Die Bedingungen des Schreibens und der Kampf um Sichtbarkeit

Tillie Olsen bringt in ihrem Essay schweigende Stimmen in der Literatur zu Gehör

Von Katja HachenbergRSS-Newsfeed neuer Artikel von Katja Hachenberg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Tillie Olsen, 1912 als Tochter jüdischer Einwanderer aus Russland in Nebraska geboren, 2007 in Oakland, Kalifornien, gestorben, gilt als Wegbereiterin der emanzipatorischen Literatur. Als junge vierfache Mutter musste sie ihr politisches Engagement in der Kommunistischen Partei und der Arbeiterbewegung mit ihrem künstlerischen Ehrgeiz und der Notwendigkeit des Broterwerbs unter einen Hut bringen.

Was fehlt ist eine deutsche Erstausgabe. Wie aus der editorischen Notiz zu erfahren ist, enthält das Buch die 1962 und 1971 zunächst als Vorträge entstandenen Essays Das Schweigen in der Literatur sowie Eine von zwölf: Frauen unter den Schreibenden. Die Texte wurden anhand der Vortragsnotizen und, im Fall von Das Schweigen in der Literatur, mithilfe des transkribierten Tonbandmitschnitts für die Veröffentlichung in eine schriftliche Fassung gebracht. Gemeinsam überarbeitet in Buchform publiziert wurden sie erstmals im Jahr 1978 unter dem Titel Silences. Die gleichnamige, Was fehlt zugrunde liegende aktuelle Ausgabe erschien 2003 bei The Feminist Press at the City University of New York.

Silences ist als „Bibel“ bezeichnet worden (Sandra Cisneros). Es ist ein Buch von roher, unverstellter Kraft, ein „wütender Aufruf zur Aktion“ (Maxine Hong Kingston). Keine geringere als Margaret Atwood urteilte darüber, es sei „unverzichtbar für alle, die verstehen wollen, unter welchen Umständen Kunst entsteht oder verhindert wird“.

Olsen widmet sich in ihrem Text den „unterdrückten Stimmen“ in der Literatur und den Mechanismen des silencing. Sie geht der Frage nach, auf welche Weisen der schöpferische Geist seit jeher unterdrückt wurde, sei es auf der Seite der Produzenten selbst oder auf der Seite der Distribuenten. Sie wendet sich den namhaften Gestalten der Literatur ebenso zu wie den an den Rand gedrängten, unbekannten, unentdeckt gebliebenen. Ihr Essay öffnet den Blick für all jene, die aufgrund der sie umgebenden einschränkenden sozialen, biografischen, politisch-ökonomischen Umstände keine Sprache finden konnten — oder diese Sprache zwar zu finden, aber nicht zu Gehör zu bringen vermochten und die darum „einzig als Leerstellen“ in der Literatur auszumachen sind. Im Blick auf das Fehlende wird begreiflich, wie unsere Gesellschaft und die Literatur, die sie hervorbringt, funktioniert.

Im Vorwort verdeutlicht Julia Wolf, Autorin und Übersetzerin, die Aktualität Tillie Olsens. Zwar sei die Unterrepräsentation von Frauen in der deutschen Literaturlandschaft „bei Weitem nicht mehr so extrem“ wie von Olsen in den 1960er Jahren für die amerikanische Literatur beschrieben. Dennoch komme beispielsweise Nicole Seifert in ihrem 2021 erschienenen Buch Frauenliteratur — Abgewertet, vergessen, wiederentdeckt zu dem Schluss, dass, je höher das literarische Prestige eines Verlags sei, desto mehr dieser „auf Männer im Programm“ zu setzen scheine. Seifert untersuchte anhand der Verlagsvorschauen des Frühjahres 2020 Statistiken zur Sichtbarkeit von Frauen im deutschen Literaturbetrieb und folgerte, dass literarische Werke von Frauen seltener verlegt, besprochen und mit Preisen versehen werden.

Olsens Essay, so Wolf, komme das große Verdienst zu,

über Jahrzehnte hinweg zahllose Schreibende inspiriert zu haben, die Bedingungen ihres Schaffens und ihren Kampf um Sichtbarkeit nicht als bloßes Ergebnis ihrer individuellen Lebensbedingungen zu sehen,

sondern von einem übergeordneten gesamtgesellschaftlichen Kontext her zu begreifen.

„Die Geschichte, ja die Gegenwart der Literatur ist in den Mantel des Schweigens gehüllt“ — mit dieser Beobachtung startet Das Schweigen in der Literatur. Bald, schreibt Olsen, sei es das jahrelange Schweigen anerkannter Größen der Literatur, bald ein Schweigen im Verborgenen; manchmal das Verstummen, nachdem ein Werk erschienen ist; manchmal die Tatsache, dass es gar nicht erst zu einer Veröffentlichung in Buchform komme. Was, fragt sie, geschieht in dieser Zeit mit der Schöpferin oder dem Schöpfer, dem schöpferischen Prozess? Was braucht das Schöpferische, um sich verwirklichen zu können?

Ohne die Absicht oder den Anspruch, literaturwissenschaftlich vorzugehen, habe sie im Laufe der Jahre zunehmend das Bedürfnis verspürt, alles darüber zu lernen, was sie in Erfahrung bringen konnte, „blieb ich doch selber fast stumm und musste die Schriftstellerin in mir wieder und wieder sterben lassen“. Es gehe ihr, erläutert Olsen, weniger um „natürliches“ Schweigen — jene Zeitspanne im natürlichen Schaffenszyklus, die notwendig ist für Erneuerung, Brachliegen, Reifen. Das Schweigen, von dem sie spreche, sei „unnatürlich“:

die unnatürliche Vereitelung dessen, was sich abmüht, ins Leben zu treten, dies aber nicht vermag (…): wenn der Same auf Stein fällt; wenn der Boden nicht nahrhaft, der Frühling trügerisch, die Zeit von Dürre, Mehltau oder Parasitenbefall

gekennzeichnet sei. Ein solches Schweigen sei selbst den großen Gestalten der Literatur nicht unbekannt gewesen, und mit ihm verwandt sei das „verborgene“ Schweigen: „Werke, die abgebrochen, verschoben, verneint werden“. Auch die Zensur bringt zum Schweigen durch Streichungen, Auslassungen, den Verzicht auf bestimmte Genres. Verlage bringen zum Schweigen: durch die Ablehnung bestimmter Sujets, ihre Einordnung als „ungeeignet“ oder „nicht marktfähig“.

Das schöpferische Werk benötige unablässige Arbeit, unbegrenztes Alleinsein, häusliche Unterstützung, um sich entfalten zu können, extrapoliert Olsen aus den Äußerungen verschiedener Autorinnen und Autoren. Was aber, fragt sie, „wenn sich jene Fülle der Zeit nicht ergibt“, da die Schreibenden einem regulären Brotberuf nachgehen, sich um die Hausarbeit oder die Erziehung der Kinder kümmern müssen?

„Diesem Literarischen kann ich mich nun nicht vollständig hingeben, wie es sein müsste“, erklärte beispielhaft Franz Kafka im Jahr 1911. Abgesehen von seinen Familienverhältnissen könne er von der Literatur schon infolge des langsamen Entstehens seiner Arbeiten und „ihres besonderen Charakters“ nicht leben, weshalb er Beamter in einer Sozialversicherungsanstalt sei: „Nun können diese zwei Berufe einander niemals ertragen und ein gemeinsames Glück zulassen. Das kleinste Glück in einem wird ein großes Unglück im zweiten.“ Habe er an einem Abend Gutes geschrieben, „brenne“ er am nächsten Tag in der Versicherungsanstalt und könne nichts fertigbringen:

Dieses Hinundher wird immer ärger. Im Bureau genüge ich äußerlich meinen Pflichten, meinen innern Pflichten aber nicht, und jene nichterfüllte innere Pflicht wird zu einem Unglück, das sich aus mir nicht mehr rührt.

Sein Wesen habe nicht „genug Fassungskraft“, diese Mischung zu ertragen. Das Bewusstsein seiner dichterischen Fähigkeiten sei am Abend und am Morgen „unüberblickbar“. Er fühle sich gelockert bis auf den Boden seines Wesens und könne aus sich heben, was er nur wolle: „Dieses Hervorlocken solcher Kräfte, die man dann nicht arbeiten lässt“. Im Jahr 1915 notiert er: „Immer diese hauptsächliche Angst: Wäre ich 1912 weggefahren, im Vollbesitz aller Kräfte, mit klarem Kopf, nicht zernagt von den Anstrengungen, lebendige Kräfte zu unterdrücken!“

Zernagt bis zur Tuberkulose: Als Kafka die Zeit zum Schreiben fand, kommentiert Olsen, „konnte sein Körper nicht länger leben. Er wurde einundvierzig“.

Es ist der uralte Konflikt, den Tillie Olsen beschreibt: Den Konflikt von Kreativität und Alltag, schöpferischem Tun und Funktionieren-Müssen, Werk und Leben. Thomas Mann urteilte, dass alles Große als „ein Trotzdem“ dastehe. Darin steckt der Begriff „Trotz“ — und von diesem ist eine Menge nötig, um der Welt die Stirn zu bieten und sich den nötigen Freiraum zum Schreiben zu erkämpfen. Roland Barthes betonte in seinen Vorlesungen zur Vorbereitung des Romans, dass man nicht zulassen dürfe, dass der Alltag „wie ein Krebs“ das Werk töte. Rilke schrieb, dass es darum gehe, an dem eigenen inneren Wollen keinen Verrat zu tun: „Man kann nur sagen, dass man immer mehr dazu kommt, dieses Wollen, das zu tiefen und wichtigen Dingen geht, zu schützen, dass man sich immer aufrichtiger (…) danach sehnt, ihm alle Kraft und alle Liebe zu geben“.  Auf dieses tiefe Wollen — den Willen zum Werk — komme es an und darauf, diesem alle Kraft und Sorge zu geben, nicht „den kleinen quälenden Zufällen, von denen das Leben in Armut voll ist“.

Virginia Woolf schrieb von einer „Engelsfrau“, einem „Engel im Haus“, der bezaubernd, begütigend, einfühlsam, unendlich liebenswürdig und gänzlich selbstlos sei und es immer vorziehe, mit „den Köpfen und Wünschen anderer übereinzustimmen“. Diese „Engelsfrau“ sei es gewesen, die sich immer wieder zwischen sie und das Papier gedrängt habe. Sie sei es gewesen, die gestört und sie so sehr gequält habe, dass „ich sie schließlich umbrachte. (…) Hätte ich sie nicht getötet, dann sie mich. Sie hätte mir das Herz aus meinem Schriftwerk gerissen“. Und:

der Gedanke, dieses eine Talent, das zu verstecken den Tod bedeutete (…), könnte zugrunde gehen und mit ihm mein Ich, meine Seele — all das wurde wie Rost, der die Blüte des Frühlings zerfrisst, den Baum in seinem Mark zerstört.

Die Kosten, die sporadisches Schreiben für die Literatur bedeutet, resümiert Olsen, seien unvollendete Werke, geringere Leistungen, Schweigen, „wo es doch zu einer Blüte hätte kommen können“. Mit Blick auf die literarische Situation im Jahre 1976 befindet sie: Bemerkenswert am ökonomischen Aspekt des Lebens von Künstlerinnen und Künstlern sei nicht, „wie wenig sie verdienen, sondern wie viel sie trotz karger Einkünfte schaffen“.

In den Überlegungen zu „Kreativität, Potenzial — die erste Generation“ richtet Olsen ihren Blick auf „(u)nser unterschiedliches Hervortreten in der Literatur, soweit die Umstände es zulassen“. Man solle sich das jahrhundertelange Schweigen der Frauen in Erinnerung rufen und das Schweigen eines Großteils der übrigen Menschheit, hervorgerufen durch Klassen-, Hautfarben- oder Geschlechtszugehörigkeit. Erst vor einigen Jahrhunderten seien Schriftstellerinnen auf den Plan getreten.

Die Söhne der Arbeiterklasse erst vor wenig mehr als einem Jahrhundert. Danach schwarze Autorinnen und Autoren (…). Zuletzt Schriftstellerinnen, darunter Women of Color, Kinder von Eltern, die der Arbeiterklasse vielleicht vor einer Generation entwachsen sind; am seltensten die Schriftstellerin aus der Arbeiterklasse, die zugleich Mutter ist.

Es brauche, so schrieb schon Thomas Hardy, „zwei, drei Generationen, um das zu erreichen, was ich in einer erreichen wollte“.

Was fehlt ist ein bereicherndes, lesenswertes Buch, das sensibilisiert, den Blick schärft und bestenfalls ermächtigt zu jenem trotzigen „Trotzdem“, von dem Thomas Mann sprach. Zugleich zeigt das Buch neben dem, was fehlt, auch das, was da ist. Die von Olsen angeführten Stimmen sind da, lesbar, reproduzierbar, sie können wirken, sind in die Sichtbarkeit getreten beziehungsweise gehoben worden. Auch Olsens Stimme ist da, erklingt vernehmbar, wie ein Ruf. Ihre Texte inspirieren die Arten und Weisen, sich für und mit der Literatur und dem Schreiben zu engagieren. Was fehlt ist implizit eine Geschichte nicht allein der weiblichen Kreativität, sondern der Kreativität überhaupt, der Einbildungskraft als „Königin der Fähigkeiten“ (Charles Baudelaire) — auch (und vor allem) jener Fähigkeit, sich über alle Widrigkeiten so beharrlich wie wütend, Trotz im Herzen, hinwegzusetzen. Dass das Buch vornehmlich additiv, aneinanderreihend verfährt, zum Teil Redundanzen aufweist (was dem Lesegenuss abträglich ist), wird von der Kraft und dem es tragenden Gedanken der Sichtbarmachung und der Selbstermächtigung (des Empowerment) gemildert: Wer vermöchte einem Dammbruch Einhalt zu gebieten?

Titelbild

Tillie Olsen: Was fehlt. Unterdrückte Stimmen in der Literatur.
Essays.
Aus dem Amerikanischen von Nina Frey und Hans-Christian Oeser.
Aufbau Verlag, Berlin 2022.
256 Seiten , 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783351039837

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