Vom Kosmopolitismus zum Fähigkeitenansatz

Martha Nussbaums Revision des Kosmopolitismus

Von Franz Sz. HorváthRSS-Newsfeed neuer Artikel von Franz Sz. Horváth

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Martha Nussbaum zählt zu den einflussreichsten US-amerikanischen Philosophinnen der Gegenwart, deren breite Wirkung sich nicht zuletzt daran ablesen lässt, dass ihr Denken bereits Gegenstand von „Praxis Philosophie Ethik“, einer schuldidaktischen Zeitschrift für die genannten Fächer, geworden ist (1/2018).

In ihrem neuesten Werk widmet sich Nussbaum dem „Kosmopolitismus“, den sie als ein revisionsbedürftiges Ideal begreift. Dabei versteht sie „Revision“ im engeren Wortsinne als „Sichtung“ und „Prüfung“, aber auch als „Überarbeitung“, da sie dem Kosmopolitismus eine Blindheit für Fragen der materiellen Gerechtigkeit vorwirft. Sie fragt sich, inwiefern ein Kosmopolit, der von der Gleichwertigkeit aller Menschen ausgeht, verpflichtet ist, sich überall für Menschenrechte und die Achtung der menschlichen Würde einzusetzen. Gibt es Pflichten, sich geschlechtsspezifischen, ethnischen oder religiösen Hierarchien in fremden Ländern entgegenzustellen und dafür sogar eigene Ressourcen einzusetzen? Schließt das Postulat der gleichen Menschenrechte die Aufforderung ein, für die Beseitigung materieller Ungleichheiten und struktureller Benachteiligungen einzutreten, um jene Rechte umfassend zu verwirklichen?

Um Antworten auf all diese Fragen zu bekommen, sichtet Nussbaum die einschlägigen Ausführungen Ciceros, Hugo Grotius‘ und Adam Smiths neu. Anschließend formuliert sie die ermittelten Probleme in einem eigenen Kapitel, um zuletzt mit ihrem eigenen „Fähigkeitenansatz“, den sie bereits vor Jahren entwickelt hatte, den Versuch zu starten, dem Kosmopolitismus neues Leben einzuhauchen, nachdem dieser durch das Revival populistischer und nationalistischer Bewegungen in den letzten Jahren stark unter Druck geraten war.

Im Kapitel über Cicero arbeitet sie heraus, dass dessen Gerechtigkeitspflichten (Respekt, Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit usw.) „die Idee der Achtung der Menschheit zum Inhalt“ hätten, wodurch sie auf Grotius und Kant gewirkt hatten. Sie gelten damit weltweit, denn es sei absurd, sie nur gegenüber den nächsten Angehörigen und den Mitgliedern einer Nation gelten zu lassen: „Nationale Grenzen sind moralisch irrelevant“. Hinsichtlich der Pflichten der materiellen Hilfeleistung habe Cicero betont, dass diese nur bis zu dem Punkt geleistet werden müsse, der „ohne persönliche Beeinträchtigung“ erreicht werde. Die Behebung der Bedürftigkeit aller Menschen außerhalb der eigenen Nation würde die eigenen Ressourcen erschöpfen, sei mithin nicht praktikabel.

Nussbaum legt somit den Finger auf den wunden Punkt der Ciceronischen Ethik, wenn diese einerseits die Menschenwürde und die Gleichheit aller Menschen als Postulat ausspricht, andererseits es aber toleriert, wenn wir Menschen durch die Verweigerung materieller Hilfeleistung Gewalt antun. Sie selbst hält fest: „Die Würde des Menschen verdient Unterstützung und Respekt; miserable Lebensumstände beleidigen sie“. Denn nicht nur körperliche oder psychische Gewalt und Folter stellen einen Verstoß gegen die Würde dar, sondern auch Armut, unterstreicht sie. Damit weist sie auch die stoische sowie die davon beeinflusste christliche Lehre zurück, die von der Unverwundbarkeit der Seele durch äußere Umstände ausgehen und äußere Güter als für das Menschsein unwichtig ablehnen.

Trotz dieser Einwände ist die amerikanische Philosophin zurückhaltend und realistisch, wenn es um den Einsatz für die materielle Gerechtigkeit geht. Sie weiß darum, dass die Ressourcen eines jeden Landes endlich sind und lehnt auch die gewaltsame Einmischung in die inneren Angelegenheiten von fremden Nationen zwecks Durchsetzung von Regimewechseln strikt ab. Die Argumentation des neuzeitlichen Juristen Hugo Grotius benutzt sie, um einen Ausgangspunkt für weitere Überlegungen zur materiellen Hilfeleistung zu erhalten. So verweist sie insbesondere auf dessen Ausführungen hinsichtlich bestimmter „Gemeinschaftsgüter“ (Meer, Atmosphäre usw.), die das gemeinsame Eigentum aller Völker und kein Eigentum einer bestimmten Nation seien. Auch müsse das Stillen bestimmter „Grundbedürfnisse“ für alle Menschen weltweit gegeben sein. Den Gedanken Grotius‘ entnimmt sie auch die Überlegung, dass ein hohes Maß an Umverteilung sowohl innerhalb der Nationen als auch von reichen zu armen Nationen als moralisch geboten erscheinen kann.

Bei Adam Smith wird Nussbaum auf ihrer Suche nach einem anschlussfähigen Ansatz für ihre kosmopolitischen Überlegungen insofern fündig, als dieser zur Lehre der Stoiker ihrer Meinung nach zwei wesentliche Aspekte hinzufüge: die Bedeutung der Arbeit und den Einfluss der Beschäftigung auf die menschlichen Fähigkeiten. Denn unterschiedliche Lebensbedingungen formen den Menschen nun einmal und wirken sich auf die Entwicklung der menschlichen Fähigkeiten aus. Materielle Angelegenheiten seien daher, so Nussbaum, wichtig als Formen der wechselseitigen Achtung der Vernunft. Schließlich gehörten, laut Smith, auch bestimmte materielle Grundlagen wie Arbeitsbedingungen, gerechter Lohn, freie Berufswahl usw. zur Menschenwürde. Auch widersprächen bestimmte Institutionen und gesellschaftliche Strukturen dieser Würde. Obwohl sich Smith für freien Handel ausspricht, stelle er die Bedeutung nationaler Grenzen nicht infrage, da eine unkontrollierte Migration die von ihm propagierte demokratische Selbstverwaltung der Nationen bedrohen könnte. Damit befürwortet Smith letztlich den Nationalstaat, auch wenn er seine Leser auffordert, sich mit dem „Wohl der gesamten Menschheit“ zu identifizieren.

Mit den Stichworten „Migration“, „Nationalstaat“ oder auch „materielle Hilfeleistung“ sind damit die Begriffe benannt, die auf die brennende Aktualität von Nussbaums Ausführungen verweisen. Ihr „Fähigkeitenansatz“ betont, dass die Pflichten der Gerechtigkeit von den Pflichten zur materiellen Hilfe nicht zu trennen sind. Allerdings könne eine solche Hilfe nicht oktroyiert werden: „Die Nationen müssen politische Autonomie und Selbstbestimmung behalten“.

Nussbaums Ansatz besteht darin, zehn grundlegende interne und äußere Fähigkeiten vorzustellen, die vorhanden sein müssen, wenn eine Nation sich gerecht nennen können will: Dabei geht es u.a. darum, ein unversehrtes Leben führen zu können, die körperliche Gesundheit einschließlich angemessener Ernährung und Unterkunft erhalten zu können; die eigene körperliche Integrität (Bewegungsfreiheit, Freiheit vor Übergriffen jeglicher Art) bewahren zu können, um geistige und emotionale Bewegungsräume sowie um die Möglichkeit, eigene moralische und religiöse Vorstellungen machen und leben zu dürfen. Auch die autonome Bestimmung der Zugehörigkeit zu (ethnischen, religiösen, sexuellen usw.) Gruppen sowie die Kontrolle über die eigene Umwelt in politischer, ökologischer und materieller Hinsicht gehören schließlich zu diesen Fähigkeiten, die gewährleistet sein müssen. Die materiellen Rechte auf Bildung, Gesundheitsversorgung usw. seien für ein menschenwürdiges Lebens genauso wichtig wie die klassischen Freiheitsrechte, betont die Philosophin. Sie sieht auch die Weltgemeinschaft in der Pflicht, „ärmeren Nationen auf jede denkbare Weise bei der Erfüllung ihrer Fähigkeitenforderungen zu helfen“.

Allerdings widerspricht diese Aussage sowohl jener über die Selbstbestimmung der Nationen als auch anderen, die sich gegen den „Paternalismus“ des Westens richten und die Umsetzung der aufgezählten Fähigkeiten als Aufgabenbereich der einzelnen Nationen begreifen. Überhaupt sind zum Schluss ihrer Ausführungen manche der Aussagen wenig zufriedenstellend, so wenn sie sich einerseits für die materiellen Rechte und den politischen Liberalismus des Westens stark macht, den sie auch für den Rest der Welt empfiehlt, andererseits aber keine weiteren Ausführungen zum Umgang mit der Migration in die westlichen Länder erfolgen.

Dabei ist diese wesentlich von dem Mangel an materiellen Rechten und Möglichkeiten in den Ursprungsländern ausgelöst worden, deren Souveränität Nussbaum jedoch wiederholt betont. Auch mag es aus ihrer Sicht so scheinen, als eigne sich der politische Liberalismus für die ganze Welt, unverkennbar ist jedoch eine Abwendung vor allem osteuropäischer Gesellschaften von einer solchen Ordnung und ihre Hinwendung zu einer illiberalen politischen Einrichtung. Nussbaums Vorschlag zur Stärkung und Verbreitung ihres Fähigkeitenansatzes, man solle Bewegungen unterstützen, die eine politische Liberalisierung im Sinne ihrer Liste anstreben, erweist sich angesichts des massiven Vorgehens Russlands oder Ungarns gegen NGOs als naiv und weltfremd. Zu leicht lassen sich diese Organisationen zudem als eine Einmischung äußerer Faktoren in die inneren Angelegenheiten eines Landes darstellen, was wiederum auch Nussbaum mehrfach abgelehnt hat.

Martha Nussbaum kommt mit diesem Buch zweifellos das Verdienst zu, die Idee des Kosmopolitismus gestärkt und etwa Cicero daraufhin gelesen zu haben, was er zur Diskussion über die Menschenwürde beitragen kann. Die Betonung, dass zur Menschenwürde nicht nur die klassischen Freiheitsrechte und eine adäquate Behandlung der Person gehören, sondern auch die Beseitigung grundlegender materieller Benachteiligungen, ist auf jeden Fall nachvollziehbar. Wie diese Beseitigung geschehen soll, wie die Überzeugungsarbeit für eine kosmopolitisch-liberale Grundeinsicht insbesondere gegenüber Fanatikern unterschiedlicher Couleur erfolgen soll, darauf gibt ihr Buch leider keine Antworten.      

 

Titelbild

Martha Nussbaum: Kosmopolitismus. Revision eines Ideals.
wbg Theiss, Darmstadt 2020.
352 Seiten , 30,00 EUR.
ISBN-13: 9783806240580

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