Grundlagenforschung im Genitalgelände
Ulrich Goerdtens neu aufgelegte Interpretationen zu Arno Schmidts „Ländlichen Erzählungen“
Von Alexis Eideneier
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseArno Schmidt macht es seinen Lesern nicht leicht. Mit dieser Feststellung beginnt Ulrich Goerdten eine seiner (nun in einem neuen Band versammelten) Interpretationen der „Ländlichen Erzählungen“. Die Absicht des langjährigen Schmidt-Enthusiasten ist es, einen Großteil dieser Textwiderstände zu überwinden; ein „tieferes Verständnis“ der mehrstimmig konstruierten Texte zu ermöglichen, die der Bargfelder Meister – auf der Schwelle zum Spätwerk der großen Typoskripte – in dem Band „Kühe in Halbtrauer“ (1964) veröffentlichte.
Wie die Schmidt-Forschung frühzeitig bemerkt hat, sind diese Erzählungen, vor allem unter dem Einfluss von James Joyce und Sigmund Freud, mit zahlreichen Neben- und Hinterbedeutungen „unterfüttert“. Die „subliminalen Verweisungszusammenhänge der Text-Binnenräume“, wie es bedeutungsschwer bei Goerdten heißt, enthalten nicht nur sexuelle Anspielungen, sondern auch ein „mythisches Substrat“, sowie eine weitere Grundschicht, die aktuelle Lebensprobleme des Autors Schmidt verhüllt zur Sprache bringt.
Um letztlich „das Buch als Ganzes aufschließen“ zu können, will Goerdten zunächst das „untergründige Assoziationsgeflecht“ ausgraben und aufdecken, das sich unter der realistischen, zumeist harmlos und unverdächtig erscheinenden Oberfläche des ereignislosen Landlebens verbirgt. Gewappnet mit dem großen Baukasten der Psychoanalyse macht er sich ans Werk, enttarnt Koitus-, Kastrations- und Kopulationssymbole, Anus, Phallus und Verdrängung, hört bei „Schwüle“ das Adjektiv „schwul“ mitklingen und so weiter.
Heute, da wir uns allmählich (aber unaufhaltsam) dem post-psychoanalytischen Zeitalter nähern, würde wohl kaum noch jemand solche Interpretationen schreiben. Oder sie zumindest nicht als objektive Textwahrheit ausgeben. Es dauerte lange, bis sich die Erkenntnis durchsetzte, dass Vieldeutigkeit unaufhebbar und das Aufschlüsseln des verborgenen Subtextes eine Illusion ist. Denn ein Kunstwerk, das sich vollends erschließen lässt, ist genau genommen gar keins. Doch als die meisten dieser Deutungen entstanden, in den 1970- und 1980-er Jahren des vorigen Jahrhunderts also, herrschte tatsächlich noch der Glaube an die Dechiffrierbarkeit literarischer Texte vor, besonders bei der sich damals in verschiedenen Gruppierungen formierenden Schmidt-Gemeinde.
Ulrich Goerdten meint indes immer noch, die Ambiguitäten in Schmidts Texten durch seine einsinnigen psychologischen Dechiffrierungen verstanden, offen gelegt und eingeholt zu haben. Er spricht vom „eigentlichen“ Subtext und beansprucht damit, diesen zu kennen. Dennoch kommt ihm, der sich als Liebhaber, ja Ergriffener des Schmidt’schen Werkes bezeichnet und sogar einen Zweitwohnsitz in Bargfeld hat, ein besonderes Verdienst zu. Das Verdienst, als einer der ersten Krypto-Bezüge in den Ländlichen Erzählungen aufgespürt und dadurch differenzierte Betrachtungen in der seitherigen Forschung ermöglicht zu haben. Denn sieht man von ihrem antiquierten Verbindlichkeitsanspruch einmal ab, so sind seine Assoziationen und Identifikationen in der Regel gut nachvollziehbar. Doch was erbringen sie wirklich für das Verständnis der jeweiligen Erzählung? Wie sind die verschiedenen Textebenen miteinander verknüpft? Stimmt etwa die These, die Emotionen des Oberflächengeschehens hätten ihren Ursprung im Untergrund des Textes? Lässt sich wirklich zeigen, dass die dichterische Fantasie ein Analogon zur Traumarbeit ist? Hier bleiben Goerdtens Exegesen viele Antworten schuldig, weshalb man ihnen allenfalls das Etikett „Grundlagenforschung“ zubilligen mag.
Schade auch, dass der Autor die Chance dieser Neuausgabe nicht genutzt hat, wichtige neuere Forschungsergebnisse auf dem Gebiet der Ländlichen Erzählungen zu reflektieren, etwa die Arbeiten Stefan Jurczyks oder Michael Neuners. Auch hält er es nicht für nötig, sich eingehend mit den Deutungen auseinander zu setzen, die Ralf Georg Czapla in seiner umfangreichen „Kühe“-Dissertation vorgelegt hat. Wer Goerdten zu kritisieren wagt, den bezichtigt er „maliziösen Unfugs“. Wer ihm auf seinem Weg durch die Textkatakomben nicht folgen mag, den brandmarkt er als „schlichtgläubig“. Und wer ganz andere Wege einschlägt, den ächtet er als „Spintisierer“. Kurz gesagt werden neuere Studien von Goerdten entweder vollends ignoriert oder pauschal verurteilt. Immerhin erklärt das Nachwort aufrichtig, wie es zu diesem bedauerlichen Befund kommt: Nach all den Jahren hat Goerdten einfach jegliches Interesse an der Schmidt-Forschung verloren.
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