Gegen den Bocksgesang

Heinrich Manns publizistische Texte der Jahre 1926 bis 1929 zeigen den Autor von „Untertan“ und „Professor Unrat“ als eingreifenden Intellektuellen – und als aktuell wie eh und je

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer die aktuellen Nachrichten verfolgt, wird sich gelegentlich vorkommen wie im falschen Jahrhundert. Heimat- und Migrations-Debatten, Drohgebärden zwischen Regierungsparteien, ein hohes Misstrauen gegenüber dem politischen Establishment und einem dominanten Europa, der Aufstieg populistischer, autokratischer, dabei nationalistischer Parteien, die Rede vom Riss, der durch die Gesellschaft gehe, Proteste gegen den Gender-Wahn und gegen alle Zumutungen der Zivilgesellschaft, Autorinnen und Autoren, die sich zu Pegida-Demonstrationen bekennen, die ihr Unbehagen mit der Gegenwart zu Markte tragen, von der Revitalisierung mythischer Ordnungen träumen und das auch noch als Reflexion ausgeben.

Damit aber nicht genug, am vermeintlich anderen Ende des politischen Spektrums ist der Wiederaufstieg antikapitalistischer Bewegungen zu bemerken, die aggressiv auftreten, sich angestrengt ihrer Massenbasis versichern wollen, darauf beharren, den Ursprung des Schlechten in der Welt bereits identifiziert zu haben, und die so schnell wieder verschwinden, dass man sich nach kurzer Zeit kaum noch ihrer Namen erinnert.

Nichts davon ist so wie am Anfang des 20. Jahrhunderts, aber wenn es etwas gibt, was die bewegten 1920er Jahre mit der Gegenwart gemein haben, dann die traumwandlerische Sicherheit, mit der ein offenes, demokratisches System sich selbst zu zerlegen versucht. Mit dem Unterschied, dass jenes Deutschland vor 100 Jahren sich überhaupt erst ans Demokratische gewöhnen musste und wenig Übung darin hatte, während unsere Gegenwart eigentlich wissen müsste, was es daran hat. Aber, wie Heinrich Mann in einem seiner Texte, deren Zusammenstellung hier zu besprechen ist, meint: Das Gedächtnis der Menschen „reicht gewöhnlich nicht weiter als sechs Monate rückwärts“ (geschrieben ins Vorwort der Neuausgabe des Untertan von 1929).

Was darauf verweist, dass es noch etwas gibt, was diese beiden Perioden deutscher Geschichte vergleichbar macht, nämlich die Vergeblichkeit, mit der Intellektuelle und Autoren wie Heinrich Mann gegen diese anschwellenden Bockgesänge anschreiben.

Eine Lektüre der Essays und der Publizistik Heinrich Manns der Jahre 1926 bis 1929 ist aufwühlend und erschreckend. Vor allem deshalb, weil in diesen etwas mehr als 200 Texten aktuelle Themen (in Varianten, die wir vergessen zu haben scheinen) auftauchen, die wie für eine heutige Besichtigung gemacht sind. Und weil in diesen Texten die Vergeblichkeit der Bemühungen des Hoffnungsträgers Heinrich Mann eingeschrieben ist. All das, was er publizistisch gegen den Aufstieg des Faschismus hat tun können, wie er später eingestehen wird, habe er getan. Und es war doch vergeblich. Heinrich Manns intensiver Einsatz für eine offene Gesellschaft, für einen dauerhaften Frieden und bleibende Aussöhnung mit Frankreich insbesondere, für die für Mann natürliche Gemeinschaft mit dem Nachbarn im Westen, mit dem Deutschland so viel verband – all das umsonst. Seine Zuversicht in die Jugend hat getrogen, sie hat die Machtübernahme durch den Nationalsozialismus nicht verhindern können, nicht die humanitäre und politische Katastrophe, nicht die Vertreibung von Hunderttausenden von Deutschen aus ihrem Land, nicht die Vernichtung von 6 Millionen europäischen Juden, nicht den nächsten Weltkrieg mit über 60 Millionen Opfern.

Aber nicht Heinrich Mann ist anzuklagen, nicht die Wirkungslosigkeit von Literatur, sondern eine Gesellschaft und deren politische Klasse, die sich naiv bis gewissenlos einem verbrecherischen Regime ausgeliefert haben. Wenn irgendetwas an Heinrich Manns Texten aktuell ist, dann sein Versuch, alles, was ihm möglich war, dagegen zu tun.

In den Jahren 1926 bis 1929 hatte Heinrich Mann sicher den Höhepunkt seiner Laufbahn als Schriftsteller erreicht. Im Jahr 1926 wurde er mit der ersten Zuwahl in die Sektion für Dichtkunst der Preußischen Akademie der Künste berufen, deren Vorsitzender er später wurde – und die ihn 1933 mit Schimpf und Schande vom Hof und aus Deutschland jagte. Mann hat sich intensiv der Arbeit der sogenannten „Dichterakademie“ gewidmet, was nicht zuletzt sein hier abgedruckter Bericht zum Verhältnis von „Dichtkunst und Politik“ zueinander zeigt, den er an die Sektion gerichtet hat. Er stieg damit zu einem der wichtigsten und einflussreichsten älteren Autoren der jungen Demokratie in Deutschland auf, die ihm zur Herzenssache und zum Ideal wurde. Zwar konnte Mann, wie verschiedenen Beiträgen des Bandes zu entnehmen ist, der Sachlichkeit, der sich die junge Generation verpflichtet sah, nichts abgewinnen. Seine Sache war der Geist, war das Ideal. Aber er setzte dennoch auf die Jugend und ihre Widerstandskraft. Er setzte auf die Aussöhnung mit dem angeblichen Erbfeind Frankreich. Dazu seien die Ähnlichkeiten zwischen den beiden großen Kulturnationen zu groß. So sehr ähnelten die jüngeren Literaturen der beiden Länder einander, meinte er, dass er versucht war, sie zu einer Strömung zusammenzufassen.

Es ist vielleicht diesem Engagement zu verdanken, dass nicht Manns Romane der 1920er Jahre, sondern seine Essays besonders hervorzuheben sind. Produktiv blieb Mann: Er schrieb weiter Romane und Theaterstücke, aber Texte wie Der Kopf (1925), mit dem er die Trilogie um den Untertan abschloss, oder Die große Sache (1930) verblassen doch gegen frühere Arbeiten wie Der Untertan (1916/18), Professor Unrat (1905), mit dessen Verfilmung 1930 ja die Karriere Marlene Dietrichs begann, oder auch Die kleine Stadt (1909). Auch gegen seinen Exil-Roman um Henri IV. sieht das literarische Werk der 1920er Jahr matt aus.

Anders hingegen seine Essays und publizistischen Texte, in denen er sich entschieden für die deutsche Demokratie, für die Rechte der Arbeiter und Armen, für ein einiges Europa, für die Aussöhnung mit Frankreich, gegen die Zensur und die Todesstrafe aussprach. Heinrich Mann nutzte seine Prominenz, um sich intensiv in die publizistischen Debatten seiner Zeit einzumischen. Zahlreiche Umfragen wurden an ihn gerichtet, er sprach auf vielen Veranstaltungen, wurde insbesondere immer wieder von französischen Blättern und Institutionen angesprochen. Die Aussöhnung mit Frankreich hat dabei sicherlich seine größte Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Immer wieder kommt Mann auf französische Autoren und ihr Werk zu sprechen, immer wieder nimmt er auch in Frankreich Stellung zur deutsch-französischen Aussöhnung, die nach dem Großen Krieg und der Besetzung des Rheinlands, die bis 1930 andauerte, als wohl größte Hürde für ein vereinigtes Europa anzusehen war. Die Idee eines einigen Europas treibt Mann sichtlich um, mehr noch, er macht immer wieder stark, dass es Ideen sind, die die Geschichte vorantreiben, nicht ökonomische Faktoren.

Dass Mann dabei seine politische Position eher auf der Linken als auf der Rechten sah, wird nach alledem kaum verwundern. Er selbst gibt sich in einem kurzen Text davon überzeugt, dass der Geist eher links als rechts steht. Von einem nationalistischen und chauvinistischen Denken könne kaum etwas kommen, das der Verbesserung der Lebensverhältnisse der breiten Massen zuträglich sei, das die Welt vorwärts brächte und glücklicher machte, betont Mann. Stattdessen verbreiteten sie nur Hass, wie er in seinen Antwortbrief an einen Völkischen schreibt. Es fällt schwer, Mann nicht recht zu geben.

Bei aller Kritik, die er an der modernen Welt hatte, hat er sich zugleich ihren Veränderungen nicht verweigern wollen. In Beiträgen wie Bubikopf (der in den Essay-Band Sieben Jahre aufgenommen wurde), zeigt er sich deutlich weniger beunruhigt von den Veränderungen in den Geschlechterrollen als etwa ein Carl Sternheim, für den das Aufkommen von „Girl“ und „Flapper“ eine größere Revolution zu sein schien als die Ereignisse im Russland von 1917. Auch Heinrich Mann, der 1931 sechzig Jahre alt wurde, gehörte der älteren Autorengeneration an, die die Moderne der ersten beiden Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts geprägt hatte. Das zeigt sich an seinem thematischen Zugriff ebenso wie an seinen Kernbegrifflichkeiten oder an seinem Schreibstil. Aber Mann erweist sich zugleich als beeindruckend tolerant, was es ihm erlaubte, emanzipierte Frauen, kurze Röcke, Sport treibende Jugendliche und anderes mehr als Zeitphänomene zu akzeptieren, denen man mit kulturkritischer Abwehr kaum beikommen konnte. Das macht ihn in den späten 1920er Jahren zu einer außergewöhnlichen Gestalt, die diese erste deutsche Demokratie und deren Kultur angemessen zu repräsentieren verstand. Das machte ihn allerdings auch zur Zielscheibe des Nationalsozialismus, der ihn, anders als seinen Bruder Thomas (dessen Betrachtungen eines Unpolitischen von 1918 hier ihre unselige Nachwirkung zeigten), nie umworben hat.

Zum jüngeren Bruder hat sich Heinrich Mann in diesen vier Jahren übrigens nicht häufig geäußert, außer in einem Beitrag zur Verleihung des Literaturnobelpreises an Thomas Mann im Dezember 1929, dem man die früheren Verwerfungen durchaus noch abliest.

Die Edition folgt den Erstdrucken der Publizistik und Essayistik und löst insbesondere den Sammelband Sieben Jahre, der 1929 erschienen war auf. Die Texte erscheinen hier jedoch in der früheren Fassung, soweit sie bereits publiziert waren. Das führt gelegentlich zum Abdruck mehrerer Fassungen des gleichen Textes, wie etwa die Geschichte vom Ursprung des Professor Unrat, dessen Idee auf eine missverstandene Zeitungsnotiz zurückgegangen sei. Das historische Vorbild war mithin kein verkrachter Gymnasiallehrer, wie Mann anfangs verstanden hatte, sondern ein Börsenredakteur (was die ganze Geschichte torpediert hätte). Als er davon erfahren habe, sei aber die Geschichte vom Professor Unrat bereits fix und fertig gewesen, erklärt Mann wiederholt. Gleich dreimal berichtet Mann vom Ursprung seines Erfolgsromans, nicht ohne damit nicht die Kreativität des Autors hervorgehoben zu haben, der zwar die Anregung braucht, sich aber schleunigst von ihr zu emanzipieren hat.

Kommentar und Apparat, die an Umfang den Textteil deutlich übersteigen, berichten über Vorlagen, Abdrucke und Kontexte, versorgen heutige Leser also mit notwendigem Material, das für die Entstehungsgeschichte und die Wirkung von Manns Essayistik und Publizistik relevant ist. Denn die Texte sind zweifellos anspielungsreich. Wenn etwa von der sexuellen Not der Jugend die Rede ist, dann steht dahinter nicht zuletzt der Prozess um den Steglitzer Schülermord, der 1928 zu einem enormen publizistischen Aufsehen geführt hat, ohne dass Mann das ausdrücklich erwähnen muss. Wenn sich Heinrich Mann zu seinem Verhältnis zum Plagiat bekennt, dann steht dahinter der von Alfred Kerr angezettelte Plagiatsskandal um Bertolt Brecht.

All das gehört eingeordnet und mitgeteilt, und dies geschieht hier mit der angemessenen Ausführlichkeit. Die Bände der Heinrich-Mann-Ausgabe binden die Texte nicht nur in ihren historischen und kulturellen Kontext ein, sie lassen unter der Hand eine Zeit aufsteigen, die innenpolitisch so umkämpft war wie kaum eine andere zuvor und die gerade deshalb unserer Gegenwart so nahesteht. Und sie zeigen einen kämpferischen Autor auf dem Gipfel seiner Anerkennung.

Titelbild

Heinrich Mann: Essays und Publizistik. Band 4/1 und 4/2. 1926 bis 1929.
Herausgegeben von Ariane Martin.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2018.
1425 Seiten, 278,00 EUR.
ISBN-13: 9783849812454

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