („romanzo di racconti“) „Sofia si veste sempre di nero“ (minimum fax 2012) gelingt es ihm, das Fragmentarische der einzelnen Erzählungen zu einem Ganzen zusammenzufügen.
Zwischen Kurzprosa und Roman bewegt sich auch Alessio Torino (1975) in seinem „Urbino, Nebraska“ (minimum fax 2013), während „Il caso Vittorio“ [„Der Fall Vittorio“] (minimum fax 2011) von Francesco Pacifico (1977) in der Tradition des Bildungsromans steht. Eine besondere Stellung nimmt der Versroman („romanzo in versi“) „Perciò veniamo bene nelle fotografie“ [„Deswegen sehen wir auf Fotos gut aus“] (isbn 2011) von Francesco Targhetta (1980) ein. Ein 256seitiger Roman, der vollständig in Versen verfasst und in seiner Form wirklich einzigartig ist. Targhetta ist in der Lage, ein großartiges Portrait seiner Generation zu zeichnen, einer Generation von Personen, die voller Idealisten und Angestellten von Call-Centern sind, Doktoranden, die in der Provinz wohnen und große Beobachter der Städte werden.
Cristiano Cavina (1974) hat dagegen eine epische Art und Weise gefunden, um vom Alltag zu erzählen, wie er in „Inutile tentare imprigionare sogni“ [„Es ist zwecklos, Träume einzusperren“] (Marcos y Marcos 2013) unter Beweis stellt. Tausendundeine Nacht ist, wie er sagt, eine sehr schöne Geschichte, aber das Leben seiner Großmutter ist noch schöner.
Man kann bei vielen Autoren eine bewusste Tendenz erkennen, an der Sprache zu arbeiten, was nicht dazu führt, dass diese künstlich wird, sondern zu interessanten Ergebnissen kommt, wie im wunderbaren „Mio salmone domestico“ [„Mein Hauslachs“] (Laterza 2013) von Emmanuela Carbé (1983) [vgl. die Rezension von Laura Schmidt in dieser Ausgabe] oder in „Mandami tanta vita“ [„Schicke mir ganz viel Leben“] (Feltrinelli 2013) von Paolo di Paolo (1983). In der wundervollen Prosa von Chiara Valerio (1979) in „Almanacco del giorno prima“ [„Almanach des Tags davor“] (Einaudi 2014) verbindet sich die Sprache mit der Mathematik. Besonders bemerkenswert wegen des ausgewählten Themas ist „Come fossi solo“ [„Als ob ich alleine wäre“] (Giunti 2013) von Marco Magini (1985), das sich mit dem Massaker von Srebrenica während des Jugoslawienkriegs beschäftigt.
Im Bereich Post-Fantasy ist „Terra ignota“ (2013) zu nennen, der Teil einer Trilogie von Vanni Santoni (1978) ist. Vanni Santoni hat außerdem mit Gregorio Magini (1980) die sogenannte SIC-Methode erfunden (SIC steht für „Scrittura Industriale Collettiva“ – kollektives industrielles Schreiben). Nach diesem Prinzip ist der Roman „In territorio nemico“ [„In feindlichem Gebiet“] (minimum fax, 2013) entstanden, ein kollektiver Roman, der von 115 Personen geschrieben wurde.
Es ist interessant zu beobachten, wie einige dieser Autoren gleichzeitig bei kleineren Verlagen für Reihen zuständig werden, in denen speziell Debütromane erscheinen, wie Santoni im Verlag Tuné oder Chiara Valerio bei Nottetempo.
Eine weitere interessante Tendenz, die hier nur kurz angedeutet werden kann ist auch in Italien die der Graphic Novel. Unter den Finalisten des angesehenen Literaturpreises Premio Strega 2014 ist zum Beispiel auch die Graphic Novel von Gipi „unastoria“ zu finden. Italien hat eine lange und reiche Tradition von Illustratoren und Comiczeichnern, die teilweise nur in der Arbeit an illustrierten Romanen Erfolg haben. Sehr lesens- und sehenswert sind zum Beispiel die Bände von Alessandro Baronciani (1974) und Zerocalcare (1983). Selbst wenn einige das bezweifeln, bleiben Literaturpreise (wie der Premio Strega, Premio Campiello, Premio Calvino, Premio Bagutta, Premio Viareggio, um nur wenige zu nennen) gute Indikatoren und Verbreiter von Literatur jenseits der Generationen.
Die Orte der Literatur haben sich in den letzten Jahrzehnten gründlich verändert. Man denke an die vielen Möglichkeiten, die das Internet zur Verfügung stellt durch Blogs oder andere Phänomene wie das Self-publishing. Der staatliche Fernsehsender Rai3 zeigte außerdem eine Castingshow für literarische Nachwuchstalente namens „Masterpiece“ mit einer Jury, die sich aus dem Bestseller-Autor Andrea de Carlo, dem Richter und Krimi-Autor Giancarlo de Cataldo und der britischen Schriftstellerin Taiye Selasi zusammensetzte.
Immer häufiger werden Texte, die man in Blogs finden kann, zu Büchern (wie im Fall von Roberto Savianos auch in Deutschland äußerst erfolgreichen „Gomorra“, dessen ersten Texte im Blog „Nazione indiana“ erschienen sind). Man spricht auch viel über Literatur in Zusammenhang mit den Social Media (die sogenannte „letteratura social“), die schon mutiges Experimentieren als „twitteratura“ erlebt hat.
Aber für wen schreiben diese Autoren? Die Zahlen der Statistiken zur Literatur „L‘Italia dei Libri 2011–2013“ (Nielsen) vom März 2014 teilen mit, dass die Zahl der Leser kontinuierlich abnimmt (von 49% auf 43% Prozent in zwei Jahren) und die Anzahl der Personen, die Bücher kaufen ist ebenfalls gesunken (von 44% auf 37%). Das lässt sich vielleicht auch mit der Wirtschaftskrise erklären. Die Zahl der Leser, die Bibliotheken nutzen oder Ebooks lesen, nimmt hingegen zu (+17%). Diese Zahlen sollten mit Vorsicht gebraucht werden. Viel mehr müsste man auf die Zukunft der Buchwelt gespannt sein, gerade, wenn man so viele gute Bücher von jungen Schriftstellern liest. Die Weigerung vieler Autoren, in kommerziellen Kategorien zu denken und das Buch als Konsumware anzusehen, zeugt von einem ausgeprägten Selbstbewusstsein. Es ist noch viel zu entdecken.
Die junge italienische Literatur ist nie lebendiger gewesen!
Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz