Der unstillbare Trieb

In Helmut Kraussers dystopischem Roman ,,Geschehnisse während der Weltmeisterschaft“ steckt viel mehr, als es auf den ersten Blick scheint

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist ein schwieriges Buch, das uns Helmut Krausser als Nachfolger zu seinem überzeugenden Roman Alles ist gut vorlegt. Nicht, weil der Text an sich allzu komplex wäre, sondern weil man nach der Lektüre von Geschehnisse während der Weltmeisterschaft nicht weiß, wie man diesen Roman einordnen soll, und das gleich aus mehreren Gründen. Einerseits ist da die arg nach Groschenroman-Ästhetik anmutende Kernhandlung. Erzählt wird nämlich aus einer dystopischen, wenn auch nicht allzu fernen Zukunft – wir schreiben das Jahr 2028 –, in der Weltmeisterschaften für Leistungssex stattfinden. Leon, der Ich-Erzähler, und sein ‚Team Berlin‘ sind die amtierenden Champions, die sich aufmachen, bei der WM in Kopenhagen ihren Titel zum vierten Mal zu verteidigen. So besteht der Großteil des Romans tatsächlich aus der oft sehr plastischen, jedoch bewusst unerotischen, Beschreibung der Wettkämpfe und jener im Titel angedeuteten Geschehnisse – ein Korruptionsskandal, Morde, Terror, Liebesgeschichten –, die währenddessen am Austragungsort passieren. Das ist rasant und spannend erzählt; vor allem, weil die Nähe zu tatsächlichen Sportreportagen immer wieder hergestellt wird. So etwa, wenn von Vorrunde über die K.O.-Spiele bis hin zum Finale der absurde Sexwettbewerb durchgespielt wird wie eine Fußballweltmeisterschaft. In diesen Wettkämpfen wird kopuliert – vaginal, oral, anal –, es wird nach Stoppuhr Hand angelegt und vieles mehr; alles jedoch in einem völlig sterilen Rahmen, der den Leser eher an Eiskunstlauf oder Kunstturnen denn an Sex denken lässt. Selbst die Sprache ist entsexualisiert. Jeder Akt hat eine offizielle, medizinisch klingende Bezeichnung und die Begeisterung der ‚Sportler‘ für das, was sie da tun, erschöpft sich in ihrem unbändigen Siegeswillen. Lust ist zum Fremdwort geworden.

Wie man sich unschwer denken kann, ist der Plot in einem solchen Maß absurd, überzeichnet und manchmal abgrundtief dämlich, dass sich gerade der mit Kraussers Werk vertraute Leser automatisch fragen muss, ob hier nicht doch noch mehr dahintersteckt.

Die Geschichte spielt vor dem Hintergrund eines dystopischen Europas, dessen Grundzüge jedoch immer wieder nur angedeutet werden. Christliche Fundamentalisten und Islamisten stören die Wettbewerbe, die Terrorgefahr ist allgegenwärtig, die meisten europäischen Länder (mit Ausnahme Skandinaviens) sind, so kann man die oft unklaren Äußerungen des Erzählers deuten, in die Hände rechter Populisten gefallen, die einen solchen Wettbewerb als degeneriert verachten. Um die Unsicherheit beim Leser zu vertiefen, verwendet Krausser einen alten, aber immer wieder funktionierenden Kniff: Sein Ich-Erzähler, der die Deutungshoheit über das Geschehene hat, ist intellektuell nicht sonderlich gereift, zur tiefgehenden Reflexion nicht fähig (oder nicht willens), und gleichzeitig, wie man im Laufe des Romans bemerkt, auch mit deutlich psychopatischen Zügen ausgestattet. Die Welt, die ihn umgibt, erinnert teilweise etwas zu sehr an Houllebecqs dystopisches Frankreich in Unterwerfung, und die Identität des mysteriösen Schreibers von E-Mails, die an eine Mannschaftskameradin von Leon adressiert sind und sich als roter Faden durch den Roman ziehen, ist ebenfalls recht schnell – mit tatkräftiger Hilfe des Autors, der das Plakative seines Textes scheinbar noch unterstreichen will – enttarnt.

Grund genug also, wie es einige Kritiker bisher allzu leichtfertig getan haben, den Roman beiseite zu legen. Das aber wäre ein Fehler, denn Krausser verlangt spätestens seit seinem 1997 erschienenen Roman Der große Bagarozy – für viele seiner Leser im ersten Moment eine Enttäuschung, vom Autor seinerzeit vehement verteidigt – ein Durchdringen der Unterhaltungsliteratur-Oberfläche, die in diesem Fall nicht zuletzt auch wegen der thematischen Anspielungen auf seine früheren Romane funktioniert. Die Parallelen zu Fette Welt jedenfalls sind offensichtlich (ohne jetzt zu viel verraten zu wollen), es ist aber vor allem die faszinierende (natürlich von vielen Kritikern allzu leichtfertig überlesene) Eingangszene, die an die besten Werke Kraussers erinnert und die mit dem Rest des Romans zunächst wenig gemeinsam hat.

Das Erste, was der Leser von Leon erfährt, ist, dass er für mehrere Monate spurlos verschwindet, sich in die Einsamkeit einer weit von der Zivilisation abgelegenen Waldhütte im Norden Norwegens begibt, dort sein Handy zerstört und Dinge tut, die im Nachklang von ihm nur angedeutet, niemals auserzählt werden. Nicht nur seine Beschreibungen der dystopischen Welt um ihn herum, sondern auch sein Innenleben schildert Leon wiederum nur anhand von Andeutungen, unvollständigen Ausschnitten oder, man ahnt es recht bald, Lügen. Der Roman wird zum Puzzle, das zwar nicht allzu schwer zusammenzusetzen ist, aber dennoch den Leser wiederholt vor Rätsel stellt. Hierin liegt eine Stärke des Romans. Die größte Stärke allerdings liegt darin, dass er als Studie über den endgültigen Triumph des Apollinischen über das Dionysische – ein weiteres frühes Krausser-Kernthema – in einer durchregulierten, zunehmend sterilen Welt zu lesen ist. Gerade, weil einerseits der Erzähler (und mit ihm der Protagonist eines Nebenplots, in dem es um ungestilltes Verlangen geht, der aber den Hauptplot zwar unaufdringlich, aber ziemlich gekonnt spiegelt) mit seinen Gedanken zu weit geht, andererseits der Autor mit seiner Gesellschaftssatire bewusst übertreibt, kommt der Kern des Romans umso deutlicher zum Vorschein: Es geht um das verdrängte Animalische, den unstillbaren männlichen Trieb und den Versuch von Aufklärung über Moderne bis hin zur ironischen Postmoderne, diesen zu brechen. Nicht schlecht für einen Roman, der vordergründig von Weltmeisterschaften im kompetitiven Kopulieren handelt.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Helmut Krausser: Geschehnisse während der Weltmeisterschaft. Roman.
Berlin Verlag, Berlin 2018.
240 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783827012036

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