Vom Erzählen und Jagen
Leo Tuor erklärt in seinem Roman „Settembrini. Leben und Meinungen“ die beiden wichtigsten Künste
Von Daniel Henseler
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDas offizielle Graubünden wirbt mit dem Steinbock um Touristen: Seine Hörner sind in die Vermarktung integriert worden und erscheinen in Broschüren und auf Plakaten als die Striche über dem Ü im Namen des Kantons. Die enge Beziehung zu Steinböcken oder auch Gämsen, die man in Graubünden pflegt, nimmt jedoch jeweils im Herbst etwas andere Formen an. Dann wird nämlich die Jagdsaison eröffnet, und die Tiere werden zum Abschuss freigegeben. Leo Tuor (geboren 1959) hat die Jagd einmal als heiligste Kuh Graubündens bezeichnet. Der Autor ist selbst leidenschaftlicher Jäger, doch ist es gerade nicht seine Absicht, diese Heiligkeit der Jagd pauschal und unhinterfragt zu bestätigen. Seinen dritten Roman hat der Autor zwar dem „Ruhm der Bündner Jäger“ gewidmet, was zunächst durchaus aufrichtig gemeint ist, doch muss hier eben auch Ironie mitgelesen werden, wie dann die Lektüre zeigt.
„Settembrini“ ist ein Buch übers Jagen und Töten, über Trophäen und Geschichten. Settembrini ist der übergeordnete Name für die beiden Hauptfiguren, die eigentlich Gion Battesta Levy und Gion Evangelist Silvester heißen. Die beiden sind Brüder, genauer gesagt Zwillinge, die man immer wieder miteinander verwechselt, so dass sie in den Augen der Mitmenschen bisweilen zu einer einzigen Person verschmelzen. Die Wurzeln ihrer Familie liegen in Italien, und es ist daher vielleicht kein Zufall, dass sie in Graubünden etwas aus der Reihe tanzen. Sie sind eigenartige, schräge Kerle, die stets im Clinch mit der Obrigkeit sind, die aber auch überaus belesen sind, was sie zu eigentlichen Philosophen der Jagd und des Lebens macht. Ihre Sprache ist dabei eine ebenso mächtige Waffe wie das Jagdgewehr. In Geschichten und mit Hilfe von Zitaten aus der Weltliteratur deuten und erklären sie die Welt.
Ich-Erzähler des Romans ist ein Neffe der Settembrinis, der von den beiden in die – wie sie meinen – wichtigsten Künste, das Erzählen und die Jagd, eingeführt wird. Das bedeute, „ein Redner von Worten und ein Täter von Taten zu werden“. Der Roman hat daher manches von einem Bildungsroman, zumal Gion Battesta und Gion Evangelist für den Erzähler auch ein wenig die Stelle eines Vaters einnehmen. Letzterer ist nicht mehr am Leben; er ist als Wilderer oder Wildhüter – wer kann das so genau wissen – erschossen worden. Der Roman bildet allerdings auch die Leserschaft. „Settembrini. Leben und Meinungen“ ist nämlich in erster Linie ein Plädoyer für das selbstständige Denken, das sich nicht einfach aus Bequemlichkeit nur an bestehenden Autoritäten und Gurus orientiert. Tuor wirbt im Verbund mit den Settembrinis für ein Denken, das man sich nicht von den anderen abnehmen lassen soll – auch nicht von den herrschenden Großwetterlagen und Moden, und schon gar nicht von denjenigen, an die man das Politisieren via Wahlzettel delegiert hat. Das ist gewiss der schwierigere Weg, doch bewahrt man dafür seine Würde als Mensch.
Wenn Tuor seine beiden Settembrinis philosophieren lässt, schreibt er gegen die „senkrechten Quadratschädel“ an und stellt dabei die offiziellen Diskurse aus Politik und Gesellschaft mehr als nur einmal bloß. Er tut dies mit Humor und Schalk, manchmal aber durchaus auch mit einer Portion Wut und Sarkasmus. Der Roman ist denn auch weit davon entfernt, gemütliche und idyllische Heimatliteratur zu sein. Schon eher müsste man Tuors Buch in eine Traditionslinie der Schweizer Literatur einschreiben, die sich das Aufbegehren gegen die Vorstellung von der Normalität als Norm auf die Fahnen geschrieben hat. Settembrini, als Jäger zwar durchaus kein untypischer Bündner, steht mit seinen eigenwilligen Auffassungen erfrischend quer in der Landschaft.
Leo Tuors Roman besteht aus meist eher kurzen, bisweilen auch fragmentarischen Abschnitten, die in Großkapiteln zusammengefasst sind. Häufig spitzt sich die Sprache aphoristisch zu. Etwa dort, wo sich Settembrinis Gedanken zu Weisheiten oder zu Ratschlägen an den Neffen verdichten. Dann entstehen bemerkenswerte Sätze wie: „Der Philosoph hat einen weiten, der Jäger einen starren Blick“, oder: „Der Jäger verwechselt dauernd Töten und Tod. Tod verschweigt die Schuld des Jägers. Töten reißt ihm die Maske ab“, die einen Großteil vom Reiz dieses Buchs ausmachen. Tuor mischt verschiedene Stilregister, die ein breites Spektrum von volkstümlich bis hin zu philosophisch abdecken. Die vermeintlich enge Bündner Bergwelt wird gerade durch diese Sprache stets mit frischer Luft versorgt. Den leeren Worthülsen provinzieller Politiker und Jagdaufseher stellt Tuor den Tiefgang im eigenständigen Denken der Settembrinis entgegen.
Leu Tuor hat mit „Settembrini“ nach „Giacumbert Nau“ (1988) und „Onna Maria Tumera“ (2002) seinen dritten Roman vorgelegt, der wiederum von Peter Egloff aus dem rätoromanischen Original ins Deutsche übertragen worden ist. Tuor darf inzwischen als einer der wichtigsten Schweizer Autoren bezeichnet werden. Zwei seiner Markenzeichen muss man dabei besonders herausstreichen: Seine Sprache, die ein breites stilistisches Spektrum umfasst und dabei besonders in Humor und Ironie stets überaus erfrischend und souverän wirkt, sowie die gelungene Verbindung von regionalen Schauplätzen mit einem universellem Gehalt. Auf seine ganz eigene Weise sieht das auch Settembrini so, wenn er prophylaktisch schon mal festlegt, welches seine letzten Worte gewesen sein werden: „Dem Himmel meine Seele, dem Kanton meine Knochen“.
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