Gelebter Widerstand
Alexej Nawalny hinterlässt mit seinem Buch „Patriot. Meine Geschichte“ ein bleibendes Vermächtnis
Von Daniel Henseler
Alexej Nawalny war eine der bemerkenswertesten Persönlichkeiten im Russland der letzten Jahre. Jemand hat einmal formuliert: „In Russland gibt es nur zwei Politiker: Putin und Nawalny“. Das mag übertrieben sein, sagt aber doch etwas über die Wahrnehmung Nawalnys aus. Viele trauten ihm zu, dass er in einem erneuerten Russland dereinst eine führende politische Rolle übernehmen könnte. Vor knapp einem Jahr ist Nawalny in einem Straflager am Polarkreis verstorben. Die Umstände seines Todes sind ungeklärt und werden es wohl auch für immer bleiben. Russische Oppositionelle und viele andere gehen davon aus, dass der russische Staat Nawalny ermordet hat.
In einer konzertierten Aktion wurde im Oktober 2024 Alexej Nawalnys Buch Patriot. Meine Geschichte gleichzeitig in zahlreichen Sprachen veröffentlicht. Es ist zu seinem Vermächtnis geworden. Die Memoiren sind in vier Kapitel gegliedert. Im ersten und kürzesten Teil unter dem Titel „Dem Tode nahe“ berichtet Nawalny von seiner Vergiftung im August 2020 und den Monaten unmittelbar danach. Das ist wahrscheinlich jene Periode seines Lebens, die allgemein am besten bekannt sein dürfte. Dazu hat auch der Dokumentarfilm Navalny aus dem Jahr 2022 beigetragen, der später mit einem Oscar ausgezeichnet wurde: Darin klärt der Politiker zusammen mit seinem Team in geradezu genialer Weise die Hintergründe des Giftanschlags auf und enttarnt faktisch die Täter und deren Hintermänner beim russischen Geheimdienst.
Für ein breiteres Publikum neu dürfte hingegen manches sein, was man in den Teilen II („Heranwachsen“) und III („Die Arbeit“) erfahren kann. Nawalny erzählt hier beispielsweise von seinem Aufwachsen in einem Militärstädtchen nicht weit von Moskau sowie vom ukrainischen Teil seiner Familie. Er nennt frühe Erfahrungen, die ihn geprägt haben: Die Reaktorkatastrophe in Tschernobyl 1986, die damit verbundenen Lügen des sowjetischen Regimes, aber auch die oppositionelle Haltung seiner Eltern. Später berichtet er vom Jurastudium und seiner Arbeit als Rechtsberater in Firmen. Und natürlich geht er auf seine politische Laufbahn und deren verschiedene Abschnitte ein. Sein Werdegang mündet schließlich in den Kampf, für den er vor allem bekannt geworden ist: gegen die alles überwuchernde Korruption.
Die bisherigen Besprechungen von Alexej Nawalnys Memoiren haben in diesen beiden Teilen einige Mängel ausgemacht: So wurde Nawalny etwa vorgeworfen, er gehe nur sehr knapp auf seine „nationalistische“ Zeit und die Hinwendung zur politischen Rechten ein. Auch sei Nawalny analytisch erstaunlich schwach. Gar Größenwahnsinn wollte man beim Autor erkannt haben. – Man kann hier vielem zustimmen: Nawalnys politischer Werdegang mit den einzelnen Etappen, wie der Autor sie selbst schildert, scheint in der narrativen Darstellung tatsächlich nur zum Teil nachvollziehbar. Das heißt nicht, dass es keine Schlüssigkeit in der politischen Entwicklung gäbe – doch sie kommt bei der Leserschaft nicht an: Diese Phasen werden zu wenig ausführlich erklärt. Wieso Russland politisch und sozial zu dem geworden ist, was es heute ist – das kann Nawalnys Buch in der Tat nicht abschließend erklären. Fakt ist auch: Der Politiker äußert sich kaum zur Ukraine. Dabei sollte allerdings nicht vergessen werden, dass Nawalny sich am Tag des großflächigen Einmarsches Russlands in die Ukraine schon längst im Gefängnis befand und vom Regime damit ganz bewusst „paralysiert“ worden war.
Alexej Nawalnys Stärken lagen in der Kommunikation mit den Menschen, in seinem mitreißenden Glauben an ein besseres, schönes Russland der Zukunft, in der Fähigkeit, Menschen aus ihrer Erstarrung herauszuholen. Auch hat er mit seinem Team von der „Stiftung für Korruptionsbekämpfung“ immer wieder in Aufsehen erregenden Enthüllungen die Schwachstellen des Regimes entdeckt und bloßgestellt. Dabei konnte er jedoch nie eine exekutive Funktion in der russländischen Politik ausüben konnte – dies wurde ihm verwehrt. Man kann dem Regimekritiker diesen Umstand deswegen nicht zum Vorwurf machen.
In Patriot. Meine Geschichte verblüffen aber besonders die Ironie und der Galgenhumor, mit denen Alexej Nawalny seinen Bericht immer wieder unterlegt. Er formuliert oft salopp, flapsig, im Plauderton. Vor dem Hintergrund der ansonsten gänzlich humorlosen, drögen und korrupten Politik in Russland ist das erfrischend. Außerdem ist dies eine Form der Selbstdistanzierung, die wohl auch der Bewahrung von Nawalnys psychischer Gesundheit dient. Gleichzeitig passt diese Eigenschaft dann doch nicht ganz zu den Vorwürfen des Größenwahns, der ja gewöhnlich keine Selbstdistanzierung kennt. Gewiss ist manches in Nawalnys Ausführungen auch recht redundant – zumindest für diejenigen, welche die russischen Verhältnisse der letzten Jahre bereits gut kennen. Hier stellt sich deshalb die Frage, ob Nawalny sich mit seinem Buch vielleicht vor allem an ein internationales Publikum richtet. Das allerdings würde seinerseits nach einer Erklärung verlangen: Man hat Nawalny nämlich immer wieder vorgeworfen, er sei ja gerade in Russland – zumindest außerhalb großstädtischer und gebildeter Kreise – kaum bekannt. Es wäre daher möglicherweise sinnvoller gewesen, so ein Buch eben auf diejenigen in Russland selbst auszurichten, die Nawalny weniger kennen. Das wiederum hätte wohl verlangt, dass er sich stärker auf sein poltisches Programm konzentriert.
Den vierten und längsten Teil von Nawalnys Memoiren („Gefängnis“) bildet das Gefängnistagebuch aus den Jahren 2021 bis 2024. Wer mit der russischen und sowjetischen Geschichte einigermaßen vertraut ist, denkt hier wahrscheinlich als erstes: Geht denn das in Russland immer weiter so? – Nawalny ist sich natürlich bewusst, dass er mit seinen Aufzeichnungen aus dem Gefängnis in einer langen, bitteren Ahnenreihe steht. Was gewinnt man also bei der Lektüre dazu? Zum einen ist es eindrücklich zu beobachten, wie Nawalny nun nachdenklicher wird, sich grundsätzlichere Fragen zu Leben und Tod stellt, wie er zum Glauben findet und darin Sinn und Kraft schöpft. Zum anderen gibt dieses Tagebuch auch einen detaillierten Einblick in den Alltag, die Praktiken, Grausamkeiten und bisweilen Absurditäten der russischen Gefängnisse und Straflager unserer Zeit. Das ist in soziologischer und historischer Hinsicht sehr wertvoll.
Bedauerlich ist, dass nirgends erklärt wird, warum das Buch nicht direkt aus dem Russischen, sondern aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt wurde. Es mag dafür Gründe geben, doch man hätte sie nennen sollen. Gab es eine Ur-Übersetzung ins Englische, welche als Ausgangsversion für alle anderen Sprachen dienen musste? Wurde diese von irgendjemandem autorisiert? – Diese Fragen sind nicht banal: Die deutsche Übersetzung weist dann doch einige Fehler und Schwächen auf, die zumindest teilweise der Vermittlung übers Englische geschuldet sind. So herrscht bei der Wiedergabe russischer Eigennamen ein Wildwuchs: Manchmal wurden sie korrekt ins Deutsche transliteriert, manchmal wurden sie aber einfach in englischer Lautung belassen. Fatalerweise wird der historisch bekannte Ausdruck „fünfte Kolonne“ mit „fünfter Kolumnist“ völlig falsch übersetzt. Auch sachliche Fehler finden sich: Bei jener berühmten „Telebrücke“ zwischen Leningrad und Boston vom 17.6.1986 fiel tatsächlich der denkwürdige und ikonisch gewordene Satz: „In der UdSSR gibt es keinen Sex!“ Doch wurde er nicht von einem Mann geäußert, wie es die Anmerkung im Buch behauptet, sondern von einer Frau (Die Sendung hieß übrigens: „Frauen sprechen mit Frauen“ …). Hier stellt sich dann doch die Frage, ob die Übersetzerinnen und Übersetzer aus dem Englischen wirklich nahe genug an der sowjetischen und russischen Realität sind.
Anstelle eines abschließenden Urteils darüber, was denn nun „gut“ oder „schlecht“ an diesem Buch sei, bietet es sich vielleicht an, die Perspektive ein wenig zu verschieben und zu fragen: Wie wird und wie soll dieses Buch in Erinnerung bleiben? – In 20 oder 50 Jahren wird es wohl für eine breite Öffentlichkeit weniger darum gehen, wie fundiert die Zeitdiagnose in diesem Buch ausfällt und wie vollständig der Autor seinen politischen Werdegang nachzeichnet. Entscheidend wird eine andere, sehr viel wichtigere Botschaft sein. Zusammen mit Alexej Nawalnys zahlreichen Videos und Wortmeldungen im Internet wird auch Patriot. Meine Geschichte Zeugnis hierfür ablegen: Es gab und gibt auch in Putins Russland Menschen, die entschiedenen Widerstand geleistet haben.
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