Schnitzlers entscheidendes Unterscheidungskriterium

Oliver Neun sucht Postmodernes in Arthur Schnitzler "Anatol"-Zyklus

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass ein Soziologe sich ein Werk eines Literaten zum Thema seiner Dissertation aussucht, ist eher ungewöhnlich. Oliver Neun hat es getan. Unter dem Titel "Unser postmodernes Fin de siècle" will er am Beispiel von Arthur Schnitzlers "Anatol"-Zyklus zeigen, "daß Themen, die in der gegenwärtigen Zeit unter dem Stichwort Postmoderne diskutiert werden, schon in den Texten der Wiener Moderne behandelt wurden". Das klingt vage und ist nicht unbedingt das, was man eine starke These nennt. Um sie zu belegen, wendet Neun die "Methode der postmodernen Literatursoziologie" an die, wie er erklärt, "die Übereinstimmungen zwischen Merkmalen postmoderner Texte und ihrer postmodernen Umwelt untersucht". Zur "Rückversicherung" dafür, "daß keine der Zeit fremde Theorie an die Epoche herangetragen wird", zieht er zudem "Modelle" Freuds, Nietzsches und Simmels heran.

In den dem Verhältnis von Moderne und Postmoderne gewidmeten Abschnitten findet sich kaum eine - noch so beiläufige - Bemerkung, die nicht durch Zitate anderer Autoren beglaubigt sind, so dass Neuns Arbeit hier fast schon den Eindruck einer Kompilation erwecken könnte. Mag dieser Eindruck auch übertrieben sein, so würde man sich doch mehr eigenständige Thesen und innovative Gedanken wünschen.

Was nun seine konkrete Untersuchung des "Anatol"-Zyklus betrifft, kann man eine solche Klage allerdings nicht führen. Doch ist er auch hier nicht immer überzeugend, dazu formuliert er zu oft zu unbedacht. So etwa, wenn er innerhalb von nur zwei Seiten zunächst von der "Umwertung der Geschlechterrollen" spricht, sodann von der "Umkehrung der traditionellen Geschlechterrollen" und schließlich von der "Annäherung weiblicher und männlicher Verhaltensweisen". Drei offenbar nicht identische Sachverhalte, die jedoch alle die Figuren im "Anatol" kennzeichnen sollen, wobei der Verfasser allerdings nur die "Umkehrung der Geschlechterrollen" anhand eines längeren Abschnitts zu belegen versucht. Es ist dies die Szene, in der sich Anatol im Gefühl männlicher Überlegenheit vorgenommen hat, seiner Geliebten Berta möglichst schonend beizubringen, dass er das Liebesverhältnis beenden will. Berta reagiert jedoch statt wie von Anatol erwartet - und insgeheim offenbar auch erhofft - nicht etwa mit einem hysterischen Anfall sondern mit kaum anders als abgebrüht zu nennender Gelassenheit, hat sie selbst doch den Abend dazu nutzen wollen, ihrerseits mit ihm 'Schluss zu machen'. Hier von einer "Umkehrung der Geschlechterrollen" zu sprechen ist jedoch nicht zutreffend. Zwar handelt Berta nicht gemäß der Erwartungshaltung Anatols und wohl auch entgegen der ihr als Frau zugeschriebenen Rolle; dass sich Anatol jedoch gemäß der 'weiblichen' Rolle an "sentimentalen Gefühlen, nicht an seinem Verstand" orientiert, ist unzutreffend. Seine Reaktion auf Bertas Abgeklärtheit ist vielmehr Ausdruck der Verletzung seines maskulinen Superioritätsanspruchs und somit zwar nicht gerade rational aber doch weit davon entfernt, sentimental zu sein.

Ebenso wenig kann die Rede davon sein, dass "die zu Schnitzlers Zeit exklusive soziale Position Anatols" heute zu "einer universellen" geworden sei. Auch Neun wird kaum im Ernst behaupten wollen, dass sie etwa diejenigen von Prostituierten, Ajatollahs, Konzernchefs, Mönchen, Straßenkindern in Bogota, Selbstmordattentäterinnen, Yuppies oder Obdachtlosen ist.

Als - in weiten Teilen allerdings nicht gerade bahnbrechende - Resultate seiner Arbeit hält Neun fest, dass "[z]entrale Themen der Postmoderne, nämlich Spiel, Ambivalenz, Dezentrierung und die Ablehnung der Historie als Sinnstiftung, auch "zentrale Motive im 'Anatol'-Zyklus" sind, und dass des weiteren eine "direkte Beeinflussung" der postmodernen Theorien durch Nietzsche und Freud sowie "Übereinstimmungen" der Überlegungen Schnitzlers und Nietzsches nachgewiesen werden konnten. Erstaunlicher als diese Erkenntnisse ist da schon Neuns abschließende These, der zufolge Anatols Verhalten "das zwingende Resultat gesellschaftlicher Entwicklung" sei. Erstaunlich, aber kaum überzeugend, klingt sie doch eher nach einem dem Glaubenssatz eines Vulgärmarxisten (der allerdings noch auf die Produktionsverhältnisse als letzte gesellschaftliche Ursache verwiesen hätte), als nach einer von postmodernem Wissen getragenen Erkenntnis.

Überzeugendere Darlegungen hätten vielleicht auch die ungezählten Tippfehler und die stilistischen Holprigkeiten ("Das entscheidende Unterscheidungskriterium war die eigene Selbstbeherrschung") erträglicher gemacht. Jedenfalls hätte das Werk dringend einer korrigierenden und lektorierenden Durchsicht bedurft. So hätte sich zumindest vermeiden lassen, dass "wörtliches Zitat" stehen geblieben ist, wo eben dieses wörtliche Zitat hingehört hätte

Titelbild

Oliver Neun: Unser postmodernes Fin de Siècle. Untersuchungen zu Arthur Schnitzlers "Anatol"-Zyklus.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2004.
268 Seiten, 39,80 EUR.
ISBN-10: 382602690X

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