Dystopien im Prenzlauer Berg

Gentrifizierung in „Die Entmieteten“ von Synke Köhler

Von Monika WoltingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Monika Wolting

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit Beginn der globalen Banken- und Finanzkrise im Jahr 2007 boomt der Berliner Immobilienmarkt. Inzwischen wird deutlich, dass bei den Kauf- und Mietpreissteigerungen Berlin das bei Immobilieninvestor*innen bislang äußerst beliebte London überholt hat (Rundfunk Berlin-Brandenburg, 2017). Gerade der Prenzlauer Berg wurde zum Symbol struktureller sozialer und wirtschaftlicher Veränderungen, die nach der Wende rasant auf die Ostberliner Bezirke übergegriffen haben. Die Wohn- und Mietenpolitik, als eine der wichtigsten sozialpolitischen Fragen Berlins, fand 2019 in mehreren Berlin-Romanen Eingang: Synke Köhler schrieb den Text Die Entmieteten, Enno Stahl Sanierungsgebiete, Jan Brandt Ein Haus auf dem Land, eine Wohnung in der Stadt, Anke Stelling Schäfchen im Trocknen (Preis der Leipziger Buchmesse 2019), und bereits 2018 veröffentlichte Torsten Schulz den Band Skandinavisches Viertel. Diese Romane bringen gesellschaftliche Missstände zur Sprache, die dazu geführt haben, dass trotz Zweckentfremdungsverbot, Erhaltungssatzung und Milieuschutzgebieten, trotz des bezirklichen Vorkaufsrechts und des Mietendeckels seit der Wende 1989/90 viele Menschen, die in den Ostteilen Berlins wohnen, auf die Straße gehen. Die Autor*innen entwerfen Bilder dystopischer Orte: ‚schlechter Orte‘, wo die strukturelle Gewalt der Marktwirtschaft Existenzen von Menschen bedroht und das Kiezleben zum Erliegen bringt. Sie stellen in ihren Weltentwürfen dar, wie der Druck der Gentrifizierung auf die einkommensschwache Wohnbevölkerung zur Verdrängung, zur Versnobbung und letztendlich „zur Auslöschung des Kiezes“ führt. 

Synke Köhler, in Dresden geborene und in Berlin-Friedrichshain lebende Autorin, erzählt in ihrem Romandebüt Die Entmieteten über ein vom Abriss bedrohtes Mietshaus im Prenzlauer Berg in Berlin. Die Marner Straße ist zwar fiktiv, jedoch lässt sich an der dargestellten Umgebung der von Ausverkauf und Überfremdung bedrohte reale Kollwitzkiez erkennen: „Hier, neben dem Wasserturm, war eine Insel der Alteingesessenen, hier wohnten immer noch viele, die in den 60er Jahren ihre erste Wohnung bekommen hatten und nie weggezogen waren. Ganz Berlin wurde entwohnt“. Der Begriff „entmieten“ umfasst alle Maßnahmen, die dazu führen, dass die Mieter ein Haus verlassen, damit es zum Abriss oder Umbau leer steht.  

Synke Köhler entwirft folgende Geschichte: Eine Immobilienfirma, die sich selbst „Mietberatung“ nennen lässt, versucht mit allen Mitteln, zunächst auch finanzieller Art, die Mieter des Hauses in der Marner Straße zum Umzug zu bewegen. Da „der Wohnblock Marner Straße 9-13 nicht mehr den heute geltenden Wohnbedürfnissen entspricht“, werden „umfangreiche Umbaumaßnahmen“ geplant. Die Wohnungen werden „im Zuge des Um- und Neubaus vollständig abgerissen, eine Kündigung des Mietverhältnisses ist somit unumgänglich“. Der eigentliche Investor bleibt im Hintergrund des Geschehens. Einige Bewohner verlassen mit 10.000 Euro als Entschädigung ihre Wohnungen, andere, die sich als Entrechtete und Entmündigte verstehen, beharren auf ihrem Recht, wohnen zu bleiben. Der Journalist Markus Amreiter sagt bei einer Mieterversammlung:

Man muss sich halt entscheiden. Bleibt man hier wohnen und kämpft, oder zieht man aus und bekommt die eine oder andere Hilfe dabei. Man kann natürlich auch versuchen, sich auszahlen zu lassen. […] Je mehr Leute wir sind, die wohnen bleiben, desto schwieriger wird es für die. Es geht auch ums Prinzip. Die kommen daher und schmeißen uns raus. Und wofür? Für Geld, für Profit. Wie würden die sich fühlen, wenn die ihr Hab und Gut, ihr Umfeld, ihre Freunde verlassen müssten? Und immer die Erklärung mit dem Markt, der Markt erklärt alles. Ach, verdammich, irgendwie ist man langsam kurz davor, eine Bombe zu basteln.

Professor Sonntag, dessen 30 Jahre zuvor gepflanzte Bäume nun gefällt werden sollen, organisiert den Widerstand der Entmieteten. Zu den weiteren Kämpfern um das Wohnrecht gehören der gealterte DDR-Rockstar Lasse Gorzkow, genannt Grozki, die leicht dem Leben abgewandte Doktorandin Kathleen Maun und der Journalist Amreiter, der irgendwann dann doch aus der Entmietung Kapital schlagen will und für seinen Auszug 79.000 Euro verlangt. 

Die Geschichte wird als Retrospektive erzählt. Im ersten Satz vernimmt der Leser bereits die Geräusche einer Abrissbirne. Für Spannung sorgt ein Leichenarm, der aus dem Schutt herausragt. Erst gegen Ende des Romans wird das Rätsel gelöst, wem der Arm gehört. Die Handlung und die Stimmung sind so angelegt, dass sich der Leser der sich anbahnenden Katastrophe, die nicht allein im Abriss des Hauses besteht, stets bewusst ist. Der dystopische Charakter des Romans zeigt sich in dem voranschreitenden Abrisszustand des noch bewohnten Hauses und der immer von Neuem misslingenden Rebellion der letzten Mieter gegen einen Immobilienriesen. Die Auszugsverweigerer organisieren Proteste auf der Straße, Aufklärung durch Posteraktionen, ein Rockkonzert von Grozkis Band Nachtasyl direkt vor dem Haus. Grozki eröffnet seinen Auftritt mit folgender Rede:

Kaufen Sie, Passanten, kaufen Sie! Hier können Sie noch eine weitere Eigentumswohnung erwerben. Sie müssen nichts weiter tun, als uns aus dem Weg zu räumen. Der Konsum heiligt die Mittel. […] Die Wahl der Waffen liegt bei Ihnen, Messer, Pistole, Bagger, Anwälte. […] Hier mit erkläre ich eine neue Runde der Häuserspiele für eröffnet […].

Die rege Beteiligung auch anderer Kiezbewohner an diesem Event sowie an weiteren Aktionen, wie dem Aufstellen weißer Kreuze vor dem Blockhaus, zeigt, dass sich Viele von steigenden Mieten, Eigentumsumwandlung und Luxusmodernisierungen verdrängt und von der Lokalpolitik im Stich gelassen fühlen. Synke Köhler schafft ein dystopisches Bild mit dem Hoffnungsträger einer neu entstandenen Mietergemeinschaft. Die Krise stiftet einen Zusammenhalt unter den Mietern, die sich bis zu diesem Zeitpunkt kaum begegnet sind. 

Die Aufwertung und Verdrängung sind die Kehrseiten moderner sozialräumlicher Entwicklungen im Osten Berlins. Die Immobilienagentur schreitet jedoch in ihrem Weg konsequent weiter: Nach der gewaltsamen Kellerräumung, die nur mit polizeilicher Hilfe gestoppt werden konnte, kommt das Entfernen von „Fenstern der leerstehenden Wohnungen […]. Seitdem fegte ununterbrochen ein kalter Luftzug durchs Haus, wie ein strenger Aufpasser“. Die Lebensumstände der „Entmieteten“ werden immer drastischer geschildert: „Der Baustaub drang durch die Ritzen, wie kleine Tiere kroch er unter der Tür durch, legte sich wie ein Film über alles und jeden. Legte sich auf die Personen, auf Kathleen, auf Grozki, auf Herrn Sonntag“. Das dystopische Bild der Entsorgung des Wohnhauses und seiner Bewohner wird nach und nach entwickelt. Synke Köhler zeichnet das Bild brutaler neoliberaler, auf wirtschaftlichen Profit ausgerichteter Macht, eines seelenlosen Fortschritts, der zu einer menschenfeindlichen, ökonomischen Aufwertung von Wohngebieten und zur Vernichtung des Kiezmilieus führt. 

Da es in dem Roman weniger um die Darstellung eines Kiezmilieus geht, sondern um die Schilderung der negativen soziopolitischen Auswirkungen des Neoliberalismus, werden die Figuren eher schematisch, zum Teil auch stereotypisierend skizziert und durchlaufen keine nennenswerte Entwicklung – mit Ausnahme vielleicht der Mietberaterin Verena Wilke, die sich zwanzig Jahre zu spät die Frage nach dem Sinn ihres Lebens stellt. Die existenzielle Situation, in welche die Bewohner des Hauses unwillentlich geraten, bringt zwar eine gewisse Unruhe in ihren Alltag, die verdrängte revolutionäre Hoffnungen sowie ganz individuelle Ängste und Lebensgeschichten zu Tage fördert. Letztendlich hinterlässt sie aber keine Spur in ihrem Leben. 

Die Autorin zeigt mit der Kritik an den Mahlwerken der strukturellen Gewalt des Neoliberalismus ihr politisches und soziales Engagement. Der Roman erscheint zeitgemäß wie scharfsinnig und weist Züge von Tragikomik und Bitterkeit auf.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Synke Köhler: Die Entmieteten.
Satyr Verlag (Blue cat), Berlin 2019.
256 Seiten, 23 EUR.
ISBN-13: 9783947106318

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