Rückwärts durch ein Jahrhundert

Inger-Maria Mahlke erhält für ihren Roman „Archipel“ aus guten Gründen den Deutschen Buchpreis 2018

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am 26. Februar 1933 – ein Tag vor dem Reichstagsbrand – erschien in der Weltbühne Walter Mehrings Gedicht Die Sage vom Großen Krebs. Wie eine böse Mär geht dieser Krebs im Mohriner See um: „Und wenn die berauschte Kreatur / Vom Traume erwacht / Geht alles rückwärts und verquer / rückwärts und verquer“.

Wenige Monate später wurde in Spanien die faschistische Falange-Partei gegründet. Auf der Insel Teneriffa fand sie damals Rückhalt in elitären Zirkeln, die 1936 den neuen Militärgouverneur Francisco Franco willkommen hießen, nachdem er von der Volksfrontregierung auf diesen fernen Vorposten wegberufen worden war. Unter den Falangisten der ersten Stunde war auch der beschäftigungslose Lorenzo González, der mit Adela Moore, der Tochter eines irischen Unternehmers, verheiratet war. Die Moores hatten schon Mitte des 19. Jahrhunderts Irland verlassen, um auf Teneriffa ein Handelshaus für den Export von Tabak, Bananen, Tomaten aufzubauen. Die Kanarischen Inseln gehörten, trotz ihrer Zugehörigkeit zu Spanien, gewissermaßen mit zum britischen Weltreich, der Londoner Canary Wharf war eigens für diesen Handel gebaut worden. Davon erzählt Inger-Maria Mahlke in ihrem Roman Archipel.

Die Unrast, die Europa in jenen 1930er Jahren heimsuchte, wurde auch auf Teneriffa ausgetragen. Der Falange stand die Volksfront gegenüber. Sidney Fellows, ein britischer Händler und Freund der Moores, wusste jedoch: „gefährlich wird es, wenn man niemanden sieht“, der auf der Straße protestiert. Auf Seiten der Faschisten versprach sich Lorenzo González Chancen für die eigene Karriere. Adela belächelte das als „politischen Spleen“. Dessen ungeachtet und zum Schaden der ehelichen Harmonie stieg Lorenzo indes bald zum respektierten Besitzer einer parteitreuen Zeitung auf. Als nach dem Krieg der Caudillo Franco sein Regime auch wirtschaftlich festigte, ehelichte die gemeinsame Tochter Francisca einen schneidigen Militär aus der Dynastie der Bernadottes.

Derweil lebte die Familie Baute in weniger begüterten Verhältnissen. Augusto Baute verlor unter dem Franco-Regime seine Apotheke und einen seiner beiden Söhne. Er wurde inhaftiert und blieb verschollen. Viele Jahre später gelang es Julio, dem jüngeren der beiden, durch Heirat Inhaber eines Elektronik-Geschäfts zu werden. Aus dieser Ehe mit Bernarda ging 1964 die Tochter Ana hervor. Sie sollte es weit bringen, zum einen als Politikerin für die konservative Partei, zum anderen als Gemahlin von Felipe Bernadotte, dem letzten „Konquistador“. In der gemeinsamen Tochter Rosa Bernadotte Baute verbinden sich schließlich die ungleichen Familienzweige.

Im Zeitraffer erzählt Inger-Maria Mahlke in Archipel eine Familiensaga über mehrere Generationen und spiegelt darin die politischen und gesellschaftlichen Verwerfungen Teneriffas in den letzten 100 Jahren. Ob arm oder reich geboren, das Glück scheint keinem ihrer Protagonisten auf Dauer hold. Alle sind sie Gezeichnete und Versehrte: im Kern verzweifelte Menschen, die unter der Familie, der Politik, dem Schicksal leiden. Ana droht ein Korruptionsskandal. Felipe löst sich mehr und mehr in Whisky auf. Rosa vertut ihre Zeit antriebslos mit einer Reality-TV-Serie namens „Survivor“.

1919 hatten die Eltern von Julio Baute, der, mittlerweile 95 Jahre alt, im Altenheim lebt, an dessen Taufe einander „Auf die Zukunft“ zugerufen. 2015 fragt Rosa, die ihr Kunststudium geschmissen hat: „Was ist noch möglich, wenn alles möglich ist?“ In diesem Spannungsfeld faltet Inger-Maria Mahlkes ihr Familienarchipel auf. Dabei überrascht sie mit einem raffinierten Dreh. Indem sie die 100 Jahre im Krebsgang rückwärts und verquer erzählt, schreibt sie ihrem Roman eine doppelte Rotation ein. Die Vergangenheit erschließt sich uns – zwangsläufig – immer erst aus dem Wissen, was daraus geworden ist. Erst dann wirft sie ihren Schatten auf die Gegenwart zurück.

Demzufolge schiebt sich hier das „Was bleibt möglich?“ vor die Zukunftshoffnung. Vom breit angelegten Anfang, der in der Gegenwart spielt, zoomt der Roman in unterschiedlichen Zeitsprüngen sukzessive in die Vergangenheit zurück und verleiht den erwachsenen Personen Ana, Felipe oder Julio Schritt für Schritt ein jüngeres Gesicht. Ähneln diese bereits dem späteren? Und wie gehen die vielen Möglichkeiten verloren, die ihnen in der Jugend noch offenstehen? Der historische Zoom legt Schichten frei, offenbart jedoch zugleich Brüche und Lücken und somit die Unmöglichkeit einer gesicherten Voraussage.

Politische Prozesse und soziale Entwicklungen bilden für Inger-Maria Mahlke ein grobes Gerüst, in das sie ihre Figuren einbettet. Archipel kreist um zwei Epizentren: die touristische Gegenwart mit ihrem Klientelismus und die Franco-Vergangenheit mit ihrer repressiven Bevormundung. Im Übergang vom einen zum anderen finden die verzweigten Familien Bernadotte und Baute zusammen. Auch wenn politische Ereignisse wie die Machtübernahme durch die Falange oder der Putschversuch von Oberst Tejero 1981 ihre Schatten werfen, hütet sich die Erzählerin vor voreiligen Interpretationen. Das Malaise geht viel tiefer, es nagt an der Seele der Menschen. Die Autorin legt ihr Augenmerk auf die alltäglichen Begebenheiten und familiären Konstellationen, die sie mit zuweilen mikroskopischer Auflösung beobachtet. Sie geht gerne ganz nah an die Dinge heran – wie gleich zu Beginn des Buches: „Es ist der 9. Juli 2015, vierzehn Uhr und zwei, drei kleinliche Minuten, in La Laguna, der alten Hauptstadt des Archipels, beträgt die Lufttemperatur 29,1 Grad“.

Mahlke erzählt ausgesprochen detailreich, mit atmosphärisch dichten Bildern, zugleich kantig und geradlinig. Sie gibt den Figuren weiten Raum, um ihre Stimmungen auszuleben. Subtil setzt sie Querbezüge, nimmt Lücken in Kauf und hält sich mit dem vorschnellen Ausplaudern von Informationen zurück. Archipel muss man sich erlesen, in und zwischen den Zeilen, die Autorin gibt ihre Geschichte nicht leichtfertig preis.

Der Roman demonstriert, wie Geschichte prozesshaft und zugleich unvorhersehbar in Sprüngen verläuft. Im Rückblick nehmen wir zuerst jene Aspekte wahr, die uns ins Erklärungsmuster des „so musste es kommen“ passen. Doch die Vergangenheit ist nicht schlüssig von der Gegenwart ableitbar. Deshalb bleiben die historischen Ausschnitte immer auch frei und losgelöst, eine andere Zukunft wäre denkbar, die zu einem anderen Buch führen müsste. Das macht diese gebrochene Erzählung so reizvoll. Dass die Autorin dabei auch die einzelnen Kapitel formal variiert und jeweils leicht anders strukturiert, ist Teil dieser Freistellung.

Auch wenn die Familiensaga retrospektiv brüchig und diskontinuierlich erzählt wird, formt sie sich zu einer Geschichte, die sich durch die Lektüre gut erschließt. Archipel ist ein fiktiver Roman und zugleich ein historiografisches Anschauungsbeispiel. Inger-Maria Mahlke rückt die Gegenwart ins historische Licht – vielleicht auch, damit, wie es bei Walter Mehring heißt, er „nimmermehr loskomm / Der große Krebs“.

Titelbild

Inger Maria Mahlke: Archipel. Roman.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2018.
432 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783498042240

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