Was wirklich geschah in Ozeanien
Sandra Newmans dystopischer Roman „Julia“ erzählt davon, wie Winstons Geliebte das von George Orwell erdachte Jahr 1984 erlebte
Von Rolf Löchel
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDass Sandra Newman überaus originelle Science-Fiction-Welten entwerfen kann, sollte sich seit der Übersetzung ihres Romans Ice Cream Star auch hierzulande herumgesprochen haben. Ihr Nachfolgewerk Himmel brilliert ebenfalls mit der hohen Kunst, ein phantastisches Geschehen auf ganz neue Weise zu Papier zu bringen. Ähnliche originelle Ideen wie die beiden genannten Romane scheint ihr Werk Julia nicht zu versprechen, fußt es doch auf George Orwells dystopischem Klassiker 1984. Diesen erzählt Newman nun aus Sicht der Geliebten des Protagonisten, mithin also aus weiblicher Sicht. Das wirkt nicht sonderlich innovativ. Zudem hat Margret Atwood vor einigen Jahren erklärt, ihren Roman Der Report der Magd habe sie in den 1970er Jahren mit der Absicht verfasst, „eine Dystopie aus weiblicher Perspektive“ zu schreiben. Also scheint Newmans Julia auch in dieser Hinsicht kein Neuland zu betreten.
Schlägt man das Buch jedoch auf, zeigt sich schnell, dass seiner Autorin einmal mehr ein höchst lesenswerter Roman gelungen ist, der Orwells 1984 keineswegs schlicht nacherzählt (und sei es auch aus weiblicher Perspektive), sondern in mehrfacher Hinsicht weit über ihn hinausgeht.
Julia ist zwar aus der Sicht seiner Protagonistin erzählt, ohne dass diese allerdings als Ich-Erzählerin auftritt. Nur höchst selten schaltet sich einmal eine allwissende Erzählinstanz ein, etwa indem sie auf zukünftige Ereignisse vorausblickt, von denen die Protagonistin noch nichts wissen kann, oder in das Innenleben einer anderen Figur schaut wie etwa dasjenige des Antiquars, bei dem Winston den Briefbeschwerer gekauft hat, und der dem Paar später ein über seinem Geschäft gelegenes Zimmer als Liebesnest zur Verfügung stellt. Über ihn erfahren die Lesenden, dass er „selbstloser und hingebungsvoller [hasste], als die meisten lieben konnte“ und sogar, wen er „am liebsten hasste“.
Winston wiederum wird ganz durch Julias Augen gesehen. So hält sie schon zu Beginn wenig von „diesem knurrigen, grimmigen Typen“, der ihrer Ansicht nach unter einem „besonders komplizierten Fall von Sauer Gewordenem Sex [leidet]“. Im Stillen nennt sie ihn „Old Misery“. Später sieht sie in Winston „ein[en] Junge[n], der sich in die Wahrheit verliebt hatte und nie ganz erwachsen geworden“ ist.
Neben etlichen bereits aus Orwells Werk bekannten Figuren, bevölkern Newmans Roman auch einige neue Gestalten, unter denen Julias Freundin Vicky die interessanteste ist. Die beiden jungen Frauen leben im gleichen Wohnheim und Julia ist „möglicherweise ein kleines bisschen verknallt“ in das Mädchen, das gerne eine „Rebellin“ werden möchte. Doch wird das Figurenkabinett auch auf andere Weise erweitert. Sogar der Große Bruder überblickt nun nicht mehr nur als stets unsichtbarer und gleichwohl allwissender, aber in gewisser Weise körperloser Übervater alles, was sich in seinem Herrschaftsgebiet zuträgt, sondern bekommt höchstselbst einen Auftritt, und zwar in Fleisch und Blut.
Was nun Julia betrifft, so macht sie eine alles andere als gradlinige Entwicklung durch. Ihre Eltern kämpften in den 1950er Jahren an der Seite des späteren Großen Bruders, fielen dann aber einer der parteiinternen ‚Säuberungen’ zum Opfer. Julia selbst ist hingegen völlig unpolitisch. Aufgewachsen in einer der George Orwell noch unbekannten „Semiautonomen Zonen“ hält sie sich zwar für eine „abgebrühte Zynikerin“, doch hat sie sich bis zum Beginn der Handlung „ihr ganzes Leben lang […] an die ungeschriebenen Regeln gehalten, die sie von Schuld fernhielten“. Das ändert sich allerdings schon nach ein paar Dutzend Seiten. Denn Julia beginnt nicht nur eine sexuelle Affäre mit Winston, sondern hat nebenbei auch noch Sex mit anderen bereits aus 1984 bekannten Männern, die allesamt „nach Julias Pfeife tanzen“. Sie begeht also in vielfacher Hinsicht „Sexkrim“, bis sie schließlich „offenen Auges auf den Abgrund zu[schreitet]“.
Alle Zusammenkünfte mit Winston – von der ersten, zufälligen Begegnung über das Treffen auf der Lichtung bin hin zur gemeinsamen Festnahme – tragen sich auch in Newmans Roman exakt so zu, wie von Orwell geschildert. Alle Dialoge zwischen den beiden wurden sogar wörtlich aus 1984 übernommen. Doch werden sie alle so erzählt, wie Julia sie wahrnimmt. So langweilt sie etwa Winstons Beschreibung seiner früheren Frau. Sie „glich allen Ex-Frauen, ein freudloser Drache, der nur über Partei-Programme sprach“. Auch Ereignisse, bei denen Julia nicht anwesend war, die jedoch in 1984 vorkommen, werden mit der Handlung in Julia verknüpft und aus ihrer Sicht geschildert. So erfährt sie etwa davon, dass Winston die abgerissene Hand eines Kindes achtlos in den Rinnstein getreten hat. Auch wird ausführlich erzählt, wie Julia die Narbe zugefügt wird, die Winston auf ihrem verunstalteten Gesicht bemerkt, als sich die beiden nach überstandener Folter zum letzten Mal sehen.
Vor allem aber erscheint die Liebesbeziehung des Paares in einem völlig anderen Licht. Schon bald nach Beginn der Liebschaft mit Winston ist Julia „zusehends von ihm genervt und überlegt[], wie sie die Affäre taktvoll beenden könnte“. Allein der Gedanke, dass er „in seinem verflixten Tagebuch über sie schreiben“ wird, „sobald sie ihm den Laufpass gab“, lässt sie davor zurückschrecken, ihn zu verlassen.
Doch nicht nur die Liaison der beiden stellt sich nun ganz anders dar, als bisher bekannt war. Nicht zuletzt unterscheidet sich Newmans Roman von demjenigen Orwells auch dadurch, dass er die spezifische Unterdrückung des weiblichen Geschlechts thematisiert, von der Orwell nicht das Geringste weiß. So müssen Frauen an einem „Programm für künstliche Befruchtung“ teilnehmen, bei dem es sich um „die von der Partei bevorzugte Methode, sich fortzupflanzen“ handelt. Denn nicht nur vor- und außerehelicher Sex gilt als „Quelle abtrünniger Loyalität“, sondern auch derjenige eines verheirateten Paares. Andererseits wissen schwangere Frauen das Kunstfruchtprogramm zu nutzen, indem sie ihm beitreten, um zu „vertuschen, dass sie Sexkrim begangen“ haben. Kinder, die im Rahmen des Programms entstehen, werden unmittelbar nach der Niederkunft „von ihren Gebärenden getrennt und in Säuglingsaufzuchtstationen von leidenschaftslosen Arbeitern aufgezogen“. Schwangerschaftsabbrüche sind selbstverständlich verboten. Doch werden Schwangere von dem werdenden Vater auch schon einmal zu einer solchen Straftat gezwungen, während andere Frauen als Gebärmaschinen eingesetzt werden und (angebliche) Kinder des Großen Bruders austragen müssen. Doch nicht nur die besondere Misogynie des Regimes wird herausgestellt, auch seine mörderische Homosexuellenfeindschaft spielt eine gewisse Rolle.
Über die spezifische Misogynie des Systems hinaus werden Geschichte und Gesellschaft des von Orwell erdachten Staates Ozeanien in Newmans Romans auch insgesamt weitaus detaillierter und plastischer dargestellt. Ebenso die soziale Hierarchie, wobei die Lesenden vor allem mit dem Leben der „fickenden Klasse“ in den Proletariervierteln vertraut gemacht werden. Auch hat sich Newman manches bezeichnende Detail neu ausgedacht. So geht es beim staatlich propagierten „Wahren Veganismus“ nicht etwa „nur darum, auf Fleisch zu verzichten, sondern alle Tiere wegen ihres perversen Lebens auszurotten“. Doch bietet Newman nicht nur tiefere Einblicke in die gesellschaftliche Struktur und die Geschichte Ozeaniens, die Handlungszeit des Romans reicht auch einige – nicht unwichtige – Wochen, vielleicht Monate über diejenige von 1984 hinaus.
Ähnlich wie Margaret Atwoods Roman Die Zeuginnen die Welt des Reports der Magd genauer ausfabuliert und weiterführt, weitet Newmans Julia den Blick auf Ozeanien. Allerdings schlägt sie am Ende eine andere Volte als Atwood. Überhaupt wartet Newman mit verschiedenen Plottwists auf, von denen zwar einige vorhersehbar sein mögen, andere jedoch ganz unerwartet kommen. Obwohl die Geschichte Winstons und Ozeaniens wohlbekannt zu sein scheint, versteht Newman auf diese Weise, die Lesenden immer wieder zu überraschen. Wer also wissen will, wie es anno 1984 in Ozeanien wirklich zugegangen ist, sollte zu Sandra Newmans Roman greifen, ohne den Orwells allerdings aus der Hand zu legen.
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