Das Königreich des Grauens

Jonathan Littell führt den Leser in „Eine alte Geschichte“ durch ein ebenso unheimliches wie schreckliches Labyrinth

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Berühmt wurde Jonathan Littell mit seinem kontrovers diskutierten Mammut-Werk Die Wohlgesinnten, einem langen Epos über die Gräuel der SS während des Zweiten Weltkriegs. Wesentlich weniger verbreitet ist die Tatsache, dass der amerikanisch-französische Autor in den vergangenen Jahren die kleine Form favorisiert hat; zuletzt hat er drei Novellen veröffentlicht, deren Umfang sich je bei etwa 50 bis 120 Seiten bewegt. Eine alte Geschichte, im französischen Original bereits 2012 erschienen, ist der letzte Teil einer Trilogie der menschlichen Abgründe, und es ist, soviel sei gesagt, der surrealste und schockierendste zugleich. 

Anders als im Fall von Die Wohlgesinnten oder seiner ebenfalls breit rezipierten Reportage Homs strebt Littell in seinen Novellen Erzählern wie Franz Kafka oder Samuel Beckett nach. Den größten Einfluss auf Eine alte Geschichte allerdings übt der amerikanische Regisseur David Lynch aus, und hier vor allem dessen Film Inland Empire. Mehr noch: Fast scheint es, als habe Littell den Versuch unternommen, eine gleichsam literarische wie pornographische Version von Lynchs surrealer Geschichte über eine Schauspielerin zu erschaffen, die sich in einem Labyrinth aus realistischen Versatzstücken und mehreren kinematographischer Fiktionen verliert.

Beide Teile der Novelle beginnen und enden in einem Schwimmbad: Am Anfang taucht der namenlose Protagonist aus dem Wasser, begibt sich aus dem Becken in einen dunklen Gang und ist plötzlich in seinem Haus bei seiner Bilderbuchfamilie. Nach dem Sex mit seiner Frau begibt er sich wieder in den Gang, der ihn zu seiner Geliebten führt, die ihn mit einem Dildo befriedigt. Dann führt ihn der Gang zu einer Transvestiten-Orgie, schließlich zu einer blutrünstigen Schlacht, bei der er der oberste Feldherr ist, schließlich landet er wieder im Schwimmbad und taucht unter Wasser. Im zweiten Teil, mehr sei nicht verraten, wird er den gleichen Weg gehen, doch die Welt um ihn herum hat sich radikal gewandelt.

Littells Protagonist ist sich zu keinem Zeitpunkt der Novelle bewusst, warum er sich an den jeweiligen Orten befindet. In dem mysteriösen dunklen Gang lässt er sich treiben und an den jeweiligen Zielorten nimmt er ohne darüber zu reflektieren die Rollen an, die ihm offeriert werden, egal, wie brutal oder erniedrigend diese auch sein mögen. Es gibt jedoch Leitmotive, die immer wieder auftauchen, und über die der Leser versuchen könnte, das Puzzle zusammenzufügen: Eine überlastete Stromleitung, für die der Protagonist immer wieder verantwortlich gemacht wird. Dildos. Eine rotblonde Frau. Passiver Analverkehr in allen denkbaren Varianten. Schließlich der kleine Junge, der immer wieder verloren vor dem Protagonisten auftaucht.Auch in Lynchs Film Inland Empire gleitet die Protagonistin durch dunkle Gänge, die sie immer wieder an Orte führen, die sich erst auf den zweiten Blick als Filmkulissen herausstellen und an denen sie immer wieder die gleichen Geschichten erlebt. Es scheint, als ob auch Lost Highway, ebenfalls ein Film von Lynchs, Pate gestanden habe, in dem eine Geschichte vom mutmaßlich gleichen Protagonisten aus zwei verschiedenen Perspektiven durchlitten wird.

Einerseits bedient sich Littell so stark bei dem amerikanischen Regisseur, dass es schwer fällt Eine alte Geschichte als originell zu bezeichnen. Andererseits ist das Buch hoch spannend und bewegend zugleich, trotz der teilweise übertrieben expliziten Beschreibung sexueller Devianzen. Ein surrealer Nervenkitzel, könnte man etwas reißerisch feststellen, der viel Raum für Interpretationen lässt.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Jonathan Littell: Eine alte Geschichte.
Übersetzt aus dem Französischen von Hainer Kober.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2016.
127 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783957572318

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