Opfer, aber nicht Objekt

Chanel Miller hat ein autobiographisches Buch über „Macht, Sexualität und Selbstbestimmung“ geschrieben

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

An einem Abend im Januar 2015 vergewaltigte Brock Turner auf dem Gelände der Stanford University eine bewusstlose Frau hinter einem Müllcontainer, indem er mit seinen Fingern in ihre Vagina eindrang. Der Name der Frau ist Chanel Miller. Darauf, einen Namen zu haben und so als Person mit einer spezifischen Biographie sichtbar zu sein, legt die junge Frau Wert, die den Ermittlungsbehörden wie so viele unbekannte weibliche Opfer zunächst als Jane Doe galt und die während des Prozesses gegen Turner Chanel Doe genannt wurde. Darum hat sie ihrem 2019 erschienenen autobiographischen Buch über „Macht, Sexualität und Selbstbestimmung“ den Titel Ich habe einen Namen gegeben. Know my Name lautet vielleicht noch treffender der Titel der amerikanischen Originalausgabe.

Dass es überhaupt zur Festnahme und zum Prozess gegen den Sexualverbrecher Turner kam, ist den beiden schwedischen Austauschstudenten Peter Jonsson und Carl-Fredrik Arndt zu verdanken, die mit ihren Fahrrädern zufällig vorbeikamen, als sich Turner an Miller verging. Sie überwältigten den Täter und hielten ihn fest, bis die Polizei eintraf. Allerdings wurde Turner am nächsten Tag schon wieder auf freien Fuß gesetzt. Sein gut betuchter Dad hatte eben mal die 150.000 Dollar Kaution aus dem Ärmel geschüttelt. Dabei betrug die Maximalstrafe für das Verbrechen 14 Jahre Haft, von denen die Anklage im Prozess nach dem Schuldspruch der Geschworenen sechs forderte. Der vorsitzende Richter Aaron Persky aber fand, dass das doch keine so große Sache gewesen sei, und meinte sechs Monate in einer Haftanstalt für „geringfügige Vergehen“ seien Strafe genug. Nur drei davon musste Turner tatsächlich absitzen.

Anders als manche Gender- und Queer-AktivistInnen, wie etwa Mithu Sanyal und Marie Albrecht, die sich in der taz dafür stark machten, lieber von „Erlebenden“ einer Vergewaltigung als von einem Opfer zu sprechen, erklärt Miller klipp und klar: „Ich bin ein Opfer. Ich habe kein Problem mit diesem Wort, lediglich mit der Vorstellung, es sei alles, was ich bin.“ Dass dem eben nicht so ist, zeigt sie in ihrem Buch auf nahezu 500 Seiten. Ein Opfer muss keineswegs ein bloßes Objekt der Handlungen anderer sein, sondern kann selbst ein tätiges Subjekt sein oder werden. Doch „Opfer“, sagt Miller weiter, „müssen schnell anfangen zu kämpfen, Gefühle in Logik umzuwandeln, sich im Rechtssystem zurecht zu finden, mit der Einmischung von Fremden, der unaufhörlichen Beurteilung“ rechnen. Wie ihr all das gelang, davon handelt ihr Buch. Und von vielem mehr. Von ihrem Leben davor und von ihrem Kampf nach dem Ende des Prozesses.

Miller berichtet ohne jede Theatralik, dafür aber umso intensiver und eindringlicher vom Tag des Verbrechens und der anschließenden kriminalmedizinischen Untersuchung. Aber auch von allem, was danach geschah bis hin zur Absetzung des Richters, der Ablehnung der von Turner eingereichten Berufung und dem Beginn ihrer Arbeit an dem vorliegenden Buch. Dabei nennt sie weder den Namen des vorsitzenden Richters Aaron Persky, noch diejenigen von Michael Armstrong und Dennis Riordan, den beiden Rechtsanwälten von Brock Turner, da es ihr nicht um sie als Personen geht, sondern als Verkörperungen bestimmter Funktionen im frauenverachtenden Justizsystem der USA.

Anstatt „die Verhaltensmuster von Sexualstraftätern“ zu untersuchen, werden vor Gericht vielmehr „genauestens die Handlungen des Opfers unter die Lupe [genommen]“. Das betrifft nicht nur deren Verhalten während des Verbrechens. Vielmehr wird ihr gesamtes bisheriges Leben auf der Suche nach möglichem Fehlverhalten oder Charakterschwächen durchleuchtet. Neigt die vergewaltigte Frau vielleicht dazu, viel Alkohol zu trinken? Ist sie fest liiert? Solche und weit intimere Fragen musste auch Miller vor Gericht über sich ergehen lassen. Im Grunde aber ist jede Frage an das Opfer, die über das unmittelbare Tatgeschehen hinaus geht, ein weiteres Verbrechen an ihm.

Was den Angeklagten betrifft, so fällt nicht nur Turners Tat ein vernichtendes Urteil über seinen Charakter, sondern auch sein anschließendes Verhalten vor Gericht und in der Öffentlichkeit. Denn er versuchte alle die miesen Tricks, zu denen Vergewaltiger vor Gericht gerne greifen. Sie alle zielen darauf ab, die vergewaltigte Frau „als Person zu zerstören“. Zur Unterstützung konnte er sich „einen der renommiertesten Anwälte in der Bay Area“ leisten.

Für Miller kam der Prozess daher eine Tortur gleich. Sie wurde jedoch nicht nur von Turners Verteidiger systematisch erniedrigt. Auch Bilder, die im Prozess allen Anwesenden von dem bewusstlos aufgefundenen Opfer gezeigt wurden, trugen dazu bei: „Mein Po, meine Brust, meine Vulva alles wurde in Großformat gezeigt, meine Schamlippen einen Meter lang, und der Richter und Brock und sein Bruder und sein Vater und jeder Journalist und jeder Fremde im Raum konnten es sich ansehen.“

Nur Miller selbst musste unterdessen vor dem Gerichtssaal warten und wusste nicht, was vor sich ging. Erst anschließend wurde sie als Zeugin vorgeladen und betrat den Gerichtssaal „nichtsahnend und mit einem Lächeln“.

Außerhalb des Gerichtssaals sprangen Turner unzählige Sexisten (und einige wenige Sexistinnen) zur Seite, die sich im Internet austoben und dem Opfer wahlweise die Schuld am Geschehen gaben oder ihm unterstellten, die Vergewaltigung lustvoll erlebt zu haben. Auch Turner selbst spielte im Prozess beide Karten. Das macht Sexualverbrechen wie das an ihr begangene so „einzigartig“, sagt Miller, „dass der Täter behaupten konnte, das Opfer habe Vergnügen verspürt, ohne dass die Leute mit der Wimper zuckten“.

„Das Traurigste“ bei alldem ist aber, dass die Opfer selbst all die „erniedrigenden Dinge“, die über „ihr eigenes Wesen“ behauptet werden, „zu glauben beginnen“. Auch um diesen Glauben zu zerstören, hat Miller ihr Buch geschrieben. Nicht die Opfer haben sich entschieden, vergewaltigt zu werden, sondern die Täter entscheiden sich zu vergewaltigen. So stellt Miller gegen die beliebte Entschuldigung „Jungs hätten sich einfach nicht im Griff“ klar, „junge Männer sind Menschen, sie haben einen Verstand, leben in einer Gesellschaft mit Gesetzen. Andere zu begrapschen ist kein natürlich eingebauter Reflex. Es ist ein kognitives Handeln, das sie kontrollieren können“.

Miller blickt auch über das unmittelbar sie selbst betreffende Geschehen – die Vergewaltigung, der Prozess, die Ablehnung von Turners Beantragung einer Revision des Verfahrens – hinaus und zeigt etwa Gemeinsamkeiten zwischen ihrem Vergewaltiger und Trump auf: „Wir leben in einer Zeit, in der es schwierig geworden ist, zwischen den Worten des Präsidenten und denen eines neunzehnjährigen Sexualstraftäters zu unterscheiden.“ Auch würdigt sie die MeToo-Bewegung, Ashley Judd und Rose McGowan, die „an vorderster Front“ standen, als Weinstein gestürzt wurde, die Frauen, die den Entertainer Bing Cosby und die jungen Turnerinnen, die den Trainer Larry Nassar hinter Gitter brachten, und Christine Blasey Ford, die gegen Brett Kavanaugh aufstand.

Der Prozess gegen Turner und sein skandalös mildes Urteil führten nicht nur dazu, dass der vorsitzende Richter Aaron Persky inzwischen mit Schimpf und Schande aus seinem Amt gejagt wurde, sondern auch zu zwei Gesetzesänderungen im kalifornischen Strafrecht. Das Strafmaß für sexuelle Angriffe auf eine bewusstlose Person wurde heraufgesetzt und die Definition dessen, was eine Vergewaltigung ist, wurde erweitert. Galt bis dahin nur die Penetration mit dem Penis als solche, so nun auch diejenige mit einem Finger. Doch eigentlich war es weder der Prozess noch das Urteil, dem die Gesetzesänderungen und manches mehr zu danken sind, sondern die Beharrlichkeit, der Mut und die Kampfkraft Chanel Millers.

Eine kleine Kritik an dem Buch kann allerdings nicht ausbleiben. Miller nennt sowohl den Vergewaltiger Turner als auch den Incel-Mörder Elliot Roger bei ihren Vornamen. Das dürfte wohl der US-amerikanischen Gepflogenheit anzulasten sein, einfach alle und jeden derart zu adressieren. Selbst Turners Verteidiger spricht das Opfer im Zeugenstand als Chanel an. Ebenso hält es der Richter in seiner Begründung des Strafmaßes für Turner. Hierzulande aber, in unserer in dieser Hinsicht völlig anderen Kultur, irritiert so etwas. Vielleicht hätte das bei der Übersetzung für die deutsche Ausgabe bedacht werden sollen.

Ein Land, in dem ein Sexist wie Trump Präsident und sein Gesinnungsgenosse Brett Kavanaugh einer der RichterInnen am Supreme-Court werden kann, würde man als unrettbar verloren abschreiben, brächte es nicht auch Menschen wie Chanel Miller hervor. Wer es noch nicht weiß, kann aus ihrem Buch lernen, dass Opfer eben nicht notwendigerweise schwach, wehr- und hilflos der Schwere des an ihnen begangenen Verbrechens ausgeliefert sind, noch erschöpft sich ihr Wesen darin, Überlebende zu sein, so einschneidend das Erlebte auch gewesen ist. Ja, sie sind beides, Opfer und Überlebende. Aber eben nicht nur. Sie und ihr Leben haben tausend und mehr Facetten. Wie das bei Menschen eben der Fall ist. Das zu zeigen macht Ich habe einen Namen zu einem der wichtigsten Bücher, die in den letzten Jahren über Sexualstraftaten und ihre Opfer erschienen sind. Man möchte sagen, die Autorin lasse einen ihre Leiden, ihre Empörung, ihre Unsicherheit, ihre Schwächen, ihre Stärken und ihre Kampfkraft kurz ihr ganzes Fühlen und Erleben nachempfinden, so intensiv ist die Lektüre. Das aber wäre eine Anmaßung. Eine Ermutigung für all jene, die Ähnliches erlebt haben, ist das Buch aber ganz zweifellos. Und ein Beispiel an Chanel Miller können wir uns alle nehmen.

Titelbild

Chanel Miller: Ich habe einen Namen. Eine Geschichte über Macht, Sexualität und Selbstbestimmung.
Übersetzt aus dem amerikanischen Englisch von Yasemin Dincer, Hannes Meyer und Corinna Rodewald.
Ullstein Verlag, Berlin 2019.
476 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783550200809

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch