Ein nicht stattgefundenes Gipfeltreffen

Herfried Münkler lässt in seiner neuesten Studie „Marx, Wagner, Nietzsche. Welt im Umbruch“ drei Geistesgrößen ein imaginäres Gespräch führen und gibt dabei selbst den Ton an

Von Nora EckertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nora Eckert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Es ist schon alles gesagt, nur nicht von allen.“ Nun gut, mir fiel jetzt auch nur dieses launige und abgenutzte Zitat von Karl Valentin ein. Schuld sind aber die drei Namen auf Herfried Münklers gewichtigem Buch, das fast ein Kilo auf die Waage bringt. Ist über Marx, Wagner und Nietzsche nicht tatsächlich schon alles gesagt und auch über ihr Jahrhundert als eine Zeit des Umbruchs? Geht da wirklich noch was? Was die ihnen gewidmete Literatur angeht, sind alle drei wahrscheinlich nur noch in Regal-Kilometern zu messen. Da Münkler keine verschollenen Dokumente fand, um wirklich Neues präsentieren zu können, blieb ihm nichts anderes übrig, als die hinlänglich bekannten Werke samt einem Berg an Sekundärliteratur noch einmal gründlich abzuklopfen.

Klar, es kommt immer auch auf den Blickwinkel an und auch darauf, wen und was man vergleichend nebeneinanderstellt, um so einen leitmotivischen „Beziehungszauber“ zu beschwören. Ein paar hübsche und durchaus erkenntnisgewinnbringende Trouvaillen hat Münkler dann doch herausgeklopft, das sei schon mal lobend vorausgeschickt. Marlene Dietrich meinte einmal in einem Interview, man habe ihr Gesicht zu Tode fotografiert. Auf Münklers Epochenporträt bezogen: Ob man Menschen auch zu Tode zitieren kann? Nun gut, die drei Herren, um die es hier geht, gehören nun mal unserer denkmalgeschützten Geschichte an, womit es allen freisteht, sie nach Herzenslust zu besichtigen, zu drehen und zu wenden und auf welche Weise auch immer zu beleuchten.

Aber auch das 19. Jahrhundert selbst ist in der Geschichtsdarstellung und -interpretation ein unbestrittener Star. Verschlungen hatte ich einst Thomas Nipperdeys Deutsche Geschichte und Jürgen Osterhammels Die Verwandlung der Welt und regelrecht verliebt war ich (zumindest aus ästhetischen und literarischen Gründen) in Dolf Sternbergers Panorama oder Ansichten vom 19. Jahrhundert und ebenso in Benedetto Croces Geschichte Europas im 19. Jahrhundert. Und weil ich als kunstaffiner Mensch gerade ästhetische Gründe ansprach, noch diese Anmerkung: Was auf jeden Fall noch fehlt als sozusagen epochaler Rundumschlag oder auch um einem panoramaverliebten Jahrhundert gerecht zu werden, das wäre diese Herrenrunde: Honoré de Balzac, Gustave Courbet, Richard Wagner (der nun wirklich stets ins Epochenbild zu passen scheint). Aber darüber reden wir, wenn das dazu passende Buch vorliegt.

Was als ziemlich unbestritten unter Historiker*innen gilt, die sich darin am Ende auch zugleich erschöpften, das ist die Charakterisierung des 19. Jahrhunderts als eine Epoche der Revolutionen. Anders sieht es wohl mit der Frage nach der Dauer des Jahrhunderts aus. Gerade mit Blick auf das Revolutionäre ließ Eric Hobsbawm es bekanntlich bereits 1789 mit der Französischen Revolution beginnen und erst mit dem Jahr 1914 enden, woraus sich für ihn folgerichtig „Das lange 19. Jahrhundert“ ergab. Dass darin das Bürgertum eine zentrale Rolle zu spielen beginnt, das lesen wir jetzt auch wieder bei Münkler, während Jürgen Kocka diesen Umstand zusammen mit einer Schar von Fachkolleg*innen schon vor mehr als dreißig Jahren zu sondieren und analysieren sich anschickte, woraus drei mit Das Bürgertum im 19. Jahrhundert betitelte Bände entstanden.

Münkler spricht selbst von einem imaginären Gespräch, denn die Akteure (Wagner und Nietzsche ausgenommen) sind sich nie persönlich begegnet und hatten auch sonst keinen direkten Kontakt zueinander. Und so bringt Münkler ihre Positionen gleichsam als Rede und Gegenrede ins Spiel und lässt die drei Protagonisten als Kommentatoren ihrer Epoche auftreten. Gedankliche Berührungen sind da nicht ausgeschlossen und trotzdem leiten sie aus ihren Diagnosen unterschiedliche Schlussfolgerungen ab – so in Fragen der Revolution, der Religion, der Gesellschaft und den Rollen von Bürgertum und Proletariat. Das konnte keine chronologische Erzählung ergeben, stattdessen ein Umkreisen mit einer Erzählhaltung, die immer wieder von neuem ansetzt, „um von Mal zu Mal näher an ihr Denken heranzukommen“. Münkler spricht in diesem Zusammenhang auch von „Knoten“, womit er zeitgeschichtliche Ereignisse meint, „in denen die Biographien von Marx, Wagner und Nietzsche ineinander verschlungen sind“ – als da wären die 48er Revolution, der Deutsch-Französische Krieg mit anschließender Reichsgründung 1870/71 und die ersten Bayreuther Festspiele 1876.

Mit der umkreisenden Erzählung war natürlich auch eine fokussierte Darstellung der drei Geistesgrößen hinfällig geworden. Was zur Folge hat, dass

sie im Verlauf des Buches immer wieder als andere oder Veränderte auf[tauchen]. Es zeigen sich Dinge, die sie in einem anderen Licht erscheinen lassen, als wir sie üblicherweise sehen – oder sehen wollen. Durch die Parallelisierung geraten Marx, Wagner und Nietzsche in die Beleuchtung durch den je anderen, aber ebenso auch in dessen Schatten und durch beides, Licht wie Schatten, können wir sie genauer und deutlicher erkennen.

Um ehrlich zu sein, diese Deutlichkeit ist in weiten Teilen eine, die wir schon vor Münkler besaßen, auch ohne triadische Parallelisierung und Licht- und Schattenspiel, obschon sie verblüffende Details zutage fördert.

Eines dieser Details betrifft Marxens Wahrnehmung des Bayreuther „Narrenfestes“. Während Wagner seine Festspiele in Bayreuth eröffnete und größte Mühe hatte, das dafür eigens erbaute Festspielhaus mit Publikum zu füllen, weilte Marx 1876 zur Kur in Karlsbad. Sowohl in einem Brief an den Freund Friedrich Engels als auch an die Tochter Jenny finden sich recht launige Bemerkungen über jenes Spektakel. Denn ständig werde er in Karlsbad zu Wagner befragt, „diesen neudeutsch-preußischen Reichsmusikanten“. Über die Familienverhältnisse der Wagner-, Bülow- und Liszt-Sippe ist er scheinbar bestens informiert und kommt deshalb zu dem Schluss:

so kann man kaum einen besseren Operntext für Offenbach ersinnen als diese Familiengruppe mit ihren patriarchalen Beziehungen. Es ließen sich die Begebenheiten dieser Gruppe – wie die Nibelungen – auch in einer Tetralogie darstellen.

Was zu verstehen gibt, dass Marx auch genauere Kenntnis von der Ring-Tetralogie besaß, nur dass er die Beziehung zwischen Kultur und Politik am Ende zu „einsinnig“ dachte und deren komplementär-kompensatorische Beziehung schlichtweg übersah, „in der das Kulturelle als Gegengewicht des Ökonomischen diente“, wie Münkler bemerkt.

Die Themenfelder sind vielfältiger Natur und reichen von den prekären finanziellen Verhältnissen, in denen Marx und Wagner die meiste Zeit lebten, über die verhängnisvolle Bedeutung der Krankheit für alle drei, die nie ganz gesund waren und aus der sich auch eine gesellschaftliche Metapher ableiten ließ, bis hin zu ihrem sehr unterschiedlichen Verhältnis zum Judentum und zum Antisemitismus. Die Religionskritik und die Stiftung von Ersatzreligionen kommen mit Blick auf Wagners Parsifal ins Spiel. Erstaunlich indes, dass Münkler hier die Ende des 19. Jahrhunderts aufkommende Lebensreformbewegung außen vor lässt, die sowohl in ersatzreligiöser Hinsicht als auch mit Bezug auf Wagners ideologisch kontaminierten Regenerationsschriften von Bedeutung sind. Selbstredend geht es um die Revolutionen, um deren Gründe und Scheitern und an dieser Stelle dann um die Rolle des Bürgertums wie des Proletariats. Und schließlich schnürt Münkler im letzten Kapitel noch ein ideengesättigtes Gesprächspaket, in der Marx, Wagner und Nietzsche alle auf ihre Weise mit der Umwertung der Werte als Revolutionäre agierten, sei es auf dem Gebiet der Gesellschaft, der Kunst oder der moralischen Werte, die sie alle drei als desolat und dem Untergang geweiht erkannten. In einer kleinen Mythengalerie lässt Münkler dann nicht nur Siegfried und Napoleon in verwandtschaftlicher Nähe auftreten, sondern berichtet zudem, wie Marx, Wagner und Nietzsche Napoleon bewunderten als eine prometheische Figur, nämlich als Schöpfer und Veränderer mit tragischem Ende.

Münkler gibt sich in dem imaginären Gespräch der drei Geistesgrößen als gleichfalls meinungsstarker Moderator und auch als Animateur, der der Gedankenwelt seiner Helden in der Kulisse ihrer Epoche zum Auftritt verhilft. Auch wenn uns am Ende doch nur bekannte Gesichter mit ebenso bekannten gemischten Gefühlen begegnen, so besitzt das gleichwohl Unterhaltungswert. Denn das kombinatorische Spiel versteht Münkler in eine durchaus anregende Lektüre zu verwandeln, weshalb ihm hier das Schlusswort gegönnt sei:

So sind alle drei miteinander ins Gespräch gebrachten Denker im 21. Jahrhundert angekommen – und haben hier, nach hochideologischer Auslegung ihrer Werke im 20. Jahrhundert, wieder zu sich selbst gefunden, wenn auch Wagner nur teilweise. Einer Welt im Umbruch entstammend, können sie zu Begleitern im 21. Jahrhundert werden, ebenfalls eine Welt im Umbruch, wobei diese Begleitung eher eine der kritischen Infragestellung als eine der selbstsicheren Wegweisung ist.

Titelbild

Herfried Münkler: Marx, Wagner, Nietzsche. Welt im Umbruch.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2021.
608 Seiten , 34,00 EUR.
ISBN-13: 9783737101059

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