Der lebendige Glaube muss wandern
Der Sammelband „Mystik unterwegs“ untersucht die „Theologia mystica und revelationes in kartäusischen Händen“
Von Jörg Füllgrabe
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDas Feld der Mystik ist ein weites, das auch sinusartig immer wieder auf mehr oder minder großes Interesse stößt. Dabei wurde in Zeiten transzendentaler Obdachlosigkeit der Sechziger- und Siebzigerjahre zumal die mystische Selbst- wie Fremderfahrung eher im östlich-buddhistischen Rahmen gesucht und nicht unbedingt der eigenen europäischen Traditionen gedacht. Einen dieser Erfahrungsberichte lieferte Sheldon B. Kopp, der mit seinem Titel Triffst du Buddha unterwegs auch eine deutschsprachige Taschenbuchausgabe veröffentlichen konnte, was in vordigitalen Zeiten ein Zeichen großen Erfolges war. Nun war der Buchtitel eine reduzierte Zen-Weisheit, was der Verfasser auch offen einräumte. Vollständig lautete das Zitat: „Triffst Du Buddha unterwegs, so töte ihn!“
Die mit diesen Worten transportierte Idee des Loslassens ist sicherlich Kernpunkt auch der westlichen Mystiktradition, und auch die (spirituelle) Wanderschaft ist hier nicht so fremd. Ob bei dieser katäusischen Mystik unterwegs jedoch solche Radikalität angedacht war, ist eher fraglich, geht es doch um das Erweisen von teils verschütteten Traditionswegen. Die durch den Publikationstitel gegebenen Assoziationsmöglichkeiten – vielleicht den Herausgeberinnen und Herausgebern gar nicht recht bewusst – erscheinen reizvoll, die konkrete Einbettung mystischer Rezeption und Reflektion in die Tradition der Kartäuser sehr interessant.
Die in diesem Sammelband zusammengetragenen Texte haben ein gemeinsames Leitelement, eben das Phänomen ‚Kartäuser und Mystik‘. Behandelt wird es vor einem breiten paneuropäischen Hintergrund, wobei der jeweilige Zugang vom Exemplarischen zum Komplexen erfolgt. Ein dezidiert historischer Zugang zum Thema ist in erster Linie auf die kartäusischen Kontexte fokussiert, die sich als „Knotenpunkte der Produktion, Rezeption und Distribution“ mystischer Traditionen und Texte erweisen lassen. Mit ‚Ausbrechern‘ ins Hochmittelalter und die Frühe Neuzeit wird der zeitliche Schwerpunkt auf das Spätmittelalter gelegt. Explizit wird jeweils der Frage nachgegangen, auf welche Weise sich mystisches Interesse bei einzelnen Kartausen oder auch Kartäusern herausbildete und was sich dann aus diesen Ansätzen entwickelte.
Dass in diesem Zusammenhang Adaptions- beziehungsweise Transformationsvorgänge unterschiedlichen Grades und unterschiedlicher Intensität stattfanden, wird in den Beiträgen des vorliegenden Werks auf vielfältige Art und Weise dokumentiert und diskutiert. Der Band ist im Nukleus das Ergebnis eines Forschungs- und Tagungsprojekts, das die DFG in den Jahren 2018/2019 sowie 2019/2020 unter dem Titel Making Mysticism. Mystische Bücher in der Kartause Erfurt förderte. Über diese Kernregion hinaus wurden allerdings auch Texte zum Themenbereich aufgegriffen, die von nicht im Projekt involvierten Kolleginnen und Kollegen stammen und mitunter nur indirekt mit Erfurt zusammenhängen.
Sowohl in traditionsübergreifender als auch gewissermaßen topographischer Hinsicht waren demnach mystische Traditionen im Kontext der kartäusischen Bewegung ‚unterwegs‘ und wurden dabei mitunter einfach in den jeweiligen Bibliotheken gesammelt, rezipiert, dabei aber längst nicht nur lediglich adaptiert, sondern den jeweiligen Erwartungshaltungen und daraus resultierenden Notwendigkeiten angepasst oder anders ausgedrückt: im Rahmen konstruktiven Diskurses verändert, vor allem aber verinnerlicht. Das Ganze ist anzusehen als ein Prozess beziehungsweise mehrere Prozesse konstruktiven Transponierens; dabei müssen bis zu einem gewissen Grade auch inhaltliche Transfers in die jeweils eigene Zeit und Glaubenswirklichkeit stattgefunden haben, was bedeutet: Hochmittelalterliche kirchlich-gesellschaftliche Bedingtheiten wurden an die jeweiligen Notwendigkeiten angepasst.
Diesen kartäusischen Parametern entspricht auch die Aufteilung des vorliegenden Bandes in drei Großabschnitte: „Mystische Texte in kartäusischen Rezeptionszusammenhängen“, „Mystische Texte in kartäusischen Sammlungszusammenhängen“ sowie „Mystische Texte in kartäusischen Lehrzusammenhängen“. Mit dieser Gliederung ist im Grundsatz alles verbunden, was – in paraphrasierter Kürze – die Entwicklungslinien zwischen der mittelalterlichen Mystik und der Sammlung, Rezeption, Adaption und mitunter auch Inkorporation in die kartäusische Lebens- und Glaubenswelt ausmacht. Dass jeder der drei Großabschnitte drei Beiträge enthält, ist, auch wenn die Seitenzahl der Texte jeweils unterschiedlich ist, auf den ersten Blick bereits als Zeichen einer gesuchten Symmetrie zu deuten. Womöglich aber verbirgt sich hier noch mehr: Dreimal die Dreizahl ließe sich auch als Trippel-Trinität interpretieren und hätte damit ihrerseits eine mystische Komponente.
Im ersten Großabschnitt wird auf Basis der im Katalog der Erfurter Bibliothek unter der Signaturgruppe I aufgelisteten Texte auf unterschiedlichen Wegen der Frage nachgegangen, wie implizit oder gar explizit die kategoralen Zusammenhänge in der Tradierung mystischer Texte herausgearbeitet wurden. Simone Kügeler-Race beginnt diesen Themenblock mit ihrem Beitrag zu Lektürezeichen und Rezeptionsspuren in ‚The Book of Margery Kempe‘. Ein mystischer Vitentext in den Händen englischer Kartäuser. Hierbei untersucht sie, inwieweit diese zwar durchaus auf mystische Erfahrungen bezogene, gleichwohl tendenziell eher ‚lebensweltliche‘ Vita der Margery Kempe über die Adaption der dort wiedergegebenen Erfahrungen durch die Kartäuser Richard Methley und John Norton in einen Quellentext mystischen Erkenntnisschatzes verwandelt wird. Dies gelingt anhand der Untersuchung von Kommentaren und Bemerkungen am Rand des Textes, die deutlicher Beleg für die entsprechenden Adaptionsvorgänge sind.
Sergi Sancho Fibla (Reading Mystics, Building Saints. Impact and Reception of Carthusian Holy Women Within the Order) geht insofern einen umgekehrten Weg, als er – das Paradoxon aufgreifend, dass Präsenz, Aktivität und vor allem Spiritualität von Kartäuserinnen in gewisser Hinsicht asymmetrisch zum geringen Niederschlag dieses Faktums in Schriften aus weiblicher Hand stehen – explizit Kartäuserinnen und ihre Wirkung in den Blick nimmt. An den Viten von Marguerite d’Oingt, Beatrice Ornacieux sowie Rosaline de Villeneuve wird herausgearbeitet, inwieweit hier die weibliche Spiritualität zumindest ansatzweise Traditionslinien produzierte.
Dass hier gerade das Speculum der Marguerite d’Oingt besonders ins Auge gefasst wird, nimmt insofern nicht wunder, als dieser eng mit dem Begriff der Revelatio verknüpft wird, der als Kategorisierungsbegriff auch in der Erfurter Bibliothek eine prominente Rolle spielt. In einem späteren Sammeltext wurden Marguerites Speculum und Exzerpte aus Revelationstexten zusammengestellt. Aus diesem Umstand lässt sich erschließen, dass Marguerites Text als Zeugnis weiblichen Offenbarungswissen angesehen und rezipiert wurde. Ergänzt wird der Beitrag neben im Text eingebundenen Abbildungen durch eine Reihe von Anhängen, in denen tabellarisch Anmerkungen an die tradierten Texte aufgelistet sind, was die im Fließtext erfolgte Argumentation verdichtet.
Auch Stefan Abel geht in seinem Beitrag Mystagogisierung und Implementierung des ‚Nonnenwerks‘ im exemplar des Nürnberger Kartäusers Erhart Groß dem Phänomen ‚textlicher Vergesellschaftung‘ nach. Anhand der unter der Signatur Cod. I Q 77 in der Universitätsbibliothek von Wrocław (vormals Breslau) aufbewahrten Handschrift des Kartäusers, die gewissermaßen eine Art ‚Handbibliothek‘ verschiedener Zugänge zu einer geistlichen Lebensführung darstellt, werden entsprechende Adaptionsvorgänge untersucht. Explizit wird hier das auf Thomas’ von Kempen Imitatio Christi fußende geistliche Nonnenwerk mit der – weltlichen, weil auf die Ehe bezogenen – Grisardis verglichen. Ersteres ist zumindest im weiteren Sinne insofern praktischer Natur, als hier ein Dreistufenweg zur spirituellen Verwirklichung gewiesen wird, wenngleich der theoretische Überbau im Zentrum steht, während die Grisardis auf der Basis einer theoretischen Metaebene eher einen Lebensratgeber liefert. Im Groß’schen Handbuch werden mithin mystagogische und exemplarische Positionen in Verbindung gebracht, um den richtigen Glaubensweg oder vielmehr das korrekte Glaubenswegbündel darzustellen – in gewisser Hinsicht also eine Paraphrase kartäusischer Vielfalt in der Lebenswirklichkeit und Eindeutigkeit im spirituellen Ziel. Oder, um den Verfasser zu zitieren: „[D]ie willensmäßige Gleichförmigkeit ist für das Aufgehen in der Gemeinschaft unabdingbar, sei es im Kloster, in der Ehe oder ‚mystisch‘ in der Willensgemeinschaft mit Gott.“ Auch hier ist neben Textabbildungen eine Art Synopse aufgenommen, die allerdings im Fließtext zu finden ist.
Der Weg zu oder vielleicht vielmehr in dieser Willensgemeinschaft führte ganz offenkundig auch über die Sammlung von und den Rückgriff auf mystische(n) Textquellen. Diesen Sammlungen ist der zweite Schwerpunkt, „Mystische Texte in kartäusischen Sammlungszusammenhängen“ gewidmet. Hier wird der Aspekt des Unterwegs-Seins über das Wandern der verschiedenen Texte in kartäusischen Bibliotheken zum Thema gemacht. Durch diese Beobachtung der Überlieferungs- und Sammlungszusammenhänge wird der Ansatz verfolgt, sich der historischen Vermitteltheit der theologia mystica von der Warte der gegenwärtigen Forschungswirklichkeit anzunähern, wobei die entsprechenden Untersuchungen auf die Position Kurt Ruhs rückverweisen, demzufolge die Zielsetzung einer Geschichte der Mystik die historische Vermittlung mystischer Literatur sei.
Sebastian Holtzhauer (Katalogisierte kartäusische Spiritualität. (An)Ordnungen mystischen und visionären Schrifttums in den Bibliothekskatalogen süddeutscher Kartausen) geht in seiner Untersuchung zur Tradierung frauenmystischer Literatur auf die im süddeutschen Raum gut überlieferten Inventarlisten und Bibliothekskataloge kartäusischer Häuser ein. Unter anderem wird hier der in der Forschung immer wieder vertretene Topos der nicht oder lediglich rudimentär vorhandenen Systematik entsprechender Textsammlungen beziehungsweise deren Verzeichnisse weitgehend widerlegt. Holtzhauer liefert einen detailreichen Überblick; dass mit diesem Beitrag auch weitere Studien angeregt werden sollen, spricht der Verfasser direkt an. Für einen raschen Überblick sicherlich nicht zu vernachlässigen ist der tabellarische Anhang zum eigentlichen Aufsatz. Neben dem systematischen Aspekt bietet der Verfasser dann aber hinsichtlich der Wahrnehmung frauenmystischer Traditionen auch ein griffig formuliertes inhaltliches (Zwischen-)Ergebnis: „Die Nähe dieser Texte zueinander innerhalb des Ordnungssystems könnte mithin als thematische Nähe und somit als ein spezifisches Charakteristikum der Kartäsuerspiritualität im ausgehenden Mittelalter verstanden werden.“
Ingrid Falques Beitrag Les manuscrits de la bibliothèque de la chartreuse d’Utrecht au XVe siècle. Mystique, affect et images ist dezidiert den illustrierten Handschriftbeständen der nahe Utrecht gelegenen Kartause Nieuwlicht gewidmet, wobei aufgrund der schwächelnden Verzeichnissystematik eine dezidierte Zuordnung der jeweiligen Texte in den Rahmen mystischer Überlieferungstradition nicht immer eindeutig getroffen werden kann. Gleichwohl ist der Vorschlag, in den – zum Teil auch im Beitrag abgebildeten – Illustrationen eine Art von Meditationshilfe zu sehen, durchaus stringent. Die bildliche Darstellung ergänzt den Text in zweierlei Hinsicht: einmal in der Erweiterung des medialen Spektrums, dann aber auch durch die Erweiterung der Rezeptionsdichte, können Illustrationen doch meist direkter auch eine emotionale Wahrnehmungs- und Rezeptionsebene ansprechen. Auch wenn es trivial klingt: „Ein Bild sagt (oft zumindest) mehr als tausend Worte.“
Mit der Untersuchung des Buchs von geistlicher Armut nimmt Jonas Hermann Die Mystik in der Nussschale (so der Haupttitel des Textes) in den Blick und betritt damit das Feld volkssprachlicher Überlieferung. Dieser ursprünglich Johannes Tauler zugeschriebene Text, bei dem die Frage nach dem ursprünglichen Titel (die Nussschale soll in vor allem die in der Erstedition in der Titulatur vollzogene Verbindung zu Tauler ersetzen und dabei auf die Verzeichnung des Textes als Der Kern in der Erfurter Bibliothek verweisen) allerdings genauso ungeklärt ist wie die nach der Autorenschaft, ist mittlerweile in verschiedenen Sammlungen aufgefunden worden und scheint nicht zuletzt im mitteldeutschen Raum einen Verbreitungsschwerpunkt besessen zu haben. Dass gerade in Erfurt, spätestens seit dem Wirken Meister Eckharts in der Stadt eine Art ‚mystagogisches Zentrum‘, eine Abschrift existiert, nimmt nicht wunder. Und durch die in den Text hinein erfolgten Kommentierungen des Kern durch die Hand des Kartäusers Jacob Vollradi wird insbesondere anhand des kundgetanen Bedauerns des Kommentators, dass dieser Text äußerst lesenswert, es aber gerade deshalb so unschön sei, ihn nicht in einer lateinischen Version vorliegen zu haben, deutlich, welcher Wert dem Kern zugewiesen und in welch hohem Maße er gelesen wurde. Bemerkenswert ist aber auch, dass hier ein volkssprachlicher Text in der Wissenschaftssprache Latein kommentiert wurde, was ein eher seltenes Phänomen ist. Neben den spontanen Anmerkungen Vollradis lieferte dieser auch weiterführende Literaturhinweise, „sie dienten dazu, diese Mystik in der Nussschale, die er ihnen ja im Katalog in höchsten Tönen als geistige Speise anpreist, noch besser verdaulich zu machen“.
„Mystische Texte in kartäusischen Lehrzusammenhängen“, der dritte Großabschnitt, ist der Rahmen für die Untersuchungen der Rezeption mystischer Ideen, die auch hier innerhalb dreier Beiträge erfolgt. Im Konkreten wird in diesem Kontext die Auseinandersetzung kartäusischer Autoren mit volkssprachlichen und lateinischen Texten zur unio mystica in den Blick genommen.
Dabei wird von Myrtha de Meo-Ehlert (Die umstrittenen dionysischen Quellen im Briefwechsel zwischen Bernhard von Clairvaux und Guigo I. dem Kartäuser) an der Gestalt des Dionysius Areopagita beziehungsweise seiner Texte eine Überlieferungs- und Rezeptionskonstante untersucht, die – zumindest nicht auf den ersten, vermutlich vorurteilsbeladenen Blick – nicht unbedingt mit kartäusischen Traditionen in Verbindung zu bringen ist. In Auseinandersetzung nicht zuletzt mit ‚der‘ prägenden Persönlichkeit der deutschsprachigen Mystikforschung, Kurt Ruh, wird die die Vorstellung einer linearen Rezeptionsgeschichte des Areopagiten hinsichtlich einer Mehrdimensionalität erweitert, die nicht zuletzt auch den rezipierenden hochmittelalterlichen Zwischenstufen wie etwa Meister Eckhart, Johannes Tauler oder Rudolf von Biberach geschuldet ist. Auch dieser Beitrag wird von seiner Verfasserin ungeachtet der hier belegten Erweiterung des Traditionsbildes nicht zuletzt als Ausgangspunkt für weitere Forschungen gesehen, aber durch die geleistete Forschungsarbeit „sollte ein vielschichtiges Bild entstehen und ein kleiner Stein zum Leuchten gebracht werden“.
Auch Tom Gaens’ Beitrag (Ruusbroec Through the Looking Glass. Henry of Coesfeld’s Devotional Theology and Its Influence on Nicolas of Cusa) ist der Dionysius-Tradition gewidmet, wobei hier der Fokus auf der niederländischen Tradition – indirekt, weil über dessen Adaption bei Heinrich von Coesfeld – in Form von Jan van Ruusbroec liegt. Das Indirekte ist hier in doppeltem Sinne zu verstehen, denn Heinrich ist im Erfurter Katalog, der gewissermaßen den Leitstrahl in vorliegendem Sammelband bildet, im Gegensatz zu Jan van Ruusbroec nicht vertreten. Der Beitrag zeichnet sich zum einen durch die Aufnahme unpublizierten Quellenmaterials aus, dann aber auch in einem Exkurs – erinnert sei hier an den Beitrag Ingrid Falques – auf ein Jan van Eyck zugeschriebenes, die Anbetung der Madonna durch die Heilige Barbara, die Heilige Elisabeth von Thüringen sowie einen Kartäusermönch darstellendes Gemälde, in dem Gaens Bezüge auf die kartäusische Theologie erkennt. Auch hier wird wieder die eher ungewöhnliche Praxis der Adaption volkssprachlicher Texte (Jan van Ruusbroec) durch die gelehrten Federn eines Heinrich beziehungsweise durch dessen Vermittlung schließlich eines Nikolaus von Kues nachgewiesen, womit eine weitere Wanderbewegung mystischer Traditionen, hier vor allem im Kontext verschiedener Sprachen, erkennbar gemacht wird.
Auch Christian Trottmann thematisiert in seinem Beitrag Des trois connaissances théologiques aux trois sagesses selon Hugues de Balma, Guigues du Pont et Denys le Chartreux die kartäusische Überlieferungstradition der Werke des Dionysius. Hier stehen Rezeption und Diskussion dionysischer Traditionen zunächst durch den gelehrten Kartäuser Hugo de Balma sowie – sich ihrerseits mit Hugo befassend – durch Guigo de Ponte und Dionysius den Kartäuser im Brennpunkt. Und alles kreist um die Frage: In welchem Verhältnis stehen Intellekt und Affekt bei der Suche nach Gotteserkenntnis?
Der vorliegende Band führt auf solide Weise in eine eigentlich abgeschlossene, weil gewissermaßen monastische Welt in Spätmittelalter und Früher Neuzeit ein, die allerdings mit ihrer zeitgenössischen Welt durchaus in Kontakt stand und deren Sammlung, Aneignung und Interpretation mystischer Texte und Überlieferungen zum einen vom individuellen Suchen der Menschen nach spiritueller Erlösung berichtet, zum anderen eben durch diese Prozesse der Traditionssuche sowie die Traditionslinien erkennbar macht, dass derlei auch in nachmittelalterlicher Zeit noch von Belang ist. Das gilt auch, aber beileibe nicht nur, weil die zumindest implizit immer gegenwärtige Leitlinie ein katalogisches Verzeichnis einer Bibliothek, der Bibliothek der Erfurter Kartäuser, ist – ein Medium also, das (gleichgültig ob analog oder digital) für alle Leserinnen und Leser unabdingbar ist, wenn die jeweilige Nutzung nicht bloßes Zufallsergebnis bleiben soll.
Pars pro toto – oder volkssprachlich ausgedrückt: vom Einzelnen zum Gesamten – wäre eine passende Untertitelung des Buches. Und auf eine interessante Weise schließt sich hier der Erwartungskreislauf auch wieder. Bedauerlicherweise vermag es Mystik unterwegs nicht, die Manifestation des suchenden Unterwegs-Seins von Menschen zu thematisieren. Es regt allerdings dazu an, sich in den Kosmos der Bibliothek(en) zu begeben, der wissenschaftlich Interessierten und Arbeitenden ja gar nicht so fern liegt. Und wenn auch das detaillierte Eingehen auf Signaturen, Verzeichnisparameter et cetera nicht immer sogartig das Interesse zu wecken vermag, so enthüllen der zweite und dritte Blick dann immer wieder doch deutlich mehr als erwartet. Und allein das liefert bereits viele spannende Aha-Effekte.
Mystik unterwegs bietet somit zweifellos Überraschendes, das sich in Details verbirgt und durch die Arbeiten der beteiligten Autorinnen und Autoren freigelegt wird, daneben liefert das Werk aber auch Anregungen zum eigenen Arbeiten und dabei überdies die Chance, vermeintlich Unbekanntes als gar nicht so fremdartig zu erkennen – und dabei die immer wieder einmal beschworenen ‚großen Linien‘ zu sehen. Es handelt sich um eine lesenswerte Publikation, die durch ein knappes aber zielführendes Register praktisch aufgewertet sowie durch die eingestreuten Illustrationen in sinnvoller Weise aufgelockert und ergänzt wird und deren Anschaffung sich daher uneingeschränkt lohnt.
Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg
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