Phantasien der Wiederholung

Pierre Bourdieus Kultursoziologie des literarischen Feldes

Von Michael AnselRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Ansel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Man traut seinen Augen nicht, wenn man Bourdieus zuerst 1992 erschienenes Buch aufschlägt: "Die Zahl derer, die der Soziologie jeden entweihenden Kontakt zum Kunstwerk verbieten, ist nicht mehr zu zählen." Kann es sein - so denkt man unwillkürlich -, daß sich Bourdieu absichtlich die falschen Gesprächspartner ausgesucht hat? Ist ihm die große Zahl sozialgeschichtlicher und literatursoziologischer Forschungsansätze in der Literaturwissenschaft der letzten Jahrzehnte vielleicht deshalb entgangen, damit er die von ihm geliebte Rolle des soziologischen Aufklärers desto leichter spielen kann? Bourdieu will uns allen Ernstes einreden, daß sich die Einsicht, daß ein Kunstwerk nicht durch ontologische Qualitäten, sondern durch gesellschaftlich vermittelte Zuschreibungen bestimmt wird, dank der Propaganda einer unheiligen Allianz von eigennützigen Philosophen, Künstlern und Kunstkritikern immer noch nicht definitiv durchsetzen konnte.

Bourdieus seinerseits interessengeleiteter Versuch, sich zum Verkünder der längst überfälligen soziologischen Wahrheit über die Kunst zu stilisieren, ist um so ärgerlicher, als sein Buch inhaltlich nichts Neues bietet. Es besteht im wesentlichen aus einer Zusammenstellung von kunst- und literatursoziologischen Arbeiten, die Bourdieu seit etwa der Mitte der 60er Jahre zum Teil schon mehrmals vorgelegt und für ihre neuerliche Veröffentlichung nochmals überarbeitet sowie inhaltlich aufeinander abgestimmt hat. Auf den Prolog, der eine Analyse von Flauberts "Erziehung des Herzens" enthält, folgt ein erster, historischer Teil, der die Entstehung eines autonomen literarischen Feldes in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Frankreich schildert und in eine Demonstration der zuvor herausgearbeiteten inversen ökonomischen Logik der kulturellen Produktion anhand von Datenmaterial über französische Verlagshäuser und Galerien der 60er und 70er Jahre des 20. Jahrhunderts einmündet. Daran schließen sich die systematischen Teile 2 und 3 an, welche die relevanten Theoriebausteine von Bourdieus Kultursoziologie vorstellen und sie im Hinblick auf die Produktion und Rezeption von Kunstwerken behandeln. B. arbeitet die spezifische Funktionslogik der internen Strukturen des literarischen Feldes heraus, indem er die dort herrschenden Auseinandersetzungen um das "Monopol der Definition der legitimen kulturellen Produktionsweise", die illusio der in diesen Wettstreit verstrickten Akteure und den Fetisch charakter des Kunstwerkes, das dialektische Verhältnis zwischen den Feldpositionen und den künstlerischen Stellungnahmen und die mit zunehmender zeitlicher Dauer stetig wachsende Reflexivität des Feldes diskutiert. Teil 3 vollzieht die für Bourdieus Soziologie typische Wendung zur Erhellung der Standortgebundenheit wissenschaftlicher Erkenntnisse und widmet sich den von professionellen Kunstexegeten oftmals für unmittelbar evident erachteten, tatsächlich aber historisch bedingten und ebenfalls durch die Gravitationskraft des Feldes erzeugten Kategorien der Kunstwahrnehmung. Da alle diese Elemente von Bourdieus Kultursoziologie mittlerweile bekannt sind und da es im übrigen bereits lesenswerte wissenschaftliche Einführungen und Aufsätze sowohl zu seinem Ansatz im allgemeinen als auch zu seinen Untersuchungen über Kunst und Literatur gibt, können wir uns hier ausführlichere Darlegungen ersparen.

Damit ist aber das letzte Wort über das anzuzeigende Werk keineswegs gesprochen. Vielmehr möchten wir die Tatsache, daß Bourdieus Kultursoziologie nun in übersichtlicher, systematisierter Form vorliegt, zum Anlaß für eine grundsätzliche Überlegung nehmen, die ihren potentiellen Wert für eine ambitionierte sozialgeschichtliche Forschungsarbeit erörtern soll: Bekanntlich haben die methodischen Defizite der traditionellen Sozialgeschichte der 70er und frühen 80er Jahre zum Versuch einer systhemtheoretischen Fundierung dieses Paradigmas geführt. Ebenso bekannt ist aber, daß die Systemtheorie in der Literaturwissenschaft nicht nur umstritten ist, sondern selbst ihren Befürwortern ein gewisses Unbehagen bereitet, weil sie eine sehr komplexe Theorieoption darstellt und zugleich die problematische Eigenschaft besitzt, die von ihr behandelten Untersuchungsgegenstände einer mitunter schablonenhaften Komplexitätsreduktion zu unterziehen. In Anbetracht der nicht immer befriedigend lösbaren Schwierigkeiten, die bei der Anwendung der Systemtheorie auf literaturwissenschaftliche und -historische Aufgabenfelder entstehen, bietet es sich an, Bourdieus Kategorienmatrix als Alternativmodell zu erproben und die an sich legitimen Erkenntnisinteressen der Sozialgeschichte auf ihrer Grundlage zu reformulieren.

Auch Bourdieus Kultursoziologie läßt sich nämlich als übergreifender, integraler Ansatz nutzen, der die Möglichkeit eröffnet, alle Aspekte des literarischen Lebens in sowohl synchroner als auch diachroner Perspektive systematisch miteinander zu verbinden. Obwohl sie natürlich ebenfalls eine von jeder Theorie ausgehende objektmodellierende Kraft ausübt, läßt sich das von ihr bereitgestellte begriffliche Instrumentarium wesentlich unproblematischer als jenes systemtheoretischer Provenienz zur Verfolgung sozialgeschichtlicher Fragestellungen heranziehen. Das hängt nicht nur mit der von vornherein bestehenden Affinität von Bourdieus Soziologie zur kulturwissenschaftlichen Sozialgeschichte, sondern auch mit dem Umstand zusammen, daß Bourdieu den Empiriebezug seiner Kategorien immer wieder betont und in seiner breitgefächerten Forschungen eindrucksvoll unter Beweis gestellt hat. Wegen ihrer Offenheit gegenüber den Untersuchungsobjekten lassen sich die von Bourdieu entwickelten Theoriebausteine sehr gut für die Verfolgung einer Vielzahl von Problemen nutzen, die von der traditionellen Sozialgeschichte nicht befriedigend gelöst werden konnten, und bereichern dieses Paradigma darüber hinaus durch den mit ihnen einhergehenden Import neuer, bislang nicht beachteter Gesichtspunkte. Außerdem trägt Bourdieus Kultursoziologie zur Überwindung des latenten Theoriedefizits jener gegenwärtig weitverbreiteten sozialgeschichtlichen Forschungsarbeit bei, die meist ohne ein elaboriertes methodisches Fundament durchgeführt wird: Bourdieus Ansatz dient als tragfähige Ausgangsbasis für konstruktive methodologische Diskussionen, weil er eine sowohl in konkreten Analysen erprobte als auch reflektierte Matrix erkenntnisleitender Begriffe bereitstellt, auf die man sich zustimmend, aber auch kritisch beziehen kann.

Man fragt sich, weshalb der Begründer eines so anspruchsvollen und instruktiven Theorieangebots sich zu den erwähnten Invektiven gegen vermeintliche Gralshüter der Kunst hat hinreißen lassen. Unser "Si tacuisses" würde Bourdieu wohl mit dem Hinweis kontern, er wolle überhaupt kein Philosoph sein. Aber gerade in der sich in diesem Hinweis bekundenden Aversion liegt vermutlich das eigentliche Motiv seiner Polemik begründet.

Titelbild

Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1999.
580 Seiten, 50,10 EUR.
ISBN-10: 351858264X
ISBN-13: 9783518582640

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