Zwischen Rassendiskurs, Fragmentaritäts- und Liminalitätsdenken

Reinhard Blänkners Sammelband widmet sich Kleists „Verlobung in St. Domingo“

Von Anton Philipp KnittelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anton Philipp Knittel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

War die Literatur zum Grenzgänger Heinrich von Kleist schon seit Jahrzehnten schier unüberschaubar, so hat das Gedenkjahr zu Kleists 200. Todestag 2011 noch für einen weiteren Schub gesorgt und nicht nur mehrere gewichtige und Maßstäbe setzende Biografien hervorgebracht – genannt seien nur die von Günter Blamberger, Peter Michalzik oder Hans Joachim Kreutzer –, sondern auch eine Reihe von Spezialuntersuchungen, Tagungs- und Aufsatzbänden.

Kleists 1811 zunächst in den Zeitschriften „Der Freimüthige“ (Berlin, 25. März bis 5. April) und „Der Sammler“ (Wien, 2. bis 10. Juli) unter dem Titel „Die Verlobung“ erschienene Novelle „Die Verlobung in St. Domingo“ – erst die August 1811 im zweiten Band der Erzählungen publizierte Buchfassung nimmt die Ortsangabe in den Titel auf – gehörte in der Tat, wie der Herausgeber des Sammelbandes „Heinrich von Kleists Novelle ‚Die Verlobung in St. Domingo‘. Literatur und Politik im globalen Kontext um 1800“, Reinhard Blänkner, feststellt, lange Zeit nicht unbedingt zu den meistuntersuchten Texten der Kleist-Forschung. „Marginal“ war „Die Verlobung“ dennoch nicht, auch wenn sie in jüngeren Überblickswerken – sei es in den oben genannten Biografien oder in den Texten von Jens Bisky oder Gerhard Schulz eher randständig behandelt wird, wie Blänkner moniert. Zwar trifft es zu, dass die „Novelle seit etwa eineinhalb Jahrzehnten in den geschlechtergeschichtlichen, dekonstruktivistischen und postkolonialen Strömungen der Literaturwissenschaft“ vermehrt beachtet wird. Es sollte aber – ohne die damaligen Kontroversen nachzuzeichnen – auch erwähnt werden, dass dieses nicht zuletzt dank der BKA- und der DKV-Kleist-Editionen und der sie begleitenden Beiträge der Fall ist: Roland Reuß etwa las 1988 „Die Verlobung“ paradigmatisch als Text für Kleists Kommunikation, sowohl innerhalb der Erzählung als auch mit Blick auf den Leser.

Die elf Beiträge des Bandes gehen auf eine Tagung an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) zurück. Ihre Stoßrichtung verdeutlicht der Untertitel: „Literatur und Politik im globalen Kontext um 1800“. Unter dieser Fragestellung schärft Blänkner in seiner Einführung den Blick dahingehend, dass er in der „Verlobung“ die Summe der Leitmotive des Kleistʼschen Œuvres verdichtet findet: „Gewalt, Vertrauen, Liebe, Uneindeutigkeit, Verstrickung, Tod, Möglichkeitsbedingungen des Wissens der Welt und nicht zuletzt das ästhetische Problem der Darstellbarkeit“. Es führe, so Blänkner, weder „Kleists Schwarz-Weiß-Rassenthematik metaphorologisch“ aufzulösen noch via „Sklavenproblematik“ eine „Kritik an den Gutsherrschaftsverhältnissen in Preußen“ seiner Zeit zu sehen, weiter, sondern unter „postkolonialem“ Blick gehe es um „die Uneindeutigkeit existentieller Situationen und (die) Hybridität sozio-kultureller Lagen“. So gesehen verhandle die „Verlobung“ auch die Frage der Ästhetik um 1800: „In welchem Style wollen wir schreiben?“

Die „Haitianische Revolution im atlantischen Kontext“ untersucht David P. Geggus. Als „Triebfeder des Atlantikhandels“ ist die Schaffung Haitis im Atlantikraum beispielgebend: Saint Domingue ist zum einen typisch für das „Ungleichgewicht zwischen Sklaven und Freien“ in den Karibik-Kolonien und zum anderen hat sie „die drittgrößte Sklavenpopulation“ Amerikas. Die Revolution in Haiti zähle nicht zuletzt aufgrund ihrer wichtigen Errungenschaften – „Befreiung der Sklaven, Aufhebung der Rassendiskriminierung, Vertretung der Kolonie im Parlament und schließlich die Eigenstaatlichkeit“ – zu den „wichtigsten Revolutionen der Weltgeschichte“.

Während Klaus Weber anhand einiger Werke des kubanischen Schriftstellers Alejo Carpentier in seinem Aufsatz darauf verweist, dass die Schweiz – besonders in den 1870er- und 80er-Jahren – durchaus enge Beziehungen in die Karibik hatte, demnach die Schweizer Folie in der „Verlobung“ auf reale Kontexte Bezug nehme, liest Barbara Gribnitz die Novelle vor dem Hintergrund des Rassen- und Geschlechterdiskurses um 1800. Basierend auf den Ergebnissen ihrer Dissertation kommt sie im Aufsatz zum Schluss, dass die Erzählung, in der Überlagerung von Geschlechter- und Rassendiskurs um 1800 sowie im Kontext, etwa von Theodor Körners Drama „Toni“, einerseits so singulär nicht ist, andererseits jedoch in der Inszenierung ihrer eigenen Verunsicherung typisch für Kleist ist.

Im Anschluss an einen Lektüre-Vorschlag Gerhard Neumanns, der Kleists „Verlobung“ als Inszenierung eines „Kognitionsmodells“ versteht, untersucht Birgit Mara Kaiser in ihrem Beitrag „haitianische Untertöne“ in der „Verlobung“ und Melvilles „Benito Cereno“. Im einen wie im anderen Text gehe es um „Inszenierungen von Wahrnehmungsprozessen, welche auch gleichzeitig Experimente mit den Wahrnehmungsmustern der Leser sind.“

Iwan-Michelangelo D’Aprile beleuchtet in seinem Aufsatz die Haitianische Revolution um 1800 als ein „Medienereignis ersten Ranges“ – auch in den deutschen Staaten. Insbesondere die Texte des „preußischen Lateinamerika-Experten“ Friedrich Buchholz analysieren geopolitische und ökonomische Hintergründe der Revolution und lassen sich wie auch „Die Verlobung“ als „alternative Antworten auf den Globalisierungsdiskurs um 1800“ lesen, indem sie nationalistische Wendungen nicht mitmachen.

Birthe Kristina Büttners Analyse gilt den zahlreichen Einflüssen von Kleists Schweizer Zeit (etwa der Stecklikrieg zwischen August und Oktober 1802) auf die Novelle, vor allem der militärisch-politischen Situation in der Schweiz. Ob man allerdings der Autorin folgen soll, wenn sie „Kleists Spiel mit Namen und Bezeichnungen“ auch dahin verlängert, „dass man in der Bezeichnung ‚Schwarze‘ die Ähnlichkeit mit dem Wort ‚Schweiz‘ herausstellt“, erscheint doch sehr fraglich.

Paul-Michael Lützeler untersucht „heilige Vorbilder“ und kommt trotz verschiedener Anklänge Kleists an Viten und Legenden von Heiligen zum Schluss:

Kleists Gestaltung religiöser Anwandlungen verdeutlicht das Ineinander von Immanenz und Transzendenz auf andere Weise. Sein Zugriff ist radikal modern: Er erinnert an das Anthropomorphe religiöser Vorstellungen und lässt gleichzeitig erkennen, wie Tendenzen des Glaubens sich aus existenziellen Krisen entwickeln, die wiederum aus Konflikten der Epoche resultieren.

Der Beitrag von Gregor Thum nimmt die Verflechtung von Politik und Literatur sowie „die Verflüchtigung des historischen Geschehens“ anhand der polnischen Legionen in Saint-Domingue in den Blick und zeigt, dass die polnischen Legionen auf der Karibikinsel zum polnischen Nationalmythos werden konnten.

Ottmar Ettes Aufsatz „Kleist – Karibik – Konvivenz“ geht der Frage nach, inwiefern sich „‚Die Verlobung in St. Domingo‘ als Erprobungsraum künftigen Zusammenlebens“ verstehen lässt. „Zeichen der Täuschung und Verstellung des Sinns“ dominierten die vieldeutige Novelle. In Ettes Perspektivierung wird vor allem das Haus „zum ebenso heimlichen wie unheimlichen zentralen Protagonisten der Erzählung.“ Wie die „Mestize“ auf den „verschiedensten Ebenen eine Bewegungs-Figur“ ist, wird der „Raum des Hauses“ als ein „hochgradig vektorisierter Bewegungsraum“ inszeniert, „in dessen Inselhaftigkeit sich alle historischen, politischen und zwischenmenschlichen Bewegungen durchkreuzen.“

Der den Band abschließende Beitrag von Anselm Haverkamp „Das Marionettentheater von St. Domingo. Geschichte und Politik bei Kleist“ ist ein ebenso kurzer wie dichter Text. Geschichte – so Haverkamps Sicht – überwuchert die Erzählung so sehr, dass das ‚eigentlich zu Erzählende‘ zur Leerstelle wird (wie etwa bei der Marquise). Diese Struktur führt das Marionettentheater theoretisch vor. Haverkamps Ansatz steht in diesem Sinne gewissermaßen als Kronzeuge für den gesamten Aufsatzband: Kleist kann nicht unpolitisch gelesen werden.

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Reinhard Blänkner: Heinrich von Kleists Novelle „Die Verlobung in St. Domingo“. Literatur und Politik im globalen Kontext um 1800.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2012.
234 Seiten, 29,80 EUR.
ISBN-13: 9783826049385

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