Berliner Plauderbriefe
Alfred Kerrs gesammelte „Briefe aus der Reichshauptstadt“ aus den Jahren 1897 bis 1922 zeigen den Theaterkritiker und Feuilletonisten als sprachmächtigen Chronisten seiner Zeit
Von Horst Schmidt
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseAls Günther Rühle, Herausgeber der postum erschienenen Gesammelten Werke in Einzelbänden von Alfred Kerr (1867–1948), im Herbst 1997 beim Aufbau Verlag unter dem Titel Wo liegt Berlin? Briefe aus der Reichshauptstadt 1895–1900 eine Sammlung längst vergessener, seinerzeit in der „Breslauer Zeitung“ und bis dato nicht in Buchform erschienener „Plauderbriefe“ des wohl bedeutendsten deutschen Theaterkritikers des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts vorlegte, sprach die Literaturkritik einhellig von einer literarischen Sensation. Im „Literarischen Quartett“ lobten Marcel Reich-Ranicki, Hellmuth Karasek, Sigrid Löffler und Paul Ingendaay die Berliner Feuilletons von Alfred Kerr in höchsten Tönen. „Die Geschichte des deutschen Feuilletons muss nach diesem Buch neu geschrieben werden“, verkündete Reich-Ranicki.
Kerr, der ähnlich wie Reich-Ranicki zu Lebzeiten lange als inoffizieller „Literaturpapst“ gehandelt wurde, galt fortan nicht nur als origineller und wirkmächtiger Theaterkritiker, der die Dramatiker der literarischen Moderne mit literarischem Sachverstand und unbestechlichem Urteilsvermögen über Jahrzehnte hinweg kritisch begleitet hatte, sondern wurde auch als herausragender Journalist und Feuilletonist seiner Zeit anerkannt. Man stellte den Publizisten Kerr fortan zu Recht auf eine Stufe mit Zeitgenossen von ihm wie Kurt Tucholsky, Walter Benjamin oder Karl Kraus, mit dem Kerr sich übrigens erbitterte Fehden lieferte.
Die nun beim Wallstein Verlag erschienenen, von der Literaturwissenschaftlerin und Kerr-Biografin Dorothea Vietor-Engländer herausgegebenen und kenntnisreich kommentierten vier Bände Berlin wird Berlin. Briefe aus der Reichshauptstadt 1897–1922 unterstreichen mit Nachdruck Kerrs Ruf als Ausnahme-Publizist und Artist der deutschen Sprache. Der als Sohn einer in Breslau ansässigen jüdischen Familie geborene Kerr, dessen Geburtsname Alfred Kempner lautete (1909 wurde der Namen offiziell geändert), erweist sich in den knapp 3000 Druckseiten umfassenden vier Bänden dieser ursprünglich wöchentlich in der „Königsberger Allgemeinen Zeitung“ erschienenen „Plauderbriefe“ aus Berlin (und anderen europäischen Metropolen wie zum Beispiel Paris, London, Venedig oder Wien) als hellwacher Flaneur und aufmerksamer Chronist seiner Zeit und liefert aus erster Hand Einblicke in das kulturelle, soziale und politische Geschehen der Jahre zwischen 1897 bis 1922.
Die gleichermaßen unterhaltsamen wie literarisch anspruchsvollen, als „Plauderbriefe“ titulierten Kolumnen von Kerr umfassen also den Zeitraum vom Wilhelminismus über den Ersten Weltkrieg bis zu den Anfangsjahren der Weimarer Republik. Ein Vierteljahrhundert lang berichtet Kerr über alles, was ihm interessant erscheint, ihm widerfährt oder seine stete Neugierde zu wecken vermag.
Er nimmt seine Leser mit zu spannenden Gerichtsprozessen, zu Theateraufführungen, in Konzertsäle, zu Kunstausstellungen und auch in angesagte Restaurants. Er berichtet von seinen vielen Reisen, erzählt von Begegnungen und Erlebnissen. Und immer wieder portraitiert er Persönlichkeiten seiner Zeit, mal mit unverhohlener Sympathie und Bewunderung, wie zum Beispiel im Fall von Fontane und Bismarck, mal mit feiner Ironie oder gar mit beißendem Spott.
Den heutigen Leser verwundert oft, wie aktuell manche Themen, die Kerr vor über einhundert Jahren in seinen Kolumnen aufgreift, noch heute bzw. heute wieder sind. So etwa die Eitelkeiten von Schauspielern, Künstlern, Literaten und auch Politikern, die sich für den Mittelpunkt der Welt halten, die Sensationslust und das kaum zu stillende Unterhaltungsbedürfnis vieler Zeitgenossen oder schon damals auftretende Phänomene wie unbezahlbare Wohnungen in der Großstadt oder Sport-Großveranstaltungen als willkommene Spektakel für die Masse der Bevölkerung.
Ein befremdlicher Ton spricht aus Kerrs „Plauderbriefen“, als der eher kosmopolitisch orientierte Kritiker und Journalist, der auch stets ein aufmerksames Gespür für antisemitische Untertöne in den Diskursen seiner Zeit hat, sich während des Ersten Weltkrieges zumindest zeitweise zum Hurrapatrioten wandelt. Eine Verirrung, die bei Kerr jedoch nicht lange anhält. In der Weimarer Republik wird er zu einem Verteidiger der fragilen Demokratie. Als die Nazis dann 1933 in Deutschland das Ruder übernahmen, war Alfred Kerr einer der ersten, der mit seiner Familie ins Exil ging. Aber das ist ein anderes Kapitel…
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