Im Irrenhaus zur Feuerwehrfrau geworden

In Markáta Pilátovás sprühendem Roman „Tsunami Blues“ bewegt sich die junge Karla Klimentová auf den Spuren einer geheimnisvollen Vermengung von karibischer Exotik und mitteleuropäischer Dramatik

Von Volker StrebelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Strebel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am Schluss von Markáta Pilátováss einnehmenden Roman Tsunami Blues findet die junge Karla wieder zu sich. Als fiele ein Schleier ab, eröffnen sich zudem auch dem Leser bislang ungeahnte Ausblicke. Verhandelt wurden den gesamten Roman über nichts weniger als Fragen zum Wesen der Zeit und dem Sinn des Lebens. Wenn auch über Umwege – im wahrsten Sinne des Wortes – von tausenden von Kilometern. Dabei spannt sich der topographische Bogen von Thailand über Mähren bis nach Kuba.

Gleich zu Beginn verliert Karla während eines gemeinsamen Ferienaufenthaltes in Thailand ihre Eltern. Sie wurden im Dezember 2004 Opfer des mörderischen Tsunami. Karla Klimentová hat überlebt, ihre Eltern gelten als vermisst.

Eine niederschmetternde Stunde Null für das jugendliche Mädchen mit den verfilzten Haaren und einer von Millionen von Sommersprossen gesprenkelten Haut. Ein Trauma, das sie nicht mehr loslässt, zumal sie selbst dem Wasseransturm nur knapp entgangen war: „Ich trompetete ihm in zwölf Takten entgegen. Ich bin Blueserin, die im Irrenhaus zur Feuerwehrfrau geworden ist, eine verwirrte Schamanin, die viel zu viel Regen herbeigerufen hat“. Doch Karla Klimentová aus dem Provinzstädtchen „Mährisch-Kleinstadt“ hatte nicht nur ihre Eltern verloren. Die unsägliche „Begegnung mit der schwarzen Silhouette“, der „schwarzen Surferin“, hatte ihr auch ihre Trompete entrissen sowie die Lust zu komponieren und das gewohnte Bedürfnis, sich über Melodien und Töne auszudrücken.

In der mährischen Heimat verfolgt Karlas Trompetenlehrer Lázaro Milo über die Medien die schrecklichen Ereignisse in der Ferne. Bei ihm, einem gebürtigen Kubaner, der seit 1968 auf verschlungenen Wegen in die ČSSR gelangt war, hatte Karla die spanische Sprache samt kubanischen Akzent gelernt. Auf Bitten von Karlas Großmutter Jiřina Klimentová erklärt sich Lázaro bereit, Karla im fernen Thailand ausfindig zu machen. Er findet sie in der Fremde – ein Topos der Heimkehr deutet sich an – wie er in der tschechischen Literatur immer wieder vorkommt.

Im vorliegenden Fall freilich eine Heimkehr der besonderen Art. Eine verstörte und sich selbst fremd gewordene Karla findet sich in Mähren wieder und nimmt, mehr aus Verlegenheit, ein Studium der Hispanistik im mährischen Olomouc auf. Sie lernt Jenůfa Topinková kennen, eine Spanisch-Dozentin und höchst eigenwillige Persönlichkeit mit geheimnisvoller kubanischer Vergangenheit. In dieser Begegnung beginnt sich eine abenteuerliche Spirale zu entfalten, zumal Jenůfa Topinková Karla überredet, sie auf eine Reise nach Kuba zu begleiten. Ungefährlich ist dieses Unterfangen nicht, da Jenůfa Topinková Kontakte zu kubanischen Oppositionellen pflegt.

Während der europäische Spießer Kuba mit bilderbuchhaften Sandstränden, Palmen und exotischer Lebensfreude verbindet, verherrlichen die ahnungslosen Bürgerkinder den revolutionären Gestus eines heroischen Che Guevara. Daß jedes Jahr tausende von kubanischen Bürgerrechtlern schikaniert und verhaftet werden, beeinträchtigt ihre kühnen Träume über einen karibischen Sozialismus nicht.

Karla geht hingegen mit offenen Augen durch das Land, und begreift bald, dass die karibische Insel aus „einem unübersichtlichen Dickicht aus Armut, Denunziantentum, leicht zu habendem Sex und furchtbarem Essen“ besteht. Und dennoch stellt Kuba für Karla eine Art Therapie dar. Tsunami Blues ist auch ein Entwicklungsroman. Die junge Tschechin Karla wird spätestens während ihrer verschlungenen Expedition auf Kuba erwachsen.

Auch in diesem dritten Roman der 1973 in Kroměříž geborenen Markéta Pilátová werden tschechische Biografien und Schicksale mit dem scheinbar weit entfernten Südamerika konfrontiert. Dies ist nicht etwa einer schöpferischen Laune geschuldet, um die Globalisierung poetisch zu bewältigen. Der spanische Bürgerkrieg von 1936 bis 1939, die kommunistische Tschechoslowakei und das sozialistische Kuba bilden ganz konkrete geschichtliche Abschnitte, die durchaus in einer, wenn auch entfernten, inneren Beziehung zueinander gestanden hatten.

Ein besonderer Reiz geht von Markéta Pilátovás gelungener Verschränkung von Sprache und dem dargelegten Geschehen aus. So verschmelzen die mitteleuropäischen Träume der jungen Karla mit dem Temperament lateinamerikanischer Exotik. Es entfaltet sich ein unbekümmerter phantastischer Realismus, der sich den ideologischen Bedrohungen nicht entzieht. Auf diese Weise geraten die einzelnen menschlichen Persönlichkeiten in ihrem authentischen Erleben in den Mittelpunkt.

Titelbild

Markéta Pilátová: Tsunami Blues. Roman.
Übersetzt aus dem Tschechischen von Mirko Kraetsch.
Braumüller Verlag, Wien 2016.
378 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783992001750

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