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Helmut Lethen über Gottfried Benn

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Man kann über Helmut Lethen sagen, was man will, sogar, dass er in Vielem Unrecht gehabt hat. Das hat aber nichts damit zu tun, dass er wohl zu den wirksamsten Autoren seiner Generation und seines Arbeitsbereichs gehört. Dafür hat er zwei Bücher gebraucht, eines über die "Neue Sachlichkeit", das 1970 bei Metzler erschienen ist, und eines, das er "Verhaltenslehren der Kälte" genannt hat und 1994 als Suhrkamp Taschenbuch herausgebracht wurde.

Und nun also Benn. "Benn und seine Zeit" hat Lethen seinen Band im Untertitel genannt, und in der Tat ist dieses Buch eigentlich weniger eine Biografie als ein Zeitporträt, dessen Rahmen einigermaßen von den Benn'schen Lebensdaten gebildet wird. Benn ist Stichwortgeber und bietet als solcher die Möglichkeit, wieder zu einem roten Faden zurückzukehren, der durch den Band führen kann. Lethen setzt seine eigentlichen Eckdaten aber ganz gegen die biografistische Konvention nicht mit Geburt und Tod, sondern mit dem Beginn des Medizinstudiums an der Pépenière in Berlin. Ganze dreieinhalb Seiten widmet Lethen Kindheit und Jugend, und die stehen nicht einmal am Anfang seines Benn-Buches. Statt dessen schreitet er in den zwölf Kapiteln, die seine Studie umfasst, die gesamte Werkbiografie des Autors ab.

Was ihn an Benn interessiert? Seine Doppeldeutigkeit, seine Uneindeutigkeit müsste man besser sagen. Benns Gedichte waren nach 1945 geistiges "Nahrungsmittel", nicht zuletzt weil die "Statischen Gedichte" die Leser in ihrer "Abkehr von der Geschichte" bestärkten. Nach der Hektik der Weimarer Republik und der Katastrophe des "Dritten Reiches" war das Ruhebedürfnis wohl mehr als groß. Die Formel von Benn als "Bannerträger einer konservativen Moderne" zeigt denn auch schon, weshalb es heute immer noch eine nennenswerte Auseinandersetzung mit ihm gibt. Große Lyrik hin oder her, es ist gerade die Tatsache, dass Benn nicht eindeutig ist, dass er ebenso Anziehung ausübt wie Ablehnung hervorruft, die dazu führt, dass er nicht aus dem Bewusstsein der Öffentlichkeit verschwunden ist.

Für Lethen allerdings spielt ein anderer Umstand eine zentrale Rolle: Der literarische und damit - so ist zumindest Lethens basaler Ansatz - habituelle Referenzraum, in dem Benn sich bewegt. Schlagwortartig sind damit zwei, auch in ihrer Qualität unterschiedliche Bezüge gemeint. Benn ist, und das ist gerade in seinem Werk durchgängig bemerkbar, von einer denkwürdigen doppelten Prägung bestimmt, dabei für Lethen weniger von seiner Herkunft als Pfarrersohn denn von seiner medizinischen Ausbildung.

Der zweite Referenzraum wird von zwei großen Autorennamen des 20. Jahrhunderts gebildet, von Ernst Jünger und von Bertolt Brecht. Hier ist es vor allem das doppelte Moment des kalten Blicks - der im Fall Benns von der medizinischen Ausbildung initiiert wird - und der emphatischen Wahrnehmung, die die Fallhöhe des kalten Intellekts beschreibt, die für Lethen signifikant ist.

"Intellektualismus ist die kalte Betrachtung der Erde", schreibt Benn 1934 in seiner Rechtfertigungsschrift, mit der er den Vorwürfen Börries von Münchhausens zu begegnen versucht. Das ist, zumindest wenn man NS-Klischees benutzt, eine ungewöhnliche Äußerung, die ihn mit einem Mal zu Brecht, der zu diesem Zeitpunkt bereits im Exil ist, und Jünger, der hier schon auf Distanz zum Nationalsozialismus gegangen ist, in Bezug setzt. Lethen stellt, und das ist er seinen "Verhaltenslehren" schließlich schuldig, solche und vergleichbare Aussagen (z. B. "Das Denken muss kalt sein, sonst wird es familiär") in die intellektuelle Tradition des kalten Blicks, die er mittlerweile bis ins 19. Jahrhundert zurückverfolgt hat - also zu Stendhal, Flaubert, Baudelaire und vor allem Nietzsche.

Nietzsche, schreibt Lethen, sei um 1900 "mimetisch" gelesen worden, man habe ihm einen "Habitus" entnommen, also eine Haltung zur Welt, die es erlauben sollte, mit ihr überhaupt fertig zu werden.

So eben auch Benn. Dass Lethen auch hier (obwohl er bereits für Brecht Gracian-Studien hat nachweisen können) die Tradition der Hoflehren vernachlässigt, ist immerhin zu vermerken, obwohl das den Kern seiner Argumentation nicht berührt. Allerdings ließe sich auf diesem Weg der enge Korpus des intellektuellen Habitus sprengen und das Denkmuster des kalten Blicks auf den gesamten Bereich gesellschaftlicher Bewältigungsformen ausweiten. Eine Möglichkeit, die sich Lethen selber versperrt. Innerhalb des von ihm gesteckten Rahmens aber ist das Ergebnis signifikant, wird das Benn-Bild in seiner ganzen Widersprüchlichkeit erkennbar - wird aber eben auch die Spannbreite seines Werks erkennbar. Benn verbindet, was nicht zusammengehört (so in den "Morgue"-Gedichten), und er trennt, was unteilbar miteinander verbunden ist, er versucht, durch die Maske seiner Gegenwart ins Elementare hindurchzustoßen, verdeckt dabei zugleich aber, wem er diesen Ansatz verdankt. Er schwankt zwischen dem nüchternen Blick des Mediziners, der in der Liebe vor allem den Austausch von Flüssigkeiten zum Zwecke der Fortpflanzung und Ansteckung, in der Schönheit deren Verfall, in der Herrschaft deren animalische Basis sieht, und dem Blick dessen, dem die Realität seiner Gegenwart nicht genügt und der seine Zunftgenossen beschuldigt, es sich in ihrer positivistischen Perspektive heimisch gemacht zu haben. Kein Wunder also, wenn die "Statischen Gedichte" so gut wie nichts mit "Morgue" zu tun haben, ja mehr sogar, eine krasse Gegenposition einnehmen.

Schon in diesen beiden Fällen aber kann sich Benn der Abneigung seiner Zeitgenossen gewiss sein. Ende der zwanziger Jahre gerät er mit den Repräsentanten der Linken, mit Becher und Kisch, aneinander (er ist freilich nicht der einzige Autor, der dem Faschismusverdikt anheimfällt). 1933/34 macht er sich zum Büttel des neuen Regimes, von dem er sich anscheinend mehr verspricht als nur schöne Aufmärsche, bevor er sich dann sehr aristokratisch in die Reichswehr zurückzieht: das Privileg des Militärmediziners. Bei alldem rückt Benn jedoch vom Vorrang der Kunst vor dem Leben nicht ab, und auch nicht von seinen Versuchen, hinter die Kulissen des auch für ihn so unsinnigen und oberflächlichen gesellschaftlichen Lebens zu blicken.

Das Elementare interessiert ihn sein ganzes Leben. Dazu will auf den ersten Blick sein Faible für das Profane und Populäre nicht recht passen, das gerade der späte Benn noch zeigt. Mit seinem Interesse für "journalistische Lyrik" aber - was ihn eigentlich aus dem Bannkreis der E-Literatur ausschließt - verbindet er ein am Ende doch elementares Ziel, die harte und genaue Darstellung seiner Realität. Damit aber sind die Grenzen zwischen dem Populären und dem Elitären aufgehoben, wie Lethen resümiert: "Das 'Denkerische? im Abendland zirkuliert in der gleichen Sphäre wie der Popsong". "Kinder, Kinder."


Titelbild

Helmut Lethen: Der Sound der Väter. Gottfried Benn und seine Zeit.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2006.
318 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-10: 387134544X

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