Das Leben als Feind des Schreibens

Margaret Atwoods neuer Sammelband nichtfiktionaler Texte stellt und beantwortet „Brennende Fragen“

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Margaret Atwood ist auch hierzulande schon längst keine Unbekannte mehr. Das ist vor allem der Serien-Verfilmung ihres Mitte der 1980er Jahre erschienenen dystopischen SF-Romans Der Report der Magd zu verdanken, in deren letzten Staffeln auch Motive aus der mehr als drei Jahrzehnte nach dem Report entstandenen Fortsetzung Die Zeuginnen eingeflossen sind. Nicht ganz unbekannt ist auch ihre MaddAddam-Trilogie, die ebenfalls der dystopischen Science-Fiction zugerechnet werden kann. Die Autorin selbst spricht allerdings lieber von Speculative Fiction, da die Handlung der Romane zwar in der Zukunft angesiedelt ist, sich aber nicht etwa in den Tiefen des Weltraums, anderen Universen oder in unabsehbar fernen Zeiten abspielt, sondern in der nahen Zukunft unseres blauen Planeten. Zudem, und das ist zumindest ebenso wichtig, denkt sie sich keine phantastischen Technologien oder Gesellschaften aus, sondern „extrapolier[t] aus heutigen Gegebenheiten und Entwicklungen, projizier[t] das Ganze in die Zukunft und zeig[t], was dabei herauskommen könnte“. Auch ist keine der Unmenschlichkeiten, die den Frauen im Report der Magd angetan werden, ihrer Phantasie entsprungen. Vielmehr werden oder wurden sie alle zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten tatsächlich verübt. Mehr noch: „Wer einen Roman schreibt“, sagt die Schriftstellerin, „muss das Grauen fein dosieren. Packt man all das schräge Zeug hinein, das auf der Welt passiert, kann nur noch ein psychopatischer Sadist das Buch verkraften.“

Mag es sich bei den genannten Romanen nun um Science Fiction oder Speculative Fiction handeln, so schreibt Atwood keineswegs nur dies. Das Spektrum der Genres, in denen sie unterwegs ist, reicht vielmehr von Historienromanen bis hin zu Krimis. Ebenso vielfältig sind andere Textsorten, die sie meisterlich beherrscht. Neben Romanen sind dies etwa Kurzgeschichten und Erzählungen, Gedichte, Essays und Rezensionen. Nun ist – als dritter seiner Art – ein weiterer Sammelband mit nichtfiktionalen Texten aus Atwoods Feder auf den Markt gekommen. Die insgesamt mehr als sechzig Essays, Vorworte, Vorträge, Reden und Rezensionen entstanden in den Jahren 2004 bis 2021, sind also jüngeren Datums als diejenigen der vorangegangenen Bände. Jan Schönherr, Eva Regul und Martina Tichy haben sie ins Deutsche übertragen.

Nicht jeder der Texte bietet bahnbrechende oder doch zumindest überraschende Gedanken wie denjenigen, dass es sich bei Horror um „eine der literarischsten Textsorten überhaupt“ handelt. Doch beeindruckt allein schon ihre thematische Spannbreite, die nicht nur (gesellschafts-)politische Aktualitäten, Zukunftsfragen, das Legen von Tarot-Karten, Kindheits- und Jugenderinnerungen der Autorin, diverse ihrer Lektüreerfahrungen (etwa mit den Werken Kafkas), „das Zweitroman-Syndrom“, die Bedeutung und Gefährdung der Menschenrechte und die „Bäume des Lebens“ umfasst. Auch ist zu erfahren, was Rousseau und die Nazis gemein haben (das Frauenbild), oder die Autorin erklärt, warum „die Dichtkunst einst ganz wesentlich zum Überleben der menschlichen Spezies beigetragen hat“. Angesichts ihres Œuvres ist es wenig verwunderlich, dass Atwood auch der dringenden Frage nachgeht, ob SchriftstellerInnen politische AkteurInnen sein sollten. Dabei zeigt sich die Kanadierin in einem 2016 verfassten Text über die politische Entwicklung in den USA zutiefst besorgt. Denn in Trumps damaligem Wahlkampf „haben wir eine Welle der Misogynie gesehen, wie wir sie seit den Hexenverfolgungen des siebzehnten Jahrhunderts nicht mehr erlebt haben“. Es sei dies „eine Warnung, dass uns die hart erkämpften Rechte für Frauen und Mädchen, die für viele von uns inzwischen selbstverständlich sind, jederzeit wieder genommen werden können“. Tatsächlich werden sie ja in zahlreichen Ländern von den USA über Polen bis nach Russland schon seit etlichen Jahren zurückgedreht, von Afghanistan ganz zu schweigen.

Etliche der Texte aber gelten ihrer Profession, dem literarischen Schreiben, dem „das Leben“ zwar „Material […] liefern“ könne, zugleich aber auch „sein Feind“ sei. Romane wiederum würden nicht geschrieben, um Antworten zu bieten, sondern um Fragen zu stellen. Wer sie allerdings „danach beurteilt, ob sie eine gerechte Sache vertreten oder die ‚richtige’ Gesinnung an den Tag legen, fällt genau der Denkweise anheim, die am Ende zu Zensur führt“. Überhaupt wendet sich Atwood in einem der jüngsten Texte gegen den „moralinsaure[n] Blick auf Literatur“, dem zufolge „nichts irgendwo Aneckendes […] publiziert werden [darf]“.

In Rezensionen und Nachrufen würdigt Atwood Wirken und Werke verschiedener ihrer KollegInnen der schreibenden Zunft. Dabei hat sie nicht das geringste Problem damit, diese auch schon einmal in den allerhöchsten Tönen zu loben wie etwa Marilyn Frenchs „gigantische“ Geschichte der Frauen From Eve to Dawn, die sich zu de Beauvoirs Das andere Geschlecht verhalte „wie der Wolf zum Pudel“. Seine Anschaffung lohne sich überdies allein schon wegen des Literaturverzeichnisses. Die „ebenso renommierte wie brillante Schriftstellerin Ursula K. Le Guin“ wiederum wird in einem Nachruf gewürdigtund Alice Munro sind gleich mehrere Texte gewidmet.

Was ihre eigene schriftstellerische Tätigkeit betrifft, gibt Atwood Auskunft über die Entstehung und das Anliegen verschiedener ihrer Romane. Dabei bietet sie einige Einblicke in ihre Schreibwerkstatt. So erklärt sie etwa, warum sie Die Geschichte von Zeb geschrieben hat, und dass es sich bei „Oryx und Crake um einen „Abenteuerroman, gemischt mit einer menippeischen Satire“ handelt. Oder sie verrät, dass sie den Report der Magd Anfang der 1980er in West-Berlin geschrieben hat, wo „der richtige Ton für einen Roman über modernen Totalitarismus […] förmlich in der Luft [lag]“. All diese „Bücher über unschöne Zukünfte“ habe sie „in der Hoffnung [geschrieben], dass wir sie nicht Wirklichkeit werden lassen“.

Gleichgültig, ob Atwood über ihre eigenen Romane, die ihrer KollegInnen, über Politik, Gesellschaft, persönliche Erinnerungen oder was auch immer schreibt, nie schlägt sie einen hochtrabenden Ton an. Im Gegenteil, stets bereitet schon alleine die unprätentiöse Eleganz ihrer Formulierungen Vergnügen, in die gelegentlich fast schon aphoristische Sentenzen einfließen. Sie besagen etwa, „der Preis der Freiheit“ sei „ewige Wachsamkeit“ und „die Feder […] ein mächtiges Schwert – aber nur im Nachhinein“.

Gelegentlich bleibt Atwood ein wenig vage oder ungenau. So etwa, wenn sie auf „eins der verhasstesten Zitate aus der Bürgerrechtsbewegung“ zu sprechen kommt, das ihr zufolge lautet: „‚Für Frauen ist bei uns nur Platz, wenn sie auf dem Rücken liegen’“. Es war der für seinen aggressiven Maskulinismus berüchtigte afroamerikanische Antirassist Stokely Carmichael, der 1964 anlässlich eines Positionspapiers zur Rolle von Frauen im Student Nonviolent Coordinating Committee ‚scherzte’: „The only position for women in SNCC is prone“, also (mit dem Gesicht nach unten) liegend.

Hier und an manch anderer Stelle wäre ein erläuternder Kommentar wünschenswert gewesen. Auch sind die Angaben im Quellenverzeichnis der Texte nicht immer ganz zuverlässig. Entgegen den dortigen Angaben ist der am 24.1.2018 unter dem Titel Ursula K Le Guin by Margaret Atwood: One oft the Literary Greats of the 20th Century im Guardian erschienene Artikel nicht mit Atwoods am gleichen Tag in der Washington Post publizierten Nachruf We Lost Ursula Le Guin When We Needed Her Most identisch.

Unbenommen von solchen eher marginalen Kritikpunkten bleibt es empfehlenswert, zu dem Band zu greifen. Denn selbst wem das Thema des einen oder anderen Textes nicht sonderlich interessant erscheinen mag, wird seine Lektüre doch eine Freude sein. Stilistischer Brillanz und kanadischem Humor sei Dank.

Titelbild

Margaret Atwood: Brennende Fragen. Essays.
Aus dem Englischen von Eva Regul und Martina Tichy.
Berlin Verlag, Berlin 2023.
704 Seiten, 32,00 EUR.
ISBN-13: 9783827014733

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