Ursachen und Spätfolgen eines Unfalls

Die australische Autorin Imbi Neeme schildert in ihrem Debütroman „Die Wahrheit und andere Erinnerungen“ ein Familiendrama

Von Rainer RönschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rainer Rönsch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Spätnachmittag mit heißer Luft und rotem Staub in der Nähe von Perth in Australien. Tina, die Mutter von Nicole und Samantha, trinkt in einer Kneipe, um den Unfall zu bewältigen, den sie soeben mit ihrem Auto verursacht hat und bei dem niemand ernstlich verletzt wurde. Als ihr Mann Craig sie und die beiden Töchter abholt, kreischt sie: „Das ist mein verdammter Mann aus dem verdammten Perth!“ Craig packt sie hart an.

Das Interesse des Lesers ist geweckt. Was stimmt in dieser Familie nicht? Wie kam es dazu, und wie geht es weiter?

Blättert man nun das Buch durch, um sich ein Bild von der Struktur zu machen, stellt man erstaunt fest, dass die rund 300 Seiten in 38 Mini-Kapitel unterteilt sind, autark erzählt oder aus der Sicht von Nicole oder Samantha, die in die siebente bzw. fünfte Klasse gehen, als der Unfall passiert. Von Linearität keine Spur, der Text beginnt „Nach dem Unfall“, endet „Vor dem Unfall“ und springt dazwischen munter hin und her. Fügt sich diese komplizierte Gliederung zu einem geschlossenen Ganzen und wird sie dem Inhalt besser gerecht als lineares Erzählen?

Beide Fragen sind klar zu bejahen. Mit erstaunlichem Geschick bringt die australische Autorin Imbi Neeme in ihrem Debütroman alle losen Fäden zusammen, und die wechselnden Zeitebenen und Perspektiven schaffen Spannung und immer neue Überraschungen.

Das Gedächtnis spielt uns arge Streiche, wenn Halbwahrheiten oder bloße Vermutungen in der Erinnerung als Fakten gespeichert werden. Eines Tages kommt Vergessenes, Verdrängtes oder falsch Verstandenes wieder an die Oberfläche und richtet Unheil an. In der Rezension kann nicht im Detail dargestellt werden, wann und wie die Betroffenen und der Leser die tatsächlichen Zusammenhänge erkennen.

Für die beiden Schwestern als Hauptfiguren ist ein Streit typisch: Nicole erinnert sich an ihren 21. Geburtstag, an dem Samantha in ihrer Rede gesagt haben soll, Schwestern seien Sicherheitsgurte füreinander. Samantha erwidert, sie würde so etwas nie sagen und habe gar keine Rede gehalten.

Krass unterschiedlich gehen die Schwestern mit dem Alkoholismus ihrer Mutter um. Samantha unterstellt immer das Schlimmste, während Nicole beschwichtigt. Samantha hat die Mutter einmal als armselige alte Säuferin bezeichnet und dafür eine Ohrfeige kassiert, die immer noch brennt. Aber sie, die so prinzipienfest Wirkende, greift nach einer komplizierten Entbindung selbst zum Alkohol. Sie setzt damit ihre Liebe zum gewissenhaften Trent aufs Spiel, der sie nach ihrer Abschlussprüfung angesprochen hat. Am ersten gemeinsamen Abend mieden sie die Alkoholpartys ihrer jeweiligen Freunde und fanden es schön, nicht miteinander zu trinken.

Nun braucht auch Trent den Alkohol, um Samantha zu ertragen. Der Konflikt verschärft sich, als Trent herausfindet, dass seine Frau heimlich die Pille nimmt. Wegen ihrer Unvollkommenheit will sie kein zweites Kind, vertraut ihm das aber nicht an. Die Liebe ihrer Tochter Rosemary hat sie wegen ihrer Rigorosität ohnehin verloren, auch steht zwischen dem Mädchen und der Welt stets ein elektronisches Gerät.

Nicole, die sich nach einer Fehlgeburt und einer gescheiterten Beziehung ziellos treiben ließ, findet Halt beim reichen Jethro. Der sagte ihr beim Kennenlernen, Craig lobe seine beiden Mädchen. Nicole stellt sich das so vor: „Meine Große arbeitet von zu Hause, sitzt im Schlafanzug vor dem Computer und hat sich die erste Staffel von Lost an einem Wochenende reingezogen.“ Dies ist eine von zahlreichen Belegstellen für den sarkastischen Humor der Autorin.

Bereitwillig gibt Jethro, dem Nicole ein „sanftes Strahlen“ ins Leben bringt, Geld für die Hilfsbedürftigen in der Familie aus. Zu ihnen gehört neben Tina, die mit unheilbarem Leberleiden in eine Privatklinik kommt, auch deren jüngere Schwester Meg. Ihre Affäre mit Craig, für ihn eine von vielen, hat Tinas Ehe zerstört. Tina hatte kurz vor dem Unfall davon erfahren – deshalb wollte sie schnell zu ihren Eltern, während Nicole sich jahrelang einredet, ihr Drängeln wegen einer Fernsehsendung, die sie unbedingt sehen wollte, sei schuld an dem Unfall.

Obwohl Tina trinkt, erweist sich Craig als Schwachpunkt der Familie. Er hat Tina geliebt und sich, als er sie durch eigene Schuld zu verlieren drohte, an andere starke Frauen angelehnt. Immerhin aber hat er Samantha zusammen mit seiner neuen Frau ein Heim geboten, als die es nicht mehr bei ihrer Mutter aushielt. Tina wiederum hat Samantha nicht egoistisch fortgeekelt, sondern wollte sie vor ihrem schlechten Vorbild schützen.

All die Lügen, Irrtümer und verschwiegenen Wahrheiten lassen sich nicht einfach auflösen. Samanatha weiß nichts von Nicoles Fehlgeburt und hält deren Kinderlosigkeit für Egoismus. Sie selbst hat ihren Besuch bei der todkranken Mutter verschwiegen, weshalb Nicole sie herzlos fand. Doch am Ende reden die Schwestern miteinander. Nicole quittiert Samanthas Bemerkung, das hätten sie also doch geschafft, mit „Amen“, weil sie hofft, ihrer beiden Geheimnisse könnten einander aufwiegen und den Weg zu neuer Schwesterlichkeit frei machen. Ein Foto der beiden eng umschlungenen Schwestern in Strandkleidern, unmittelbar vor dem Unfall aufgenommen, wird zur wichtigen Erinnerung für beide. Nach langem Auseinanderleben finden sie zaghaft wieder zueinander.

Das ist kein herbeigezaubertes „Happy End“ für Nicole und Samantha, sondern dank der Gestaltungskunst einer so klarsichtigen wie mitfühlenden Autorin ein glaubhafter Hoffnungsfunke. Der Roman wurde mit dem „Penguin Literary Prize 2019“ ausgezeichnet, zu Recht und sicher nicht nur wegen der für ein Debüt erstaunlich komplexen Struktur. Imbi Neeme zeichnet scharf konturierte Porträts von Menschen, die sich aus Schwäche an denen vergehen, die sie lieben. Doch die Autorin gibt keine wichtige Figur der absoluten Verurteilung preis oder macht sie gar zur Karikatur. Tina ist alkoholkrank, was schwer auf der Familie lastet. In entscheidenden Augenblicken aber stellt sie sich ihrer mütterlichen Verantwortung, und Craig überwindet sich selbst, um Samantha vor der Verzweiflung zu retten. 

Von Lew Tolstoi haben wir gelernt, dass jede unglückliche Familie auf ihre Weise unglücklich ist. Imbi Neeme schildert eine schwer auf allen Betroffenen lastende Spielart familiären Unglücks und dennoch eine Aussicht auf Besserung. Dank der feinfühligen Übersetzung von Andrea O’Brien kommt dies in der deutschen Fassung überzeugend herüber.

Titelbild

Imbi Neeme: Die Wahrheit und andere Erinnerungen.
Aus dem australischen Englisch von Andrea O‘Brien.
Arche Verlag, Hamburg 2022.
336 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783716028032

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