Die andere Seite ist nicht dumm

Ortwin Renn verspricht Orientierung in unsicheren Zeiten

Von Christophe FrickerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christophe Fricker

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bundeskanzlerin Angela Merkel und der britische Premierminister Boris Johnson stehen, jeder auf seine Weise, für den Abschied von der klassischen politischen Praxis: Merkel ist Technokratin. Wie ihr Amtsvorgänger Gerhard Schröder und der frühere britische Regierungschef Tony Blair geht sie davon aus, dass es Aufgabe eines Spitzenpolitikers ist, die sachlich richtige Vorgehensweise zu identifizieren und umzusetzen. Für sie ist Politik eine Faktenwissenschaft, eine Technik, eine Frage der Evidenz. Demgegenüber geht Boris Johnson davon aus, dass man nur genug Schwung und Selbstvertrauen braucht, dann wird man in der Politik alles erreichen. Für ihn ist Politik eine Frage der Inspiration.

Die gegenwärtige Krise westlicher Demokratien besteht darin, dass das Gespräch zwischen diesen beiden Haltungen so schwer geworden ist. Es entsteht der Eindruck, dass Intelligenz und Emotion einander unversöhnlich gegenüberstehen. Kompromisse sind so schwer auszuhandeln, weil die beiden Archetypen sich dem Aushandeln grundsätzlich verweigern: Informationen kann man erwerben, aber nicht verhandeln. Mit Selbstvertrauen ist man ausgestattet oder eben nicht. Worüber soll man also reden?

Diese Lage, die ich hier grob überspitzt darstelle, wird vielfach analysiert: als eine Welt des Zorns, die therapiebedürftig ist und in der sich Superreiche mit Abgehängten gegen die liberale Mitte verbünden, die unter dem Druck sozialer Medien immer schwächer wird und in der sich angesichts einer kaum zu beherrschenden Flüchtlingskrise immer mehr Menschen nach der guten, alten Zeit zurücksehnen.

Ortwin Renns eben in stark überarbeiteter zweiter Auflage erschienenes Buch Gefühlte Wahrheiten leistet in dieser Situation einen wichtigen Beitrag, der auf die Stabilisierung gesellschaftlicher Verhältnisse abzielt. Renn warnt davor, die jeweils „andere Seite“ als kommunikationsunwillig und denkfaul abzustempeln. Der soziale Friede und die Handlungsfähigkeit der Gesellschaft würden nicht dadurch hergestellt, dass Informationen verbreitet und administrative Maßnahmen planmäßig durchgeführt werden – und auch nicht dadurch, dass man sich die Probleme einfach wegwünscht.

Der Risikoforscher plädiert nun erst einmal grundsätzlich dafür, die Analyse tatsächlicher Verhältnisse von ihrer Bewertung und von der Bewertung ihrer möglichen Folgen sorgfältig zu trennen. Dazu sei es nötig, dass wir uns klarmachen, was wir wissen können und was nicht. Implizit plädiert Renn für eine Abkehr von jener Datengläubigkeit, die in Zeiten von „Digitalisierung“ und smarter KI immer weiter verbreitet ist und mit der sich der Mensch Handlungsspielräume, Problemlösungsgelegenheiten und Selbstwirksamkeitserfahrungen abschnürt. Renn stellt dar, was Wissenschaft kann und was nicht.

Darauf aufbauend fordert er deliberativ-demokratische Prozesse in großem Maßstab. Wut und Ohnmachtsgefühlte könnten nur dann abgebaut werden, wenn Menschen in Entscheidungen einbezogen werden, deren Konsequenzen sie betreffen. Das erfordere die Bereitschaft zum Engagement, aber vor allem verwaltungsseitig die Anerkennung, dass bei vielen Bürgerinnen und Bürgern sowohl Wissen als auch relevante und legitime Interessen vorhanden sind. Der diesen Empfehlungen zugrunde liegende Politikbegriff stellt das Aushandeln, die Begegnung, Werte und Normen sowie die Suche nach Orientierung in den Mittelpunkt und eben nicht nur Funktionen und Informationen.

In einem dritten Schritt skizziert Renn, welche Rolle die Wissenschaft in solchen Prozessen spielen kann. Er greift auf sein Konzept einer „katalytischen“ Wissenschaft zurück, die die Welt so erschließt und Informationen so aufbereitet, dass das gesamte Akteursspektrum in der Lage ist, sachangemessene Entscheidungen zu treffen, auf die man am Ende stolz ist. Nicht nur die Politik, sondern auch die Forschung müsse also aus ihrem Wohlfühlbereich heraustreten. Auch darüber, wie Wissenschaft in den Medien dargestellt wird, finden sich bei Renn wichtige Beobachtungen.

Gefühlte Wahrheiten. Orientierung in Zeiten postfaktischer Verunsicherung ist in einem unaufgeregten Ton geschrieben; Renn spricht mit seinen Leserinnen und Lesern auf Augenhöhe und fordert sie heraus. Die zehn abschließenden, imperativisch formulierten und recht ausführlich erläuterten Empfehlungen zum Umgang mit Wissen, Medien und Politik unterstreichen den orientierenden und handlungsleitenden Anspruch des Buches. Es stellt einleuchtend dar, inwiefern in der gegenwärtigen Krise politisch-strukturelle, individualpsychologische und gruppendynamische Herausforderungen miteinander verwoben sind und gemeinsam angegangen werden sollten.

Titelbild

Ortwin Renn: Gefühlte Wahrheiten. Orientierung in Zeiten postfaktischer Verunsicherung.
Verlag Barbara Budrich, Leverkusen 2019.
206 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-13: 9783847422716

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