Kräftiger Absprung, mäßige Weite

Dorothee Kimmich schreibt in „Leeres Land“ über Niemandsländer in der Literatur

Von Günter HelmesRSS-Newsfeed neuer Artikel von Günter Helmes

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Bestimmung des sie beschäftigenden, historisch breiten, bis in die Antike zurückreichenden (literarischen) Gegenstandsbereichs durch die Verfasserin ist einigermaßen komplex angelegt. Es stellt sich die Frage, ob weniger nicht mehr bzw. ein sich systematisch und/oder historisch bescheidender Zugriff in methodologischer Hinsicht und mit Blick auf Sachstände und Erkenntniszugewinn nicht förderlicher gewesen wäre.

Die Verfasserin interessiert sich „anhand von – vor allem literarischen – Niemandsländern, ihrer Funktion, Form, Narration und Proliferation“ dafür, „wie sich Geschichten von Besitz bzw. Inbesitznahme, Verlust und Aneignung, Eigentum und Eigentumslosigkeit erzählen lassen“. Das erweckt den allerdings irreführenden Eindruck, eine erzähltheoretische, um kulturwissenschaftliche Anteile erweiterte Frage stehe im Vordergrund. 

Im sich auf „einige[] einschlägige[]“, doch nicht „repräsentativ[e]“, sondern historisch „eher signifikant[e]“ Beispiele konzentrierenden „Fokus“ soll jedenfalls nicht der Besitz als solcher stehen, „sondern vor allem dasjenige, was an und mit Orten und Räumen geschieht, die gar nicht oder nicht wirklich in Besitz genommen worden sind.“ Dabei soll der „Schwerpunkt“ nicht auf solchen Beispielen liegen,

die Niemandsländer als reine Dystopie begreifen, sondern er soll vielmehr auf solche gelegt werden, die dem Sonderstatus des Niemandslandes auch produktive Aspekte abgewinnen, also besonders den ambivalenten, widersprüchlichen, geheimnisvollen und faszinierenden Charakter von Niemandsländern betonen.

Zudem sei „der Aspekt einer gewissen politischen Orientierung ausschlaggebend für die Auswahl der Texte“ gewesen, dergestalt, dass solche Texte favorisiert wurden, „die kulturtheoretische Fragen auf ihre politische Bedeutung hin überprüfen“.

Ob die von der Verfasserin entlang dieser zuletzt genannten, letztlich doch ausgesprochen dehnbaren Richtlinien getroffene Auswahl überzeugt oder einer gewissen Beliebigkeit zu zeihen ist, mag dahingestellt sein – Auswahlen sind immer angreifbar, bemerkt auch die Verfasserin in selbstschützender Absicht ganz zu Recht. Doch gerade angesichts dieser Richtlinien kann man sich sehr gut vorstellen, dass die Beschäftigung mit Autoren wie Robert Müller, Arno Schmidt oder T. C. Boyle ertragreicher gewesen wäre als die beispielsweise mit dem doch eher ‚abgelegenen‘ Oskar Loerke.

Ihrem Vorwort nach will die Verfasserin „Niemandsländer […] vor allem als Reflexionsfiguren auf ein mehr oder weniger an Besitz und ein mehr oder weniger an Herrschaft“ hin verstehen und nach „Ähnlichkeitsbezügen – im Sinne der von Wittgenstein eingeführten ‚Familienähnlichkeiten‘“ – fragen. Es soll also u. a. nicht von einer „Subversion von Differenzen“ ausgegangen werden.

Das einleitende erste, 40 Seiten lange Kapitel ihres Buches entfaltet Überlegungen zur Geschichte und „Theorie der Niemandsländer“ (u. a. Georg Simmel, Stichwort „Grenzwüsten“). Das bedingt, dass selbstverständlich auch über „theoretische Begründungen von Eigentumsansprüchen“ (u. a. John Locke, Stichwort „Arbeit“, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Stichwort „Freiheit des Subjekts“, Theodor W. Adorno, Stichwort „Subjekt-Objekt-Relationen“), deren praktische Durchsetzung sowie deren historischen Kontext (Stichwort: „Kolonisierung der ‚Neuen Welt‘“) gehandelt werden muss. Darauf folgen vier Lektüre-Kapitel, die sich mit Texten um 1800 (Wieland, Goethe, die Figuren Odysseus, Herakles und Tannhäuser), solchen des Bürgerlichen Realismus (Keller, Stifter, Storm) und der klassischen Moderne (Kafka, Kracauer, Musil) sowie einem Potpourri aus zeitgenössischen literarischen und kulturtheoretischen Texten (Michel Leiris, Chinua Achebe, Giorgio Agamben) sowie aus Filmen (Filmgenre „Western“) beschäftigen.

Wie für alle Kapitel gilt auch für die Einleitung, dass eine beeindruckende (Un-)Menge an unterschiedlichen Quellen primärer und sekundärer Art aus diversen wissenschaftlichen Disziplinen und landläufig so bezeichneten E- und U-Kulturen (bspw. Popmusik) in die Ausführungen einfließen. Hier entsteht zuweilen der Eindruck eines Name- und Title-Droppings. Diese teils kritischen Ausführungen – gefordert wird tendenziell ganz zu Recht Perspektivismus statt Ontologismus – ähneln von daher mehrheitlich weniger einem argumentativ verfahrenden als vielmehr einem referierenden bzw. kommentierenden Literatur- bzw. Forschungsliteraturbericht. Das hat Folgen insbesondere für jene Interpretationskapitel, in denen es um die schöne und essayistisch-philosophische Literatur sowie das gewählte Filmgenre „Western“ geht.

Niemandsländer werden zunächst dahingehend bestimmt – um „eindeutige Definitionen“ im herkömmlichen Sinne und „klare Begriffe“ geht es der Verfasserin ausdrücklich nicht –, dass es sich um diejenigen „Gebiete der Erde“ handele, die als „terra nullius“ oder „terrains vagues“ „niemandem gehören oder niemandem zu gehören scheinen“. Es wird dann unter Verweis auf Simmels ‚Grenzwüsten‘-Konzept herausgestellt, dass Niemandsländer weder „Heterotopien“ bzw. „Gegenort[e]“ im Sinne Michel Foucaults noch „Nicht-Orte“ im Sinne Marc Augés seien. Aufgrund „geringe[r] Reglungsdichte“ seien Niemandsländer vielmehr

Freiräume im Sinne von Spielplätzen, die […] auch Erwachsenen einen spielerischen Umgang mit überkommenen Verhaltensformen anbieten, das probeweise Aussetzen von bestimmten Regeln ermöglichen oder die Übernahme von fremden Rollen stimulieren.

In Anspielung auf Robert Musil könne man bei Niemandsländern von daher von „Möglichkeitsräume[n]“ sprechen: „Inseln und Höhlen, Wälder, Urwälder, Wüsten, Meere, Ruinen, Stadtbrachen, Industriebrachen, aber dann auch das Elysium.“ Wie der Fortgang der Untersuchung zeigt, zählt die Verfasserin aber auch „Bergwerke“ (u. a. Johann Friedrich Hebel, Unverhofftes Wiedersehen), „Polderlandschaften“ (Goethe, Faust II), ein Ruderboot (Gottfried Keller: Romeo und Julia auf dem Dorfe), einen Deich (Theodor Storm: Der Schimmelreiter), eine Toilette (Michel Leiris, Das Sakrale im Alltag) oder ein „Hotel am Flughafen“ (Giorgio Agamben, Homo sacer) den Niemandsländern zu. Dabei argumentiert sie oftmals gar nicht von den Orten und deren Eigenheiten selbst her, sondern von deren Gebrauch durch Individuen ganz unterschiedlicher Art (auch Kinder).

Von daher stellt sich die Frage, ob angesichts einer solch losen Begriffs-, eigentlich bloßen Wortverwendung unter bestimmten Bedingungen, Arrangements und Haltungen zwar wohl nicht alles, aber doch sehr Vieles ein Niemandsland sein könnte, beispielsweise die Universität im Sinne eines herrschaftsfreien Raumes. Damit wären dann spezifische Differenzen zu ‚Jemandsländern‘ als meist, doch kontingenter bzw. nicht notwendiger Weise und situativ eben gerade nicht von Besitz, Macht, Herrschaft, Unterdrückung und Ausbeutung geprägten Orten aufgehoben – und die letztlich doch einem problematisierten Ontologismus anheimfallende Rede von Niemandsländern obsolet.

Ohne dahingehend vermessen zu sein, eine intime Vertrautheit mit allen besprochenen Lektüren und deren Erforschung zu behaupten, hat sich dennoch der bestimmte Eindruck herausgebildet, dass zu den Lektüren aus literatur- und medienwissenschaftlicher, selbstverständlich interdisziplinär ausgerichteter Sicht in erdrückendem Maße nichts wirklich Neues gesagt wird. Das ließe sich beispielsweise an den wie anderenorts auch mit etlichem überflüssigen Bildungswissen befrachteten Ausführungen zu Wieland (Neue Götter-Gespräche, 1790/93; Geheime Geschichte des Philosophen Peregrinus Proteus, 1791; Göttergespräche. Gespräche im Elysium, 1796;) und Goethe (Faust II) zeigen – Wieland und sein „Elysium“ werden zudem in ein fragwürdiges Verhältnis zu Simmels „Grenzwüsten“ gesetzt –, wird aber insbesondere an denjenigen zum Filmgenre „Western“ deutlich. Damit soll allerdings nicht behauptet werden, dass eine (relativistische) ‚Niemandsland-Perspektive‘ als solche nicht dazu taugen würde, Erkenntniszugewinne sui generis hervorzubringen.

Nichts wirklich Neues: Sicherlich überrascht es, wenn die Verfasserin beispielsweise in Texten von Gottfried Keller (Romeo und Julia auf dem Dorfe, Pankraz, der Schmoller), Adalbert Stifter (Katzensilber, Granit, Abdias, Brigitta) und Theodor Storm (Der Schimmelreiter) „Reflexe der kolonialen Globalisierung in den herkömmlichen Strukturen und den – vermeintlich – bekannten Räumen“ sehen will. Aber geben die Texte das tatsächlich her? Erkennt man diese Texte ihren vielfältigen Gehalten nach wieder, wenn es zusammenfassend über Stifter und Storm heißt:

Stifters Texte erzählen von schwierigen Jugendfreundschaften zwischen Stadt und Land, von einer jüdischen Biographie in den Niemandsländern Nordafrikas und Österreichs, einer gescheiterten Ehe, die erst in der Öde der ungarischen Puszta wiederauflebt, von einem banalen Familienstreit oder einem misslungenen Weihnachtsausflug ins Niemandsland des Gletschereises. Theodor Storms Niemandsland ist der Deich, der, halb Natur und halb kulturelle Errungenschaft, sowohl der Beschwörung der Götter als auch der Berechnung von Statik bedarf und – wie alle kolonialen Projekte – Todesopfer fordert.

Mehr als überraschend ist es allerdings, wenn etwa über Stifters Abdias Aussagen getroffen werden, die allem im Text Gesagten schlicht widersprechen: Abdias hat sich nicht in der nordafrikanischen Wüste „niedergelassen“, er ist dort geboren worden und hat die Wohnung seiner Eltern übernommen. Sein Vater Aron ist alles andere als arm, er handelt erfolgreich mit „schlechten und mannigfaltigen Dingen“. Irreführend ist es auch, wenn es weiter über Abdias’ Wohnung vor deren Verwüstung und Plünderung durch Eindringlinge heißt:

Abdias lebt mitten in einem Durcheinander von wertlos gewordenen, zerbrochenen und nutzlosen Dingen. Seine Behausung stellt in jeder Hinsicht das Gegenteil dar zu den vielen von Stifter beschriebenen […] Höfen, Gärten und Gütern […] z.B. im »Nachsommer« […]. Im Grunde genommen ist es keine Wohnung, sondern ein Unterschlupf, keine Natur mehr und noch keine Kultur.

Die Wohnung entspricht zwar bau- bzw. ausstattungstechnisch keinen römischen bzw. ‚hochkulturellen‘ Standards, ist aber mit Teppichen etc. von Abdias nobel hergerichtet worden.

Aber auch in Brigitta und in Katzensilber sind die beschriebenen Sachverhalte andere als in der Studie behauptet wird, darüber hinaus werden die jeweiligen Raumordnungen zwischen den Polen (Hoch-)Kultur/Künstlichkeit und Wildnis/Ursprünglichkeit nicht erfasst. Brigitta und Stephan Murai in Brigitta haben nicht eine „geraume Zeit unweit voneinander, durch ein wüstes Gebiet getrennt, gelebt“, bevor sie wieder zusammenkommen, sondern es besteht ein langjähriges, durch umfangreiche Kultivierungstätigkeiten bestimmtes Arbeits- und Austauschverhältnis, ja im Inneren verborgen sogar ein Liebesverhältnis zwischen beiden. Und es ist keineswegs eine bloße „magische Zugehörigkeit zur Natur“, die das Mädchen in Katzensilber zum Schluss wieder von der es umsorgenden Familie Reißaus nehmen lässt. Dafür sind vielmehr die unangemessenen Integrationsbemühungen fast aller Familienmitglieder ursächlich. Schon gar nicht entzieht sich die „österreichische Pocahontas“ einer „Heirat“. Bliebe mit Blick auf das vierte Kapitel beispielsweise nachzutragen, dass Brigitte Kronauers Sammlung Zweideutigkeit, Essays und Skizzen (2002) selbstverständlich nicht zu den „Texte[n] der Nachkriegszeit des Zweiten Weltkriegs“ gehört, auch wenn dort „Trümmerlandschaften“ thematisiert werden – Weiteres dieser Art wäre anzuführen.

Schließlich sei auf eine erhebliche Anzahl an allen möglichen Wiederholungen (am auffälligsten der x-mal zitierte Cornelia Vismann-Satz „The primordial scene of the nomos opens with a drawing of a line in the soil“), auf nicht minder viele Selbstwidersprüche (bspw. die Rede von „echten Niemandsländern“) und auf nicht unerhebliche ‚Programmabweichungen‘ und ‚Einschätzungsvarianten‘ hingewiesen; darauf dann auch, dass aktuelle, modisch-inflationär gebrauchte Begrifflichkeiten, Etiketten und (Ver-)Bannwörter historischem Geschehen und historischen Akteuren realer oder fiktionaler Art übergestülpt werden: Die „Christianer“ in Peregrinus Proteus seien „im Ansatz rassistisch und in jedem Fall radikal, sektiererisch und gefährlich“, Manz und Marti in Romeo und Julia auf dem Dorfe seien „Nationalisten und Rassisten“, die Gletscherwelt in Bergkristall müsse „ökologisch“ betrachtet werden, Katzensilber handele auch von der „Kolonisierung […] vor allem von Frauen“. Dieses a-historische Denken führt u. a. zu einer Reihe von erstaunlich selbstbewussten, auch selbstgerechten Reden wie beispielsweise der von der „Naivität der amerikanischen Gesetzgeber“ des 18. Jahrhunderts.

Titelbild

Dorothee Kimmich: Leeres Land. Niemandsländer in der Literatur.
Konstanz University Press, Konstanz 2021.
221 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783835391345

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