Heilsleere

Die Gemeinde des Erlösungs-Philosophen Philipp Mainländer huldigt ihren Haus-Heiligen in einem Sammelband

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit nun mehr geraumer Zeit dröhnen einem aus allen Medien Forderungen entgegen, doch bitteschön Kinder in die Welt zu setzen. Je mehr, desto besser. Unfug, hätte der Offenbacher Erlösungs-Philosoph Philipp Mainländer schon für anderthalb Jahrhunderten geraunzt - oder vielleicht auch nur gegrummelt.

So genau kann man das nicht sagen, ist doch über sein Temperament eher wenig bekannt. Genau bekannt sind hingegen seine Argumente gegen das Übel der Fortpflanzung. Um dem Jammertal des Daseins zu entrinnen, genüge es nicht, einfach möglichst rasch zu sterben. Notwendige Bedingung sei vielmehr, dass man keine Nachkommen hinterlasse, da man andernfalls in seinen Kindern fortleben werde. Die einzige Möglichkeit, dies zu verhindern, sah der offenbar nicht eben mit einer ausschweifenden sexuellen Fantasie gesegnete Schopenhauer-Schüler darin, sich aus "den Klauen des Geschlechtstriebes" zu befreien und enthaltsam zu leben. (In aller Ausführlichkeit ist Mainländers Argumentation in einer vierbändigen Werkausgabe (1996-1999) nachzulesen.)

Vielen werden Mainländers Ausführungen zu esoterisch anmuten, um sich von ihnen überzeugen zu lassen. Nun muss man deshalb allerdings nicht kopflos der Kinderpropaganda heutiger BevölkerungspolitikerInnen Folge leisten, liegen doch weit zeitgemäßere und auch bessere Gründe auf der Hand, nicht ins Elterndasein zu treten, die zudem nicht einmal welt- und daseinsverneinend sein müssen. Und: Die Finger vom Kinderkriegen zu lassen, hat natürlich nichts damit zu tun, keusch und züchtig zu leben, wie Philipp Mainländer weiland noch meinte.

Mag seine philosophische Erlösungsidee und ihr Begründungszusammenhang Welt-, Daseins- und Zeugungsverneinung manchem allzu sehr dem vorletzten Jahrhundert verhaftet sein, so wollte seine Geburts- und Heimatstadt Offenbach das Gegenteil, nämlich deren hochgradige Aktualität, bewiesen sehen und schrieb im Jahre 2004 einen entsprechenden Essay-Wettbewerb aus.

Die eingereichten Arbeiten sollten den "Gedanken der Erlösung bei Philipp Mainländer und seine Bedeutung für die Gegenwart" darlegen. Inzwischen sind die Preise verteilt und die Siegertexte (1. Preis, 2. Preis, Sonderpreis) zusammen mit ihren Lobpreisungen und weiteren Einreichungen in einem Sammelband veröffentlicht. Herausgegeben hat ihn der Thanatologe Winfried H. Müller-Seyfarth, der sich wie kein anderer um den Fortbestand von Mainländers Philosophie verdient gemacht hat. Wenn er in seiner Laudatio auf Damir Smilijanics Preisschrift "Mainländers Anleitung zum glücklichen Nichtsein", die nicht nur allen anderen den Rang ablief, sondern auch dem Sammelband den Titel stiftete, Mainländers Aktualität darin sieht, dass seine "Beschreibung des idealen Staates" in "unserer Konsum- resp. Anspruchsgesellschaft", in der "alle Not gelindert" sei, ihre "konkrete gegenwärtige Bestätigung" erfahre, könnte man vermuten, dass er sein Domizil an fernen Gestaden irgendwelcher fremder Länder aufgeschlagen hat und nicht mitten in der Bundeshauptstadt residiert. Auch sind seine beiden Befunde nur schwerlich damit in Einklang bringen, dass die Menschen hierzulande "zu Tode gelangweilt" und zugleich von einem "Erlebnisüberschuß" geplagt seien.

Weit realistischer beschreibt da schon Ulrich Horstmann die Lage der Nation: "Massenarbeitslosigkeit, soziale Entsolidarisierung, Bildung nach Kontostand, Kultur wahlweise im Eimer oder aus dem Big-Brother-Container". Überhaupt stellt der leider gerade mal eine Seite umfassende Beitrag des Anthropofugalisten das Glanzlicht des Bandes darstellt - was nicht zuletzt daran liegt, dass der Mann einfach gut schreiben kann.

Kommen wir zu den preisgekrönten Essays, d. h. zuvor wollen wir noch kurz einen Blick in die reichlich spröde Laudatio auf Markus Wirtz, den Träger des Sonderpreises, werfen, dessen Werk Thomas Regehly, seines Zeichens Vorstandsmitglied der Schopenhauer-Gesellschaft und der Internationalen Mainländer-Gesellschaft, als "ein tadelloses, durchaus selbständiges Referat" lobt, das "[s]prachlich und gedanklich [...] eigenständig und einwandfrei formuliert" sei. Wie die kurzen Zitate zu Recht vermuten lassen, eine Laudatio, die sich zumindest über weite Strecken wie die Beurteilung einer studentischen Hausarbeit im Rahmen eines Proseminars liest. Eine Textsorten-Zuordnung, die einem nach der Lektüre von Wirtz' Essay nicht mehr ganz abwegig erscheint. Die Ausführungen des Sonderpreisträgers "[z]ur Anhaltenden und bevorstehenden Radikalität der Philosophie Philipp Mainländers" heben zwar hervor, dass eine "ausgewogene Würdigung" seines "Erlösungsgedankens" "die inhumanen Aspekte des absoluten Pessimismus ebenso wenig übersehen" dürfe wie seine "systematischen Schwächen". Doch widmet er beiden gerade mal acht Zeilen, um schließlich erleichtert aufzuseufzen: "Von einer Erlösung im absoluten Nichts sind wir - aus heutiger, nicht allzu pessimistischer Sicht - zum Glück weit entfernt." Ansonsten kommt er elf Seiten lang kaum einmal darüber hinaus, Mainländer zu referieren.

Wenden wir uns daher geschwind der mit dem 1. Preis ausgezeichneten Arbeit zu. "Anleitung zum glücklichen Nichtsein" hat der Verfasser sie vermutlich vor allem wegen des ähnlich lautenden Titels eines Verkaufsschlagers von Paul Watzlawick genannt. Das sinnlose Oxymoron des glücklichen Nichtseins lässt sich so allerdings nicht rechtfertigen. Ebenso wenig, dass der Autor Philosophie kurzerhand auf jene "populärphilosophische Richtungen" herunterbricht, gegen deren "Tipps zur Lebensgestaltung" sich dann trefflich polemisieren lässt. Bei all dem zeichnet sich Smiljanic mit mal banalen mal fragwürdigen Allgemeinplätze gespicktes Essay selbst nicht gerade durch philosophische Tiefe aus. Hier nur zwei der zahlreichen Plattitüden: "Der moderne Mensch leidet an grenzenloser Selbstüberschätzung, welche ihm zum Verhängnis werden könnte" lautet die eine, und "wer Großes leisten will, muß mit dem Risiko rechnen, an der Größe seines Vorhabens zu scheitern" die andere. Zu den Fragwürdigkeiten gehört seine Behauptung von den "erlebnisverwöhnten Individuen der Gegenwartsgesellschaft", bei denen er vermutlich an die 'Couchpotatoes' denkt, oder seine Rede vom "inszenierte[n] Todesspektakel der Hollywood-Filme, das nur amüsieren soll". Soll mit ihm nicht vielleicht auch Geld in die Kassen der Produzenten gespült werden?

Weiter führt er den Unsinn der Sinnfrage nicht - wie er es verdienen würde - vor, sondern fort, wenn er fragt: "Muß nicht an die Stelle der Lebenskunst eine wesentlich strengere Disziplin treten, die bei der Erörterung von Sinnfragen dem Tod den Vorzug vor dem Leben gibt?" - und ganz mainländerisch den "Sinn der Entwicklung" in ihrer "Aufhebung" findet, sodass sich die Frage aufdränge, ob "es sinnvoll sei, Leben in die Welt zu setzen, wenn es von vorneherein zur Nichtigkeit verurteilt ist". Eine Überlegung, die weder so originell noch so provokant ist, wie der Autor zu meinen scheint, stellte sich der namenlose Protagonist aus Ingeborg Bachmanns Erzählung "Das dreißigste Jahr" doch schon die wesentlich radikalere Frage, warum "sich das Geschlecht nicht sittlich verhalten und ein Ende setzen" solle. Und das vor immerhin fast 50 Jahren.

Apropos radikale Gedanken: Nicht nachzuvollziehen ist die Behauptung, dass Mainländer "den Schopenhauerschen Gedanken der 'Nichtigkeit' des menschlichen Daseins" "am radikalsten" entwickelt habe. Eine Hypothese, die Smiljanic zwar aufstellt, aber nicht durch den Vergleich mit den Philosophemen anderer Schopenhauer-Schüler belegt. Der Versuch eines solchen Nachweises hätte auch nur schief gehen können. Denn was soll an Mainländers "Gedanke der 'Erlösung'", der den schon viel zu vielen religiösen, philosophischen und sakralen Heilslehren nur eine weitere hinzufügt, wenn auch in Form einer Heilsleere; was also soll an ihr radikaler sein als an Julius Bahnsens miserabilistischer Philosophie des fortdauernden ewigen und ubiquitären Leidens ohne die geringste Aussicht im Tod, im Nichts oder an sonst einem gemütlichen Plätzchen Erlösung zu finden. Als Beleg für seine Behauptung der unübertroffenen Radikalität der "Philosophie der Erlösung" führt Smiljanic Mainländers Suizid heran, den er kurzerhand zum "letzte[n] ungeschriebene[n] Kapitel" von Mainländers Hauptwerk erklärt. Als hätten sich nicht schon genug Leute aus mediokren Gründen umgebracht.

Bevor wir uns von Smiljanic ab- und dem Fazit zuwenden, sei noch bemerkt, dass Wortwahl und Formulierungen seine Rekonstruktion der Philosophie Mainländers immer wieder durchbrechen, wenn nicht negieren. So laute Mainländers "Hiobsbotschaft", dass "die gesamte 'Menschheit' [...] dem Tode geweiht" sei. Diese Prognose war wohl kaum die Hiobsbotschaft des Offenbacher Pessimisten, sondern - um im Bilde zu bleiben - sein Evangelium. Auch unterlaufen Smiljanic immer wieder falsche Bilder und schiefe Metaphern. Der von Ulrich Horstmann im "Untier" herbeigewünschte "Abgang der Menschheit" im Inferno etwa wird als "'Urknall' im Kleinformat" metaphorisiert. Nun gilt der Urknall aber gerade nicht als das Ende, sondern als der Anfang allen Seins. Zu den gleichfalls nicht eben seltenen schlampigen Formulierungen gehört, dass "somatisches Leid bis zur Unkenntlichkeit abgeschwächt" werde. Völlig ratlos lassen einen die Ausführungen zur dialektischen Vermittlung von Lust und Unlust: "Die Streichung einer Seite des Gegensatzpaares Lust/Unlust würde diese Dialektik erst recht entfachen: dann würden möglicherweise die geringeren Lüste nicht mehr befriedigen und selbst zu einer Art Unlust werden."

Kommen wir nun aber endlich zum Schluss - sowohl der preisgekrönten Schrift als auch ihrer Kritik. Hat Smiljanic zu Beginn seines Essays noch gegen die Ratgeberphilosophie polemisiert, so stutzt er den Erlösungsphilosophen selbst am Ende auf das Format eines Briefkastenonkels für Lebens- und Sterbenskunst zurecht. Mainländers "'eudämonistischer' Ethik", lautet sein Fazit, könne "nützliche Anregungen für die Gestaltung des Lebens und für den Umgang mit dem Tod entnommen werden". Natürlich ist das nicht abfällig gemeint, sondern soll den Anforderungen der Preisausschreibung Genüge tun, Mainländers gegenwärtige Bedeutung herauszuarbeiten. Grundsätzliche Kritik an Mainländer und seiner Philosophie war angesichts dieser thematischen Vorgabe kaum zu erwarten. Dass man dem Offenbacher Philosophen darum gleich Gott an die Seite stellen muss, scheint denn aber doch etwas übertrieben. Nicht so für Damir Smiljanic. Die Erschaffung der Welt, erklärt er dem Schöpfungsmythos Mainländers folgend, sei für Gott eine "ungeheuer kräftezehrende Tat" gewesen, die ihn "sein Leben gekostet" habe, und erkennt darin eine "Parallele zur erschöpfend-schöpferischen Tat Mainländers, der u. a. die 'Philosophie der Erlösung' entsprungen ist".

Ein etwas kritischerer Blick auf ihren Hausheiligen stünde der - wie sie Offenbachs Oberbürgermeister Gerhard Grandke nicht ganz grundlos nennt - "Mainländer-Gemeinde" durchaus nicht schlecht zu Gesicht. Im vorliegenden Buch ist es allein Daniel Nachtsheim, der sich wirklich kritisch mit Mainländer befasst. Mag sein, dass der Heidelberger Philosophiestudent auch darum - und nicht nur wegen der doch recht beträchtlichen sprachlichen Unebenheiten und argumentativen Schwächen seines durchaus entwicklungsfähigen Ansatzes - bei der Preisverleihung leer ausgegangen ist. Vielleicht darf man für den ersten Band der angekündigten "Mainländer-Studien" weitere kritische Stimmen erwarten. Sowohl die Mainländer-Gemeinde als auch die weitere Rezeption der - durchaus ja gar nicht so uninteressanten - Philosophie ihres Vordenkers könnten davon nur profitieren.


Titelbild

Winfried H. Müller-Seyfarth (Hg.): Anleitung zum glücklichen Nichtsein. Offenbacher Mainländer Essay-Wettbewerb 2005.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2006.
93 Seiten, 14,80 EUR.
ISBN-10: 3826033302

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