Missglückte Laxness-Demontage

Hallgrimúr Helgason schreibt auf zweifelhafte Weise "Vom zweifelhaften Vergnügen, tot zu sein"

Von Friedhelm RathjenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Friedhelm Rathjen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dieser Roman besteht eigentlich aus drei Romanen: einer surrealen Groteske, einem leicht satirischen Einödepos und einem Porträt eines Künstlers als schlechter Mensch. Nicht immer ist recht klar, wo der eine Roman endet und der nächste beginnt, denn Hallgrimúr Helgason hat alle drei Teilromane so verrührt, dass sie einander überlagern. Offenbar soll das Ganze mehr sein als die Summe seiner Teile. Additive Kunst also? Schön wäre es, wenn wir in der Tat von Kunst reden könnten.

Los geht es mit der surrealen Groteske. Ein alter Mann kommt in der Einöde zu sich: "So entstehen die Berge. Mit diesem Satz im Kopf wache ich auf. So und nur so entstehen die Berge." Er weiß nicht, wo er ist, und er weiß nicht, wer er ist. Ein Junge findet ihn, provisorisch wird er auf dem einsamen Hof eines weltflüchtigen Schafbauern einquartiert, und hier versucht der Alte, langsam hinter das Geheimnis seiner Existenz zu kommen. "Ich werde doch nicht tot sein?" Schon nach wenigen Seiten denkt er sich das leichthin, doch erst 150 Seiten später hat er sich umständlich die Erkenntnis erschrieben: "Ich starb im Heim."

Als ihm das bewusst wird, ist der Alte schon wieder zu Kräften gekommen, und er ist auch nicht mehr wirklich alt. Der Gestorbene, der wieder in einem Leben gelandet ist, verjüngt sich von Tag zu Tag, marschiert sozusagen rückwärts durch sein Leben. Oder durch die Leben, die er erfand. Inzwischen weiß er, daß er Einar Grímsson ist, der bedeutendste Schriftsteller seines Landes, der 'Autor Islands' (genau so, "Höfundur Íslands", heißt dieser Roman im Original). Und mit Schrecken stellt er fest: "Ich habe jeden einzelnen Halm in dieser Scheune selbst geschrieben." Einar Grímsson ist in seinem eigenen Roman gelandet und muss mit ansehen, wie Figuren sich mit ihm abgeben, die er selbst geschaffen hat.

"Der Winter ist da. Winter 1952. Ich bin 1912 geboren, und ich bin 88 Jahre alt. So allmählich wird das alles hier richtig komisch." Das alles hier, die Welt, in der Einar gelandet ist, ist das Epos von einem Bauern, der in der Einöde sein eigener Herr ist und sich vortrefflich um seine Schafe, freilich weniger gut um seine Familie kümmert. Hrólfur heißt dieser Bauer, er ist "der ewige Isländer", und dieser Hrólfur, mit dem es weder das Glück noch die neue Zeit gut meint, wird seinen Hof aufgeben und an die Küste in die nächste Metropole ziehen müssen, in eine "912-Seelen-Gemeinde", wo es zu viele Menschen und zu wenig Schafe gibt. Folgerichtig endet sein Leben in einer Tragödie, derweil sein Sohn den Rock'n'roll entdeckt.

Jene Teile des Romans, in denen dieses Bauernepos in den Vordergrund tritt, sind erzählerisch die überzeugendsten. Die Figuren sind klar gezeichnet, freilich voller Widersprüche, an denen sie auf die eine oder andere Weise leiden. Der gelegentlich allzu plumpen Art, in der sie auftreten, gewinnt der geschmeidige, pointierte und immer leicht sarkastische Stil der Erzählung überraschend viele Nuancen ab - und auch einigen Witz, sofern man es witzig findet, Passagen zu lesen wie: "In meiner Jugend brachte es Unglück, einer Frau in den Schritt zu sehen. Das bedeutete nasses Wetter. Blutschauer." Der parodistische Einschlag solcher Stellen ist schwer zu überlesen, besonders dann, wenn Hrólfur als Sinnbild des kauzigen isländischen Bauern beschrieben wird: "Literatur verachtete er, dichtete aber zuweilen für seine Schafe."

Dieser parodistische Zugriff auf den Stoff richtet sich natürlich gegen den Schriftsteller, der diese Welt geschaffen hat: gegen den zusehends sich verjüngenden Einar Grímsson. Sobald das Bauernepos ein wenig in Schwung kommt, schaltet Helgason wieder um auf die Groteske vom nachlebenden Schriftsteller, der er immerhin einige nette Formulierungen abgewinnen kann: "Eine Erektion nach dem Tod hatte allerdings etwas Erbärmliches." Als mitten im Winter eine Kuh muhend vor dem Haus steht, dämmert dem Schreiberling schnell die Ursache: "Ich hatte vergessen, sie in den Stall zu schreiben." Insgesamt verschenkt Helgason aber die Idee vom Autor, der rückwärts durch die selbsterschriebene Welt reist, weil er sie formal zu unentschieden handhabt, nicht konzise auf die ihr inhärente Absurdität zuspitzt und zu sehr als bloße Auflockerungsmethode einsetzt. Als der tote Grímsson einmal mit dem lebendigen Grímsson telefoniert, der er einmal war, wird das Potential dieser Szene nicht entfernt ausgeschöpft, zumal der aufmerksame Leser diese Szene schon Seiten vorher kommen sieht.

Das größte Problem des Einfalls mit dem wiederauferstandenen 'Autor Islands' ist aber, dass Helgason ihn nutzt, um sein Buch zu einem Schlüsselroman und gleichzeitig einem Diskurs über künstlerische Integrität zu machen. Seinen 'Autor Islands' hat er unübersehbar dem Nationaldichter Halldór Laxness nachempfunden; Übersetzer Karl-Ludwig Wetzig verrät uns in einer Nachbemerkung, was der Kenner der Materie ohnehin rasch bemerkt: dass das Bauernepos um Hrólfur an den frühen Laxness-Roman "Sein eigener Herr" (1934) angelehnt ist. Ob die Kenntnis jener Vorlage allerdings "das Lesevergnügen des vorliegenden Romans um eine ganze Sinnebene bereichern" kann, wie Wetzig meint, ist zu bezweifeln.

Wer sich bei Laxness auskennt, ist versucht, ständig zwischen Vorlage und Neubearbeitung zu vergleichen, und dabei kann Helgason nur den Kürzeren ziehen. Zwar ahmt er passagenweise recht geschickt den Laxness-Duktus nach, die Virtuosität der Prosa seines Vorgängers und auch dessen Charakterzeichnung kann er allerdings nicht erreichen. Als Parodie auf Laxness ist Helgasons Neufassung andererseits zu zaghaft und zu langatmig. Zudem unterlegt er seinem Text eine kritische Haltung, deren Zielrichtung verfehlt ist. Helgason kritisiert die Verherrlichung eines idealisierten Bauerntums, aber genau das tat Laxness selbst schon, und zwar nirgends gründlicher als in "Sein eigener Herr", einem Roman, der schildert, wie ein bornierter Held dem Ideal der Unabhängigkeit das Glück seiner Familie opfert. Helgason fällt im Grunde hinter die Kritik, die Laxness an der Idealisierung eines rückständigen Lebensentwurfs übt, sogar zurück: um Hrólfur ernsthaft etwas vorwerfen zu können, lässt er ihn in einer eindringlichen, aber nicht sonderlich plausiblen Szene seine Stieftochter vergewaltigen.

Ein Täter ist aber nicht nur Hrólfur, sondern auch der 'Autor Islands', der tote Einar Grímsson, auch wenn wir lange nicht wissen, warum. Arrogant ist er, das wohl, und nimmt die Figuren seiner Romane wichtiger als seine Mitmenschen: "Eine kleine Fliege in einem Roman hatte mehr Leben in sich als ganze Völker ohne Literatur." Er muss zugeben, einigen Figuren durch die Charakterisierung, die er ihnen mitgab, ein Handicap aufgebürdet zu haben, aber daraus lässt sich ihm schwerlich ein reißfester Strick drehen. Also hängt Helgason ihm schließlich an, aus Feigheit zwei Menschen Stalins Gulag überlassen zu haben ("Was bedeutet schon ein Menschenleben gegen die Literatur?"), wofür er sich mit einer Verteufelung der Moderne rechtfertigt: "Jahrhundert der Überheblichkeit. Jahrhundert des Pöbels. [...] War ich ein schlechter Mensch? Nein, die Zeit war schlecht." Wenn wir Helgasons Roman nur als Roman lesen, bleibt diese stalinistische Verstrickung des Helden ein Fremdkörper, eine bloße Behauptung, die nichts erklärt, weil sie in keinen Zusammenhang mit dem Stoff des Romans zu bringen ist. Außerfiktional erklärt sie sich, weil Laxness ein Vierteljahrhundert auf der Seite des Kommunismus stand - freilich nur außerhalb seiner Literatur; in seinen Romanen war er stets jeglichem Dogmatismus abhold.

Als Schlüsselroman ist "Vom zweifelhaften Vergnügen, tot zu sein" gescheitert, weil der Schlüssel bei jenen Türen, hinter denen es interessant würde, nicht passt. Als autarker Roman hingegen ist er in sich nicht stimmig und zudem "eigentümlich weitschweifig", wie der 'Autor Islands' von seinem eigenen Werk weiß. Dieser 'Autor Islands' bleibt als Figur schemenhaft und überzeugt nicht; um die Figur komplettieren zu können, müssen wir den realen isländischen Nationaldichter dahinterblenden - und wenn wir das tun, überblendet er Helgasons Roman so stark, dass keine Konturen mehr erkennbar sind und alles einer etwas zu grellen Beliebigkeit anheimfällt. Diese drei Romane sind eigentlich gar kein Roman.


Titelbild

Hallgrimur Helgason: Vom zweifelhaften Vergnügen, tot zu sein. Roman.
Übersetzt aus dem Isländischen von Karl L. Wetzig.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2005.
616 Seiten, 24,50 EUR.
ISBN-10: 3608936521

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