Das Psychogramm der globalen Menschen

Zu Terézia Moras Erzählband „Die Liebe unter Aliens“

Von Natalia Blum-BarthRSS-Newsfeed neuer Artikel von Natalia Blum-Barth

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit dem Erzählband Die Liebe unter Aliens gelingen Terézia Mora eindrucksvolle Großaufnahmen von Wendepunkten, Verfehlungen, Tiefen, Schicksalsschlägen und Krisen im Leben der Menschen, die aus verschiedenen Gründen aus der Mitte an den Rand gedrängt wurden. Trotz der misslichen Lage, in die die meisten Figuren geraten sind, bleiben sie anständig und tugendhaft. Sie kämpfen um ihren Platz unter der Sonne, aber nicht auf Kosten der anderen – und das macht sie sympathisch.

Das zentrale Thema aller Geschichten sind problematische beziehungsweise gescheiterte zwischenmenschliche Beziehungen. Ihr Ursprung liegt oft im latenten Eltern-Kind-Konflikt, was bereits im ersten Buch, dem Erzählband Seltsame Materie thematisiert wurde. Auffällig ist dabei, dass in vielen Erzählungen die Figur der Mutter – ihr Tod, Verlust oder Dominanz – das Kind als Erwachsenen nachträglich beeinflusst und beeinträchtigt. Paradigmatisch hierfür ist Tom in der titelgebenden Erzählung. Der Tod seiner Mutter macht ihn lebensunfähig und treibt ihn in die Abhängigkeit von seiner Freundin und von Drogen: „Es war nicht immer so, kein ungeschicktes Kind und auch kein vom Pech verfolgtes. Es fing an, als seine Mutter starb. Er weiß es, versteht es aber nicht. Sie war lange krank gewesen, ihr Tod traf ihn dennoch überfallartig. Ich habe nicht gewusst, dass ich nicht weiß, wie man ohne sie lebt.“ Mit jeder weiteren Erzählung wird man als Leser geneigt, die Figur der (toten) Mutter bzw. der Eltern als Metapher für die (verlassene) Heimat zu lesen.

Beispiele für eine herrische Mutter liefern die Erzählung Fisch schwimmt, Vogel fliegt, wenn sich die Stimme des „tote[n] Mütterchen in Marathonmanns Kopf“ als Kontrollinstanz meldet, oder Die portugiesische Pension, wo der Sohn den Eltern jahrelang seine angeblich erfolgreiche Anwaltskanzlei, in Wirklichkeit ein potemkinsches Dorf, inszeniert, um ihren Erwartungen gerecht zu werden. Während in der Erzählung Ella Lamb in Mulligar ebenfalls die dominante, sich aufopfernde, jedoch angsteinflößende Mutter angedeutet wird, rekurriert die Geschichte Verliefen sich im Wald auf den schwachen, rücksichtslosen Vater, der die Mütter seiner Kinder verlässt, um Problemen zu entgehen.

Somit lässt der Erzählband Die Liebe unter Aliens neben der thematischen Nähe zum Erstlingswerk Seltsame Materie auch an den Roman Das Ungeheuer denken, insbesondere – wie bereits angedeutet – im Hinblick auf die männlichen Figuren, die an den Schwächling und Versager Darius Kopp angelehnt zu sein scheinen. In den meisten Erzählungen weist die Figurenkonzeption eine Tendenz auf, die kurz als ‘aktive, starke Frauen – passive, sensible Männer‘ beschrieben werden kann. Es sind selbständige, beruflich erfolgreiche, aktive, ja dominante Frauen, vor deren Hintergrund seltsame, labile, hilfsbedürftige oder verunsicherte Männerfiguren situiert werden.

Selbst der pensionierte Professor Masahiko Sato (Das Geschenk oder: Die Göttin der Barmherzigkeit zieht um) ist seiner aus Tschechien stammenden Frau ziemlich in allem unterlegen, ebenso der Sanitäter Tom (Perpetuum mobile), der von seiner Frau vor die Tür gesetzt wurde, sowie der gescheiterte Rechtswalt und Pensionbetreiber Mario (Die portugiesische Pension), dessen Freundin Indra die Beziehung beendet. Geschweige denn der Tierpfleger Erasmus Hass (Die Gepard-Frage), der auch die Scheidung seiner Frau hinnehmen musste und sich nun nach einer vermasselten Prüfung zum Verwaltungsangestellten in seiner Wohnung einschließt, um zu trinken. Die Abhängigkeit von der Freundin kennen auch Tim (Die Liebe unter Aliens) und Felix (Selbstbildnis mit Geschirrtuch): der eine – die emotionale, der andere – die materielle. Jeder braucht seine Partnerin wie ein Gehbehinderter eine Krücke.

Mehr aber auch nicht, denn sobald es darum ginge, selbst Verantwortung zu tragen, machen sich die Männer aus dem Staub, wie beispielsweise G. in der Erzählung À la recherche, als ihm seine Freundin, eine zielstrebige Doktorandin, nach acht Jahren Beziehung gesteht, er sei ihr Leben. Oder Felix in der Erzählung Selbstbildnis mit Geschirrtuch, der seiner Freundin zwar einen Heiratsantrag gemacht hat, dies wohl aus Bequemlichkeit: Während er in der Wohnung sitzt und Selbstporträts malt, verdient sie mit Schwarzputzerei Geld und darf sich so abrackern, dass ihr jegliches Selbstwertgefühl abhandenkommt: „Man könnte noch irgendwo in einer Küche arbeiten, aber das ist noch anstrengender als das Putzen. Für Prostitution sehe ich schon zu schlecht aus.“

Dass das erweichte Männerbild seinen Ursprung im übertriebenen Feminismus der Frauen hat, stimmt wohl nicht. In vielen Erzählungen ist es Migration, die zu neuer Rollenverteilung in der Beziehung führt, den Autoritätsverlust des Mannes verursacht und die Überlebenskunst der Frauen fördert. Sie werden zum Gaul, der den Karren irgendwie irgendwohin weiter zieht. Diese Zähigkeit der Frauen erinnert an den Typus der heldenhaften sowjetischen Frau, der auf die Mentalität in vielen Ländern der ehemaligen Ostblockstaaten abfärbte.

Zwischen zwei Buchdeckeln liegen zehn Schicksale, jedes einzelne auf seine Art besonders, verzwickt und erschütternd: ein subtiles Psychogramm der Protagonisten, die mit ihrem alltäglichen Trott zurechtkommen müssen. Terézia Mora versteht ihren Leser zu fesseln. Die lakonischen Sätze, der nüchterne Erzählstil – jedes Wort hat Gewicht und jeder Satz gleicht einer Filmszene –, die packenden Geschichten machen dieses Buch zu einem unvergesslichen Leseerlebnis.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Terézia Mora: Die Liebe unter Aliens. Erzählungen.
Luchterhand Literaturverlag, München 2016.
271 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783630873190

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