Saubere Rekonstruktion, lose Assoziation und nominalistische Verfehlung

Das Ausbleiben begrifflicher Auseinandersetzung in „Siegfried Kracauers Grenzgänge“

Von Maximilian HuschkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Maximilian Huschke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sammelbände sind eigenwillig. Sie sperren sich dem summarischen Urteil, weil ihre Einheit bloß eine äußerliche, nicht die inhaltlicher Kohärenz ist. Offensichtlich wird das, handelt es sich um die Dokumentation einer Konferenz: Abhängig von dieser, hängen die Beiträge eben nur insofern zusammen, als dass sie meist in anderer Form vorgetragen wurden. Im Fall des von Sabine Biebl, Helmut Lethen und Johannes von Moltke herausgegebenen Bandes zu Siegfried Kracauers Rettung des Realen war es eine Tagung mit dem Thema Errettung oder Erlösung der Wirklichkeit? Film, Geschichte und Politik bei Siegfried Kracauer am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften in Wien 2016. Um nun weder dem Ganzen noch seinen Teilen Unrecht zu tun, müssen in der Beurteilung sowohl die Absicht des Bandes wie auch die jedes einzelnen Beitrages jeweils von der Durchführung getrennt betrachtet werden. Die Zersplitterung der Rezeption (verursacht durch die Schwierigkeit, ihn mit seiner Vielzahl an behandelten Themen einer spezifischen Denktradition zuzuordnen) spiegelt sich in gewissem Sinn bereits im Untertitel der Tagung wie auch in den einzelnen Beiträgen des Bandes: Die Offenheit von Kracauers Denken drückt sich in der wesentlichen Loslösung der einzelnen Thematiken – Ästhetik, Historik, Politik – voneinander aus. Mehr noch als allgemein für die Form üblich fällt an diesem Sammelband die materielle Segregation der Texte auf. Zunächst ist jedoch der einheitliche Impuls des Ganzen hervorzuheben, der nach Lethens Einleitung wohl darin besteht, vermittelt durch Kracauer einen „alarmierenden Blick auf die Jetztzeit“ zu werfen, der durch die wesentliche Korrespondenz des geschichtlichen Gehalts von Kracauers Werk mit unserer „Jetztzeit“ ermöglicht wird, so ließe sich ergänzen. Die Banalität, dieser Blick richte sich gerade auf unsere Zeit, weil in ihr „Flucht zu einem Millionenprojekt geworden ist“, und Kracauer deshalb als real Heimatloser wie theoretisch Vertrauter der „transzendentalen Obdachlosigkeit“ zu ihr passe, muss gutmütig überlesen, wer es nicht als intellektuelle Grobschlächtigkeit Lethens denunziert. Ist die Absicht zu begrüßen, die Gegenwart mit Kracauer zu konfrontieren – und nicht umgekehrt –, müssen bereits in der Einleitung Zweifel an der Durchführung aufkommen.

Die darauffolgenden Beiträge lassen sich grob in vier Gruppen einteilen: unpassende, rekonstruierende, aktualisierende und trivialisierende. Unpassend erscheinen die Jörg Späters, Thomas Elsaessers und Maria Zinferts: Nicht, weil sie nicht zu Kracauer arbeiten, sondern weil man den ersten beiden deutlich anmerkt, dass sie ursprünglich nicht zu denen der Konferenz gehörten. Zinferts Beitrag hingegen gibt als Bemerkung zur ursprünglichen Ausstellung von Fotografien Lili und Siegfried Kracauers in einem Textband – ohne die entsprechenden Fotografien – beinahe sein gesamtes Potenzial preis. Der Abdruck der Fotos wäre sicher inhaltlich angemessener gewesen, hätte aber wohl den Rahmen des Bandes gesprengt. Führt der Text Elsaessers aufgrund seiner losen Aneinanderreihung von Assoziationen zur Kontrastierung von „Kracauers Affinitäten“ mit Arnheim, Deleuze, Rancière und Nancy nicht sehr weit, ist der Ausschnitt aus Jörg Späters Kracauer-Biographie, der das intellektuelle Milieu schildert, in dem sich Kracauer in den 1920er Jahren aufhielt, hilfreich für die Beurteilung von dessen früher geistiger Entwicklung. Für Letzteres jedoch wäre ein Blick in Späters hervorragende Biographie ungleich geeigneter, die es immerhin als „eine seitenstarke Beschäftigung mit dessen Leben“ (Hinweis in literaturktik.de 6/2017) in Breite darstellt. Was also diesen Abschnitt notwendig für den vorliegenden Sammelband machte, ist nicht ersichtlich.

Die rekonstruktiven Texte von Gerhard Hommer, Sabine Biebl, Peter Geimer, Johannes von Moltke und Inka Mülder-Bach setzen sich mit teils mehr, teils weniger bekannten und vorbearbeiteten Facetten und Theoremen Kracauers auseinander. So befasst Hommer sich mit der Rolle und der Funktion direkter Rede in den Feuilletons und den Romanen Kracauers und hebt beispielsweise hervor, dass jener, indem er zu Beginn der Angestellten-Studie mit direkter Rede als einer „Distanzierungstechnik“ arbeitet, sich zu der Frau, mit der das ‚Ich‘ spricht, in ein „Verhältnis der Superiorität“ setzt – kurz: er führt sie vor als „Objekt einer Gegenwartsanalyse“. Es sei lediglich die „Inszenierung eines Dialogs, der eher ein Monolog ihres falschen Bewusstseins ist, zu dem er die Stichworte liefert.“ Umgekehrt sei direkte Rede des journalistischen Ichs Kracauers und die auf es hin nur eine Ausnahme, weil sie „ein leak im Text zum realen Autor hin“ sei und so den Beobachter zum Beobachteten macht, weshalb diese Unmittelbarkeit der Rede wiederholt schleunigst vermittelt werden muss, um sie schreibend zu kontrollieren. Während Hommer so auf eine bisher unbeachtete Eigenheit der Kracauerschen Texte in ihrer Funktionsweise hindeutet, wiederholt Moltke Bekanntes von der „Konstruktion im Material“, der Beglaubigung der Realität durch die fotographischen Medien und der „Kamerawirklichkeit“ aus der Theorie des Films. Lediglich die Perspektive auf Kracauers Argumentation durch die Abgrenzung von der Ausstellung The Family of Man und ihrer „anthropozentrische[n] Ideologie des liberal humanism“ zeichnet den Text aus. So kann er zwar Kracauers „schwache Hoffnung auf menschliche Subjektivität und die Kraft der Erfahrung“ herausarbeiten, vermag damit wohl aber wenig Neues zu sagen. Ließen sich auch die anderen Beiträge zur Rekonstruktion zwischen diesen beiden Polen aufreihen, wäre es müßig, ihnen hier ihren spezifischen Platz zuzuweisen. Schlussendlich müssen sich alle die Frage gefallen lassen, weshalb sie der Lektüre des Originals vorzuziehen wären.

Den Versuch, mit Kracauer Möglichkeiten aufzuzeigen und ihn so gleichsam zu aktualisieren, unternimmt Till van Rahden dezidiert in seinem Beitrag zum Lumpensammeln in Bezug auf die Historik des 19. Jahrhunderts. Er mag Recht behalten, dass Kracauers Einsicht in die Notwendigkeit der Rettung des Besonderen gerade „für unser Verständnis des 19. Jahrhunderts zu gelten [scheint], das ganz im Zeichen von abstrakten Schlagworten und gewichtigen Gesamtdarstellungen steht“, die das Einzelne in der Subsumtion aufgehen lassen. Jedoch schwankt er zwischen der doch etwas plumpen, weil unvermittelten Behauptung, dass Kracauer heutigen Historikern etwas zu sagen habe, und der differenzierteren Ausarbeitung, was die heutige Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts im Angesicht Kracauers ist. Dass er diese entscheidende Nuance nicht klären kann, schwächt seinen Beitrag zu einer bloßen Behauptung der Evidenz und seine inhaltliche Auseinandersetzung mit Kracauers Lumpensammeln zur Feststellung ab, dass „es sich für Historiker lohnen [könnte], genau hinzuschauen und die historische Wirklichkeit im Detail zu entdecken“. Ganz anders der Text von Stephanie Baumann, die es weniger explizit auf die Aktualität Kracauers anlegt, jedoch als einzige einen Blick für den begrifflichen Wahrheitsgehalt des Kracauerschen Denkens gewinnt, indem sie sich darauf einlässt, anstatt es nur zu verwalten. Nur Inka Mülder-Bach kommt in ihrem Text zu den Entfremdungschancen, an den Baumann in gewissem Sinn anschließt, einem solchen Modus der Auseinandersetzung nahe. Baumann erarbeitet in Siegfried Kracauers Historiker an einem „Ort, der keine Stätte ist“ ausgehend von Lukács‘ Diagnose von „transzendentaler Obdachlosigkeit“ die reale „Heimatlosigkeit“ der Moderne und die Geschichtsschreibung – neben dem Film – als Modus der Reaktion darauf heraus, der ermöglicht und erfordert, „die ungelösten Fragen der Vergangenheit in die Gegenwart herüberzuholen, um jenen stets relativen Wahrheiten Beachtung zu schenken, die in den Zwischenräumen der fixierten Dogmen verborgen sind.“ Geschichtsschreibung sei so auch eine „Philosophie des Vorläufigen“ (Kracauer), eine nicht stillgestellte, und sie erlaube, „daß wir uns erschöpfend durch die Standpunkte hindurcharbeiten, um uns ihrer zu entledigen“ (Kracauer). Klingt das beinahe nach Adornos Bestimmung der Dialektik aus der Negativen Dialektik und der Einführung in die Dialektik werden die Resultate von Kracauers Auseinandersetzung mit Walter Benjamins Thesen Über den Begriff der Geschichte wiederum offenbar, wenn Baumann festhält, dass eine solche Geschichtsschreibung im Schwebezustand auch die Mahnung einschließe, „sich des Lichts gewahr zu werden, das aus der alten Zeit herüber strömt – ‚ um unsere Finsternis gerade soweit aufzuhellen, daß wir den nächsten Schritt zu tun vermögen.‘“ Trotz und wegen dieses „theologisch-utopischen Moments“ sei die Geschichtsschreibung gleich Sancho Pansa in Kafkas Skizze des Don Quixote: der Freie, der dem Verrückten stoisch folgt – wobei Letzterer wohl in diesem Bild das gesellschaftliche Leben selbst ist. Weiß man nicht, ob hier der Eindruck trügt, Baumann wie Kracauer eskamotierten die von ihnen vorher beschworene utopische Kraft zu Gunsten der „guten Unterhaltung“ des Sancho Pansa, scheint zumindest die Annahme richtig, dass Baumann hier den Kern von Kracauers Begriff der Geschichte offenlegt, an der vielleicht nicht zuletzt wegen der inhärenten Verweise auf Lukács, Benjamin und Bloch gern vorbeigeschrieben wird.

Zuletzt bleibt zu benennen, was die Lektüre des Bandes nicht langwierig macht, wie die teils seichten Rekonstruktionen, sondern anstrengend aufgrund der Zurschaustellung geistiger Trivialisierung. So dampft der Gehalt des von Michael Girke und Michael Gormann-Thelen verfassten E-Mail-Dialogs zum „Lagerdenken“ bei Kracauer und dem Rechtshistoriker Rosenstock-Huessy auf die Namensnennung Rosenstock-Huessys und eine Lektüre von Kracauers Text zu den Arbeitslagern ein. Man sieht sich hier nicht mit wissenschaftlicher Auseinandersetzung, sondern mit der zufälligen Aufreihung einiger Fakten samt dazu geschriebener Meinung konfrontiert. Nicht allein die Form oder die damit einhergehenden expliziten Verweise auf individuelle Überzeugung – „mir erschien“, „mir scheint“ etc. –, die durchaus an anderen Orten auch ihren Platz haben mag, sondern die unzusammenhängende, rein assoziativ vermittelte Darlegung verhindert eine wirkliche inhaltliche Auseinandersetzung und birgt keinerlei Potenzial für die Rezeption. Konnte dieser Einwand hier noch der Form geschuldet scheinen, gilt auch er nicht mehr für die Zeichenreihung von Drehli Robnik unter dem Titel DemoKRACy. Kann die Inszenierung eines diskursiven Gesprächs noch den Schein einer Argumentation für sich reklamieren, ist auch dieser Schleier bei Robnik gelüftet. – Dahinter: die absolute geistige Leere. Kann die anfängliche Aufregung über die Druck- und Tippfehler in der Kracauer-Rezeption noch als Witz eines selbstbewussten Dekonstruktivisten mit entsprechendem Titel gedeutet werden, vergeht einem das Lachen unverzüglich angesichts der Kettung hohler Phrasen, die, als Argument verkauft und mit Konjunktoren zwanghaft gefügt, jeglichen Begriff wie seinen Anspruch entkernen, ohne dabei irgendein Potenzial des Zerbauens auszuweisen. So wird „Film“ zum von Kracauer „‚mitgenommenen‘ Namen für die Erfahrung von Geschichtlichkeit“. Robnik „sondier[t]“ „in seinem generellen Ansatz […] drei Namen aus History, unter denen Kracauers Politik Revue passiert“, ohne vermutlich selbst zu wissen, wie jemand in einem Ansatz, der noch dazu allgemein ist, Namen sondieren oder unter Namen etwas Revue passieren lassen kann. Kracauers Stelle „durch die Dinge denken“ wird ihm zum „Portal(!), an(!) dem sich Kracauers Vorraum(!) unschwer an Bruno Latour’sche Ding-Versammlungen andocken(!) ließe“. An dieser rein formell-grammatikalisch richtigen Verknüpfung bei gleichzeitiger vollkommener Entleerung des verknüpften Sprachmaterials offenbart sich, was bereits anklang: Absolutem Nominalismus, der Namen sondieren, mitnehmen, unter ihnen Theater spielen und Pony reiten kann, ist Sprache als Ding selbst alles und damit die Dinge nichts. Worin Kracauers Begriff der Politik besteht, kann jedenfalls nicht ergründen, wer an bloßen Worten kleben bleibt.

Am Ende erweisen sich also trotz der rekonstruktiven Beiträge, wie dem sauber gearbeiteten von Hommer, und der sehr guten Texte von Baumann und Mülder-Bach, die bereits in der Einleitung geweckten Zweifel an der Durchführung als begründet. Auch wenn die Absicht, eine Auseinandersetzung mit Kracauer zu führen, heute mehr noch als zu anderen Zeiten äußerst geistreiche Resultate zeitigen könnte, ist vielleicht allein der Schluss konsequent, Kracauer besser selbst zu lesen.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Sabine Biebl / Helmut Lethen / Johannes von Moltke (Hg.): Siegfried Kracauers Grenzgänge. Zur Rettung des Realen.
Campus Verlag, Frankfurt a. M. 2017.
271 Seiten, 24,95 EUR.
ISBN-13: 9783593507286

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