Mit Mut und Wut

Jagoda Marinićs feministischer Essay „Sheroes“ empfiehlt sich für Frauen wie für Männer zur Lektüre

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dem US-amerikanischen Meisterphilosophen Richard Rorty zufolge entwickeln Menschen eine ethische Haltung und die entsprechende Praxis nicht etwa, weil sie moralphilosophische Abhandlungen gelesen, sondern „traurige und rührselige Geschichten“ gehört haben. Eine Ansicht, die der Journalistin und Politikwissenschaftlerin Jagoda Marinić nicht ganz fremd sein dürfte. Zwar verwirft sie zur Beförderung der Ethik nicht moraltheoretische Abhandlungen, sondern „abstrakte Argumente“, doch gerade von diesen werden moralphilosophische Abhandlungen getragen. Ihre Auffassung, „persönliche Erzählungen“ seien „der Königsweg zur Empathie“, ist Rortys These sogar noch ähnlicher.

Mit der großen Feministin der ersten Frauenbewegung Hedwig Dohm wiederum teilt sie deren zum Buchtitel aufgestiegene Maxime „Werde, die du bist“. Sie prägt sogar einen Begriff für Frauen, „die einen Kampf hinter sich haben“ und „allen Gewalten zum Trotz, die werden, die sie sind“: Sheroes. Wurde Dohms Devise zum Titel einer ihrer Novellen, so benannte  Marinić einen Essay nach dem Kofferwort. Um eine neue Wortschöpfung der Autorin handelt es sich allerdings nicht. Tatsächlich prangte der Ausdruck schon im Jahr 2004 einmal auf einem Buch von Birgit Richard. Sie untersucht in ihm die Figur der Heldin in Computerspielen. Marinić geht es hingegen darum, „über die Kraft zu sprechen, mit der sich eine Frau ihren Raum nimmt, auch gegenüber Männern“, damit endlich das „Zeitalter der starken Frauen“ anbreche. Allerdings stellt die Autorin klar, dass Männer ebenfalls Sheroes sein können. Überhaupt betont sie, wie wichtig es ist, „auch Männer für den Feminismus begeistern“. Das bedeute allerdings keineswegs, das „Feindbild ‚Patriarchat’ aufgeben“ zu müssen. Denn „nicht jeder Mann ist ein Patriarch oder möchte es sein“.

Bevor näher auf das Buch selbst eingegangen werden kann, muss noch ein weiterer Blick auf dessen Titel geworfen werden, genauer gesagt auf den Untertitel Neue Held*innen braucht das Land. Wer den Gender-Asterisk hineingeschmuggelt hat, bleibt ein Rätsel. Denn Marinić benutzt ihn im gesamten Buch nicht ein einziges Mal, sondern bevorzugt das generische Maskulinum und erklärt ansonsten, sie „respektiere alle laufenden Debatten und Ansätze“ einer „gendergerechten Sprache“.

Nun also zum Inhalt selbst. Der zentrale Bezugspunkt des Essays ist die #MeToo-Kampagne, in der die Autorin „die wichtigste feministische Debatte der letzten Jahrzehnte“ ausmacht. Deutschland allerdings, so moniert sie, sei lediglich ein „Zaungast“ der Debatte geblieben und habe die von #MeToo gebotene „Chance“ verschlafen. Anders als hierzulande oft und gerne behauptet, sei es bei der Initiative nie darum gegangen, „die Frau zum Opfer zu machen oder Männer zu Freiwild“. Das Ziel der Bewegung sei vielmehr, „zu zeigen, wie aus Verletzungen eine Stärke erwachsen kann, die Veränderungen bringt“. In Deutschland aber sehe man im aktiven Entschluss der Frauen, an die Öffentlichkeit zu treten, ein „Verharren in der Opferrolle“. Dabei treten sie gerade aus dieser heraus, indem sie die Angriffe auf sich publik machen. Die Frage, warum die falsche Interpretation gerade in Deutschland so beliebt ist, wird von der Autorin zwar aufgeworfen, aber nicht beantwortet. Sie wäre wahrhaftig einer Untersuchung wert.

Dafür kontert Marinić die maskulinistische Klage, nach #MeToo sei „nichts mehr frei zwischen den Geschlechtern“ mit der zutreffenden Feststellung, dass „das Gegenteil“ richtig ist: „Dort, wo keine Angst vor Missbrauch herrscht, herrscht Freiheit.“ Zugleich sieht die Autorin in #MeToo ein „Gesprächsangebot“, dass Frauen und Männern die „Chance“ eröffne, endlich offen über geschlechtsspezifische Rollenbilder, Erwartungen und Macht zu reden – natürlich mit dem Ziel, diese zu verändern. Dazu beizutragen, dass diese Chance auch hierzulande endlich ergriffen wird, ist das erste Anliegen ihres Essays.

Unterstreicht die Autorin aus guten Gründen die Bedeutung von #MeToo, so wendet sie sich andererseits strikt gegen den „Glamourfeminismus“ und mehr noch gegen den hierzulande unter jungen und nicht mehr ganz so jungen Feministinnen gängigen „Mädchenmodus“, der sich etwa im Namen des feministischen Blogs Mädchenmannschaft oder in Buchtiteln wie Wir Alphamädchen niederschlägt. Auch müsse nicht jede Feministin „Freizeitsoziologin“ sein und „Geschlechterrollen dekonstruieren“. Sie selbst befleißigt sich denn auch keines soziologischen Jargons, sondern schreibt erfreulich klar und für alle verständlich. Dies entspricht ihrem Anliegen, „nach Jahrzehnten akademischer Überzeugungsdiskurse“ einen „direkten Feminismus“ zu propagieren. Als dessen Vertreterinnen nennt sie etwa Maria Gallagher und Ana Maria Archila, jene beiden Frauen, die sich Senator Jeff Flake in einem offenen Aufzug nach der Zeugenaussage von Christine Blasey Ford in der Kavanaugh-Anhörung vorknöpften. Das war natürlich bewundernswert. Doch wie viele – Frauen wie Männer – trauen sich so etwas (zu)? Nun, mit Hilfe solcher ermutigender Beispiele und des vorliegenden Buches werden es hoffentlich immer mehr.

Doch nicht nur Mut, auch Wut ist ein „Modus, in dem man erfolgreich um seine Rechte kämpfen“ kann, stellt Marinić fest. Dies sieht Chimamanda Ngozi Adichie, auf die sich die Autorin in anderem Zusammenhang bezieht, ganz ähnlich, auch wenn sie nicht von Wut, sondern von Zorn spricht. Am erfolgversprechendsten dürfte jedenfalls sein, wenn beide, Mut und Wut – oder auch Zorn –, zusammenkommen und dabei ein klarer Kopf bewahrt wird.

Am Ende der Debatte, die Marinić mit ihrem Buch im Anschluss an #MeToo anstoßen möchte, stehe „ hoffentlich ein Gespräch, in dem etwas klarer wird, welche Kraft Frauen brauchen, damit sie spüren, wie sie für eine Welt kämpfen können, an die sie glauben und in der sie leben wollen“. Sie verknüpft in dem vorliegenden Essay daher individuelles Empowerment von Frauen mit dem Kampf gegen strukturellen Sexismus, sie kämpft darum, „den Arbeitsmarkt und die Arbeitsweise zu revolutionieren“ und für Frauenrechte weltweit, wobei das individuelle Empowerment von Frauen nicht nur diese selbst stärkt, sondern auch für all die anderen Kämpfe eingesetzt werden kann und sollte. Ein Schritt weg von den nicht selten quasi spätscholastischen und gegenüber Andersdenkenden allzu oft intransigent ausgetragenen Glaubens- und Grabenkämpfen in universitären Gender- und Queerdiskursen hin zu einer starken feministischen Politik der Intervention in all diesen Feldern vom Abtreibungsverbot und dem dazugehörigen Maulkorbparagraphen über Gender Pay Gap und Frauenhandel bis hin zu Zwangsheirat und Genitalverstümmlung jedenfalls ist längst überfällig.

Nun heißt es zwar zu Recht: No book is perfect. Und das trifft natürlich auch auf den vorliegenden Essay zu. Doch das trübt die Freude, endlich wieder einmal ein Buch in der Hand zu halten, für das man sich uneingeschränkt stark machen kann, keineswegs. Bitte mehr davon!

Titelbild

Jagoda Marinic: Sheroes. Neue Held*innen braucht das Land.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2019.
128 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-13: 9783103974539

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