Brotgesicht

In Sara Mesas „Quasi“ ist ein Teenager auf der Suche nach sich selbst

Von Michi StrausfeldRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michi Strausfeld

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

 „Fast“ 14 ist die Protagonistin, und sie findet sich hässlich und dick, hat zu viele Pickel und keine Freundin in der Schule. Im Gegenteil: man bezeichnet sie als „Brotgesicht“, worunter sie sich zwar nicht wirklich etwas vorstellen kann, aber jedenfalls empfindet sie dies als Beleidigung. Kurzentschlossen geht sie nicht mehr zum Unterricht, sondern in einen Park – jeden Tag, wochenlang, monatelang. Dort trifft sie in ihrem Versteck einen alten Mann, der etwas sonderbar ist, aber freundlich. Immer sorgfältig gekleidet, mit einem Rucksack, treffen sie sich schon bald fast jeden Tag, teilen eine Tüte Chips oder das Wasser. Und „Quasi“ – wie der Alte das Mädchen nennt, weil es fast 14 ist – hört aufmerksam zu, wenn er ihr seine obsessive Liebe zu den Vögeln erläutert oder sie lehrt, die Vogelstimmen zu unterscheiden. Er bringt Bücher mit und zeigt ihr die vielen Vogelfamilien, deren Habitat er genau kennt. Er teilt mit ihr auch seine Liebe zu Nina Simone, deren Lieder er alle auswendig kennt, wie natürlich auch zahllose Details aus ihrem Leben. Eine befremdliche Freundschaft, würde jeder Außenstehende denken, so etwas kann es doch gar nicht geben.

Nach und nach erfährt Quasi auch ein paar Dinge aus seinem Leben, aber so, als sei alles nur nebensächlich. Die geliebte Arbeit in einem Wald, der Aufenthalt in einer Klinik, in der er mit Medikamenten vollgepumpt wurde, das Sich-nicht-anpassen-Können oder -Wollen an die Gepflogenheiten der Gesellschaft, seine Kindheit – und da spätestens hält der Leser den Atem an.

Quasi versucht zu verstehen, erzählt auch ein wenig über sich selbst – der bewunderte ältere Bruder, der zum Studium wegzog, die eigentlich fürsorglichen Eltern, die nicht merken, dass ihre Tochter die Schule schwänzt. Aber in ihr Tagebuch schreibt sie Phantasievorstellungen, und als ihr Fehlen endlich auffliegt, nehmen die Erwachsenen dies alles für bare Münze… und damit beginnt ein weiteres Unheil für den Alten.

Quasi wagt nicht, dem Alten die Wahrheit zu gestehen. Schließlich war ihr Tagebuch für die Eltern, den eigens angereisten Bruder und die Moralhüter der Vorwand, ihn ins Klischee zu pressen, denn unvorstellbar, weil ‚normalerweise‘ nicht üblich, schien es, dass kein sexueller Übergriff stattgefunden haben sollte – lieber erregt man sich. Genau das Gegenteil war der Fall, denn Quasi fühlte sich sozusagen verpflichtet, ihn zu verführen – aber das weiß nur sie. Dennoch hat sie nicht den Mut, dies zuzugeben. Und irgendwie scheint es, dass der Alte alles gar nicht ganz verstanden hat, so als seien die Anschuldigungen und Bestrafung nur ein weiteres Glied in seiner Kette von Missgeschicken. Offensichtlich ist er ihr nicht böse: Er ist einfach sonderbar.

Sara Mesa (*1976)  bringt einen neuen und ungewohnten Ton in die spanische Literatur. Es gelingt ihr, mit wenigen Sätzen, in denen kein Wort zu viel scheint, eine Stimmung der Ungewissheit, der Beunruhigung, der drohenden Gefahr aufzubauen, in die der Leser unmerklich gleitet. Zwei „unangepasste“ Personen und eine nahezu inexistente Handlung genügen der Autorin, um uns an das Buch zu fesseln, als übe es eine magnetische Anziehung aus. Ein kluger, beeindruckender und nachdenklich stimmender Roman – wiederum großartig übersetzt von Peter Kultzen, dem ich sehr viele Leser wünsche.

Titelbild

Sara Mesa: Quasi. Roman.
Aus dem Spanischen von Peter Kultzen.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2020.
141 Seiten , 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783803133212

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