Freundschaft als Heimat

In Salih Jamals Roadtrip-Roman „Das perfekte Grau“ finden vier Antihelden gemeinsam den Weg aus der Einsamkeit

Von Christian PalmRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christian Palm

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In seinem wichtigen literaturtheoretischen Werk Palimpsestes. La littérature au second degré (1982) hat Gérard Genette u. a. auf die Bedeutung von ‚Para­textuali­tät‘ für die Literaturanalyse hingewiesen. Da sich Leser und Leserinnen dem eigentlichen Text zunächst über verschiedene paratextuelle Elemente (wie Titel, Unter- und Zwischentitel, Vor- und Nach­worte, Hin­weise an den Leser, Buchu­m­schlä­ge usw.) annähern, ist umso bemerkenswerter, dass Salih Jamal seinen Roadtrip-Roman Das perfekte Grau auf der Titelseite keiner Person, sondern „der Freundschaft gewidmet“ hat. Letztere vergleicht ausgerechnet der deterritorialisierte Flüchtling Rofu später im Buch mit dem Zuhause: „Ein Freund, der fehlt, ist wie ein abgebrochenes Stück Heimat.“ Doch schon vor Beginn der Lektüre erscheint die ungewöhnliche paratextuelle Werkwidmung dem Leser beinahe wie ein zweiter Titel, der das Hauptthema des Romans benennt.

Das marode Küstenhotel in Mecklenburg-Vorpommern, in dem die Geschichte ihren Ausgang nimmt, wird eingeführt als ein Akkumulationspunkt für „Flüchtlinge“ und andere soziale „Ausreißer mit nichts in der Tasche als Sehnsucht“. In diesem alten Seebad treffen vier solche Menschen aufeinander, mit denen es das Leben nicht besonders gut gemeint hat. Der 36-jährige Ich-Erzähler Ante, der seit jeher den (intertextuell codierten) Rufnamen Dante hat, beschreibt sein bisheriges Leben bereits auf den ersten Seiten des Buches bezeichnenderweise „als so ein Inferno – Pleiten, Misserfolg und Schiffbruch.“ Er sieht in sich einen „Flüchtling, der vor sich selbst abhaut, weil er den Alltag nicht ertragen kann.“ Von einer Bindungsangst geplagt, die ihn einst beinahe in den Freitod trieb – hierauf wird noch einzugehen sein –, führt Dante als „Meister im Verlassen“ seit sieben Jahren ein rast- und ruheloses Leben mit wechselnden Jobs an unterschiedlichen Orten. Wenn er – so beginnt das Buch – die rostigen Heizkörper des Hotels mit Farbe überstreicht, scheint er auch seine inneren „Narben aus dieser Zeit“ übertünchen zu wollen.

Der sudanesische Küchengehilfe Rofu, der im Gegensatz zu Dante ein tatsächlicher ‚Flüchtling‘ (im politischen Sinne) ist, trägt „trotz seiner sonnigen Art eine große Last“, die ihm auch sein imposanter Körper nicht zu erleichtern vermag. Sowohl in seinem Herkunftsstaat als auch auf der langen Flucht über Land und Meer hat er wiederholt traumatisierende Erfahrungen gemacht, die ihn bis in die Erzählgegenwart verfolgen. „Flucht“, so lehrt ihn seine eigene Geschichte,

kostet alle Kraft, sie ist ein ständiges, anstrengendes Raufklettern, um dann wieder ein Stück weit herunterzufallen. […] Flucht ist ein ständiges Zerplatzen von Träumen, ein Wechselbad aus Angst vor jedem neuen Aufbruch in etwas Unbekanntes und der Hoffnung, dass es dort nicht mehr so schwer sein wird. […] Flucht ist nichts anderes als das Wort Fluch mit einem Kreuz am Ende, so wie auf euren Friedhöfen.

Auch die schweigsame Engländerin Mimi, die im Hotel „das Mädchen für alles“ ist, und die undurchsichtige „Wundertüte“ Novelle, in deren „Kopf […] fast immer Mitternacht“ ist, wirken auf den Erzähler, „[a]ls ob sie in den ganzen Jahren ihre Koffer nie ausgepackt hätte[n].“ Dass beide Frauen laut Dante wandelbar „wie ein Chamäleon“ sind, liegt in ihren unterschiedlichen, von Gewalt geprägten Familiengeschichten begründet, die im Laufe des Romans enthüllt werden und hier nicht als Spoiler vorweggenommen werden sollen. Als Mimi bei der Ankunft zweier Hotelgäste befürchtet, von ihrer dunklen Vergangenheit eingeholt zu werden, verlassen die vier „gestrandet[en]“ Antihelden das Seebad fluchtartig und nehmen – wenn auch zunächst unbewusst – „einander als Gefährten“ an.

Auf ihrem Roadtrip von der Ostsee über Berlin bis zur deutsch-österreichischen Grenze, dessen Schilderung rund zwei Drittel des Buches ausmacht, finden Dante, Rofu, Novelle und Mimi als enge Freunde zueinander, die sich gegenseitig Halt geben. Die gemeinschaftlichen Erfahrungen unterwegs wecken in ihnen „ein Begehren nach etwas Längerem und Festem. Einer Ankunft in einer Zukunft. In einem Zuhause.“ Insofern wird die Reise durch Deutschland für sie auch zum Ausweg aus der sie einenden „Einsamkeit, die ins Nichts führt.“ Wichtig in diesem Prozess ist die Rolle des Erzählens, die durch metanarrative Einschübe hervorgehoben wird. Indem sich die Figuren gegenseitig ihre Lebensgeschichten erzählen, ihr zerrüttetes Ich in Worte fassen, schaffen sie eine eigene Kontinuität und kommen im Leben persönlich weiter. Dass sie sich selbst erst durch autobiografisches Erzählen besser verstehen können, wird auch in jenem Gedankengang Dantes ersichtlich, der die Farbsymbolik des Romantitels erklärt:

Ich fragte mich, was meine Geschichte den anderen bringen würde. Die eigene Vergangenheit bleibt für Unbeteiligte, und auch zu oft für einen selbst, immer in einem geheimnisvollen Zwielicht. Denn zwischen dem reinsten Weiß und unserem vollkommensten Schwarz liegen Millionen Stufen von Grau. Manche Töne sind sichtbar, und einige von ihnen sind für andere das perfekte Grau. […] Das perfekte Grau, ist für jeden immer etwas anders. Sogar für einen selbst, wenn man auf sich zurückblickt. Also, warum sollte ich etwas von mir erzählen, was ich selbst gar nicht verstand? […] Doch Rofu hatte recht. Am Ende ist die Vergangenheit doch dafür verantwortlich, wer oder was man geworden ist.

Bei der Lektüre des Romans wird überdies deutlich, dass Intertextualität für Jamals Schreiben äußerst wichtig ist. Denn der Bezug auf andere Texte, Gattungen und Autoren beschränkt sich eben nicht nur auf die Figuren Dante und Novelle, von denen letztere ihren Namen dem „Frankreich-Tick“ ihrer Mutter, einer Maupassant-Leserin, verdankt, sowie die vereinzelten Anspielungen auf Der Herr der Ringe, Schneewittchen oder die Reihe Lustiges Taschenbuch. Mindestens ebenso auffällig ist, dass Dante immer wieder Parallelen zu sich selbst und Novelle in einem nicht mit dem Titel genannten „Roman eines Franzosen“ entdeckt, den er während der Romanhandlung liest. Wie eine kurze Spurensuche ergeben hat, handelt es sich bei dem Prätext um den 1985 erschienenen und 1986 verfilmten Roman Betty Blue. 37,2° am Morgen (Original: 37°2 le matin) von Philippe Djian. Durch die Parallelisierung von Novelle mit Betty gerät Dante schließlich in ein Dilemma, aus dem es keinen Ausweg zu geben scheint.

Hinzu kommt bei Jamal eine werkinterne Intertextualität, weil der Autor Das perfekte Grau als Fortsetzung seines Debütromans Briefe an die grüne Fee. Über die Langeweile, das Begehren, die Liebe und den Teufel (2017) angelegt hat, in dem Dante – damals noch als namenloser Ich-Erzähler – auf einem Hochhausdach sitzt und wie Goethes Werther über Freitod nachdenkt. Der Roman besteht aus den an eine Frau gerichteten Briefen, die der Erzähler bei sich hat und die einen Einblick in sein Innenleben gewähren. In Das perfekte Grau tritt schließlich jedoch Freundschaft an die Stelle von Melancholie. „Mitgefühl wurde zu Fürsorge und Toleranz zu Selbstlosigkeit“, resümiert Dante mit Blick auf die Beziehung zu seinen neuen Freunden. „Manchmal“, so lautet wohl die zentrale Aussage des Romans, „findet sich die Heimat nicht an einem Ort, sondern in Menschen.“

Titelbild

Salih Jamal: Das perfekte Grau.
Septime Verlag, Wien 2021.
240 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-13: 9783991200017

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch