Mittelalterphilologie(n) heute?

Ein Tagungsband zwischen Standortbestimmung und Orientierungslosigkeit

Von Jan Alexander van NahlRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Alexander van Nahl

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine „Neubestimmung des wissenschaftsgeschichtlichen[,] aber auch gesellschaftlichen Standorts“ der Mittelalterphilologien; eine Reflexion von „Geschichtlichkeit als eine der Grundbedingungen des Menschenwesens und des menschlichen Daseins“ mit Berücksichtigung von „Rezeption; Ideologie; Erkenntnis; Sprachlichkeit; Textualität; Medialität; Edition; Interdisziplinarität“. Ein unter derart vielen Schlagworten eingeführtes Buch – basierend auf einer Tagung 2013 –, eine derart selbstbewusst eingeforderte Generalzuständigkeit für den gesamten Bereich der (philologischen) Mittelalterstudien, das weckt hohe Erwartungen. Erfüllt werden sie aus meiner Sicht leider nur bedingt.

Die Wissenschaftlichkeit der zwanzig versammelten Beiträge sei mit diesem vorweggenommenen Fazit gar nicht in Zweifel gezogen, auch wenn die Qualität, wie oft bei Tagungsbänden, schwankt. Das Problem ist aus meiner Sicht vielmehr, dass die Aufsätze keiner Vorgabe, keiner gemeinsamen Idee folgen, die die Synthese zu einem belastbaren Standort erlauben würde; das in Klappentext und Einleitung zum zentralen Untersuchungsgegenstand erklärte „Phänomen Mensch“ könnte wuchtiger und vager kaum sein. Auch die Reihenfolge der Beiträge folgt keinem erkennbaren Leitgedanken, der fehlende Index erschwert jeden Versuch einer Synthese zusätzlich. Bei der Lektüre habe ich mich insofern immer wieder gefragt, wo hier eigentlich für wen welcher (neue) Standort bestimmt werden soll und wo der proklamierte Bezug zum menschlichen Dasein gesucht wird.

Die einleitende Bemerkung der Herausgeberin Alessandra Molinari, sie wolle die Beiträge „selbst über sich sprechen und urteilen lassen“, muss man als Aufforderung zur kritischen Diskussion verstehen, zum Streitgespräch, aus dem sich ein Standort der Mittelalterphilologie herauskristallisiert. Viele Beiträge luden mich dann zu einem solchen kritischen Gespräch aber gar nicht ein, weil sie entweder Gemeinplätze aufrufen oder als mehr oder weniger freischwebende Spezialbetrachtung präsentiert werden. Sicherlich ist Hans Sauers morphologische Analyse altenglischer Pflanzennamen ein sehr gelehrtes Stück Philologie, aber wie sie zur vorausgehend von Jens Pfeiffer nochmals betonten Aufgabe, „gerade außerhalb der engeren Mediävistenkreise etwas Licht auf ein nur scheinbar finsteres Zeitalter zu werfen“, beitragen soll, erschließt sich mir nicht. Die angestrebte Neubestimmung gerade des gesellschaftlichen Standorts der Mittelalterphilologie steht aber auch in Beiträgen zu Editionsprojekten von spätmittelalterlichen Predigten und Gebeten oder im Plädoyer für den Einsatz kognitionslinguistischer Methoden in der Literaturwissenschaft nicht offensichtlich im Vordergrund – wo wird da dem einleitend kritisierten Bologna-Abkommen begegnet?

Dezidierten Bezug zum „Phänomen Mensch“ sucht allein Sophie van Romburgh in einem durchaus inspirierenden Kapitel, in dem sie berechtigt darauf beharrt, „current practices of reification, data collection and resistance of interpretation“ dringend zu überdenken, um auch künftig sicherzustellen „that data which appear disembodied in our corpora still include that pulsing lifeworld that produced them“. Das ist ein zentrales Thema im Zeitalter unzählbarer digitaler Editionsprojekte – das leider im vorliegenden Band nirgends eingehender reflektiert wird, auch nicht im ansonsten soliden Überblick zum Thema von Marina Buzzoni und Roberto Del Turco, der allerdings versäumt, die Evolution/Revolution einer ‚Digital Philology‘ in der generellen Entwicklung der Philologie zu verorten. Irritierend ist dieses Desinteresse an der Metaebene philologischer Arbeit – im Sinne der aktiven Hinterfragung von Begründung und Geltung solcher Arbeit – vor allem angesichts der Tatsache, dass rund die Hälfte der Beiträge sich gerade als Appell für eine anhaltende Editionstätigkeit verstehen; ein Edieren, das, in den Worten Anthony Rivers, einem Text hinsichtlich der „complexity of its transmission“ gerecht werden muss, um dann, wie Winfried Rudolf betont, „the ambiguous character of human language in form and meaning“ aufzuzeigen. Das bleibt als Forderung einerseits recht abstrakt, ist andererseits keine neue Einsicht. Wo aber ist da jene „pulsing lifeworld“, in der das „Phänomen Mensch“ so zentral gesetzt ist? Dass Textvarianz im digitalen Medium dynamischer aufgezeigt werden kann, als gedruckte Editionen es erlauben, ist klar – aber bloße Machbarkeit kann eben kaum als hinreichende Begründung gelten, die schließlich programmatisch instrumentalisiert werden könnte. Damit seien solche Projekte gar nicht grundlegend in Frage gestellt; gerade im Zuge einer neu entdeckten Ambiguität mittelalterlicher Literatur ist die Nachfrage nach einer umfassend editierten Textgrundlage fraglos vorhanden. Das ist aber nur ein Aspekt des ‚Warum‘ und ‚Wozu‘, der zudem im vorliegenden Buch ebenfalls kaum Beachtung findet. Da darf man sich dann, harsch formuliert, nicht wundern, wenn das einstige Zauberwort ‚digital‘ finanzielle Förderungen längst nicht mehr unbesehen sichert.

Entgegen der einleitenden Verkündung bleibt überhaupt das weite und komplexe Feld der modernen Wissenschafts- und Rezeptionsgeschichte, inklusive ihrer großen und kleinen Gestalten, fast unberührt. Allein Gabriel Viehhauser liefert hier mit seinem forschungsgeschichtlich perspektivierten Plädoyer für einen intensivierten Austausch der Naturwissenschaften (in seinem Fall: die Biologie) mit den Geisteswissenschaften einen anregenden Beitrag, wenn auch wiederum auf Handschriftenverhältnisse beschränkt. Aber ist es nicht gerade heute, unbesehen aller Editionsgeschäftigkeit, die eigentliche Kernaufgabe einer ‚germanischen‘ Mittelalterphilologie, ihren Standort in ideologischen Strömungen zu reflektieren, Misskonzepte aufzudecken und aktiv eine gesellschaftliche Orientierungsfunktion wahrzunehmen? Dafür hat erst jüngst unter anderem Richard Utz in einem so genannten Manifest plädiert, und irgendwie mag das auch Molinari in ihrer schlagwortreichen Einleitung gemeint haben. Aber eben diese grundlegende Reflexion, auch die gezielte Provokation, die die Mittelalterphilologie für eine Gesellschaft des frühen 21. Jahrhunderts aktualisieren könnte, finde ich im Buch kaum. Der literaturwissenschaftliche Aufsatz von Sonja Aberham zu König Marke bei Gottfried von Straßburg († um 1215) und Clara Dupont-Monod (*1973) wagt im Spagat immerhin einen interessanten Versuch und schließt mit dem Fazit: „Über den Vergleich mit einer Interpretation einer Nebenfigur und über eine solche Bearbeitung bleibt in literarischer Rezeption Mittelalter-Philologie auch für die Literaturwissenschaft relevant“. Damit ist sicherlich noch kein gesellschaftlicher Standort bestimmt, aber darüber kann man diskutieren!

Umso mehr werden vor diesem Beitrag aber inhaltliche Lücken in der vorliegenden Sammelpublikation sichtbar; es wäre müßig, hier alles aufzuzählen, was keine Berücksichtigung bei dieser Standortbestimmung gefunden hat. Auffällig ist unter anderem das völlige Ausklammern der Heldendichtung, obwohl etwa der jüngste Tagungsband „Narration and Hero“ (2014) nicht nur die anhaltende Virulenz der Thematik, sondern auch das Potenzial einer sprachraumübergreifenden Untersuchung klar vor Augen geführt hat – immerhin handelt es sich bei dieser Dichtung doch um ein verbindendes Fundament der verschiedenen germanischen Philologien. Dass überhaupt die gesamte altnordische Überlieferung (Dänemark, Island, Norwegen, Schweden) mit einem einzigen Beitrag zur so genannten Dritten Grammatischen Abhandlung abgegolten wird, mag zunächst fehlender Teilnahme von Skandinavisten an der damaligen Tagung geschuldet sein. Für eine Publikation, die selbstbewusst „Die germanischen Philologien“ titelt, hätte man dann aber weitere Beiträge einwerben müssen. Dies nicht nur, weil die letzten Jahre in der Altskandinavistik auf philologische Großprojekte (etwa zur Skaldik) an der Schnittstelle von traditioneller und digitaler Wissenschaft zurückblicken, sondern auch, weil etwa das seit 2007 laufende DFG-Projekt zur Edda-Rezeption die – wie die Webseite des Frankfurter Skandinavistik-Instituts formuliert – „ungebrochene[…] Aufmerksamkeit, welche die nordische Mythologie und Heldensage seit dem Mittelalter bis zum heutigen Tag erfährt“, eindringlich illustriert. Berücksichtigung fand davon im vorliegenden Buch nichts.

Disziplinäre und sprachliche Grenzüberschreitung hätte aber gegenüber national umhegten Spezialbetrachtungen überhaupt weitere Diskussionsfelder schaffen können: Ermindo Lanfrancottis und Alberto Carinis Einführung in die Anwendung von ultravioletter Strahlung beim Lesen von Manuskripten ist durchaus interessant; interessant wäre hier aber wiederum auch die forschungsgeschichtliche Einordnung gewesen: In Norwegen wurde die Methode nachweislich bereits um 1930 bei der Erschließung mittelalterlicher Manuskripte angewendet (von Anne Holtsmark). Abgesehen von kurzer Nennung der so genannten ‚Wood-Lampe‘ erschöpft sich die historische Dimension des letztgenannten Beitrags in der Bemerkung: „Italy holds the most precious and historically most important artworks of all world heritage thanks to its unique history“. So lädt man wohl kaum zum internationalen Dialog ein.

Mit diesem subjektiven Einblick möchte ich es belassen. Insgesamt bleibt der Eindruck einer sehr heterogenen Sammlung, in der natürlich immer wieder interessante Aspekte vorgebracht werden, und die sich insofern mit den einleitenden Worten von Molinari als „auf wunderbare[…] Weise mehrstimmig“ verstehen lässt. Aber eine Sammlung, die auch immer wieder fragen lässt, wo der umfassende Anspruch des Buches erfüllt wird – zumal ein zweiter Band zu romanischen Philologien bereits angekündigt ist. Molinaris eingangs zitierte Bemerkung, sie wolle die Beiträge sich selbst überlassen, findet dezidierten Niederschlag auch in einzelnen Aufsätzen, so etwa in Fabrizio Raschellàs ‚Erklärung‘ der nur mäßigen Kohärenz und Tiefe seiner Betrachtung: „I prefer to leave space for careful reflection by the reader“. Semantiken von ‚Mittelalter‘ und ‚Philologie‘, von ‚Mensch‘ und ‚Gesellschaft‘ bleiben dann freilich assoziativ und schemenhaft. Eine Perspektivierung und Auswertung seitens der Herausgeberin wäre hier dringend ratsam gewesen; ihr Verweis auf eine in Arbeit befindliche Monographie zur Geschichte der Philologie nützt da nichts. Potenziell ergiebig gewesen wäre auch der Bezug zu ähnlichen Sammelpublikationen jüngerer Zeit, etwa zum Tagungsband „Neue Ansätze in der Mittelalterphilologie“ von 2005, der immerhin vierzehn Beiträge von Skandinavisten und Germanisten versammelt – es ist ja nicht so, als sei die Reflexion des eigenen Standortes eine erst jüngst erkannte Aufgabe. Auch dieses Diskussionsangebot wurde leider ignoriert.

Formal sei auf eine irritierend hohe Zahl an Tippfehlern (fehlende Buchstaben, fehlende Leerzeichen, falsche Trennstriche, uneinheitliche Schreibweisen …) und Formatierungsfehlern (uneinheitliche Einzüge, fehlerhafte Seitenumbrüche …) hingewiesen – kein Meisterstück philologischer Akribie. Zitationshinweise deuten an, dass die finalen Manuskripte bereits in der zweite Jahreshälfte 2014 vorlagen; warum danach bis zur Veröffentlichung zum Jahreswechsel 2016/17 offensichtlich keine redaktionelle Durchsicht mehr erfolgt ist, erschließt sich mir nicht. Schlicht zu klein ist das gesamte Schriftbild, vor allem eingerückte Zitate und Fußnoten (in kursiv) sind kaum lesbar; das ist in anderen Publikationen bei Königshausen & Neumann besser gelöst.

Die angestrebte Neubestimmung des wissenschaftsgeschichtlichen und gesellschaftlichen Standorts der Mittelalterphilologien ist (weiterhin) ein wichtiges Unterfangen, wo auch immer man die Orientierungskompetenz dieser Philologie(n) verorten möchte; darauf erneut aufmerksam gemacht zu haben, ist Verdienst des vorliegenden Konferenzbandes. Ein eigentlicher Standort, der einer fruchtbaren Neuorientierung über thematische und sprachliche Grenzen hinweg als Ausgangspunkt dienen könnte, wird hier aber weder bestimmt, noch, so meine ich, überhaupt gezielt gesucht.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Alessandra Molinari (Hg.): Mittelalterphilologien heute. Eine Standortbestimmung. Teil 1: Die germanischen Philologien.
Unter Mitwirkung von Michael Dallapiazza.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2017.
341 Seiten, 39,80 EUR.
ISBN-13: 9783826056857

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