Im Sternbild der Kunst

Michail Schischkin lässt in seinem Roman „Briefsteller“ zwei Liebende korrespondieren, die einander vielleicht gar nicht kennen

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine junge Frau, Sascha, schreibt an ihren Geliebten, der junge Mann, Wolodja, schreibt der Liebsten zurück. Und so fort, in einem langen Briefwechsel, den die leichte Sommerliebe überdauert, und die Jahre, und den Krieg, in den der junge Mann eingezogen wird.

Michail Schischkins Roman „Briefsteller“ ist in Russland mit dem „großen Buchpreis“ ausgezeichnet worden, in Übersetzungen erscheint er gleichzeitig in 25 Ländern. Das Buch hat tatsächlich das Zeug zum Klassiker. Doch darum geht es nicht.

„Briefsteller“ erzählt zwei Leben, die sich liebend ineinander verknäueln und zugleich nicht zusammen finden. Sascha ist eine angehende Ärztin, die zuhause bei ihren Eltern lebt. Während sie vom beruflich wenig erfolgreichen Vater geliebt wird, steht sie in permanentem Streit mit ihrer Mutter. Ihr Geliebter erfährt in den Briefen davon. Sie erzählt ihm ihre Träume und Erinnerungen, sie berichtet von den mittlerweile geschiedenen Eltern und ihrem Arbeitsalltag in der tristen Klinik. Glück und Seelenpein halten sich die Balance. Ersteres ist dem Gedanken an ihren Liebsten geschuldet, der als Soldat und Stabsschreiber in den Krieg eingezogen wird. Mit einem russischen Expeditionskorps gelangt er im Frühjahr 1900 nach China, um als Teil einer internationalen Koalition den sogenannten „Boxer-Aufstand“ niederzuschlagen. Wolodjas Briefe oszillieren zwischen Reminiszenzen ans vertraute Zuhause und der grauslichen Wirklichkeit im ebenso öden wie bedrohlichen Krieg.

Schischkin schmeichelt seinen Leserinnen und Lesern mit einer lichten, leichten Schreibweise, die die Sehnsucht der beiden Liebenden zum Blühen bringt. Vor allem anfänglich klingen die Briefe wunderbar anmutig und beinahe naiv, um mehr und mehr eine Brüchigkeit zu verraten, die bei der Lektüre Zweifel über das Gelesene aufkommen lässt.

Zum einen schreibt Sascha bereits nach einem Romanviertel von einem Sarg, mit dem sich Trauer und Schockstarre verbinden: „Es ist einfach kein Gefühl mehr da. Nichts.“ Doch Wolodjas Antwort tröstet postwendend über diesen (seinen?) Tod hinweg, indem er berichtet, wie er Totenscheine auszustellen habe. Die Skepsis ist jedoch geweckt, und sie steigt, je mehr sich auch chronologische Widersprüche und Leerstellen manifestieren. Während Wolodja weiter standhaft und mit bitterer Intensität seine grauenhaften Kriegserlebnisse protokolliert – der Kriegsverlauf ist in den Frühsommer von 1900 zu datieren – verliebt sich Sascha neu, sie heiratet, verliert ein Kind, wird im Spiegel älter und beerdigt ihre Eltern. Kommen ihre Briefe überhaupt an, ja schreiben die beiden überhaupt einander?

Solcher Fragen zum Trotz verlieren die Liebenden nie ihre intime Vertraulichkeit, auch wenn sie in ihren späteren Briefen immer ausführlicher ins Erzählen geraten, ohne sich der Aufmerksamkeit des Geliebten zu versichern. Zugleich werden die zeitlichen Klüfte zusehends offenbar. Wolodja marschiert im Sommer 1900 mit seinen Truppen auf Peking zu, während Sascha Straßenbahn fährt, telefoniert und andere Dinge tut, die ab der Jahrhundertmitte in Mode kommen. „Hauptsache, du warst in meinem Traum, wir waren zusammen“, schreibt Wolodja, um zu bekräftigen, dass er sich nicht zum Tode, sondern zum Leben rüsten wolle. Zwei Briefe später finden sie schließlich zum Kern ihres Gedankenaustauschs, der zugleich die Romankonstruktion in ihrem Innersten enthüllt. Auf Wolodjas Anregung, über die Zeit nachzudenken, erzählt Sascha von einem nächtlichen Besuch bei einem Sternengucker. „In Wirklichkeit sind Sternenbilder natürlich Unsinn“, erklärt ihr dieser, eine „zufällige Konstellation“, ähnlich wie sich Passanten auf der Straße zu einem Bild fügen können. „Das liege an der Disparität von Zeit, erläuterte er. Jeder Sternenpassant habe seine eigne, die der unseren nicht entspreche.“

Exakt von dieser himmlischen Art ist Schischkins Roman aus dem Sternbild der Vergänglichkeit und der Unzeitgemäßheit – und der Kunst. Jeder der beiden Liebenden hat eine eigene Zeit, kürzer oder länger. Um sie herum spannt der Autor einen zeitlosen Raum auf: einen Raum der literarischen Fiktion, in dem er ein Jahrhundert verklammert und in dem wahr wird, was in der schnöden Wirklichkeit unmöglich erscheint. Mag sein, dass Wolodja mitten im Briefwechsel gefallen ist, ein anderer hat seine Stelle eingenommen: der Autor selbst. Durch ihn wird Wolodja zum Schriftsteller, der Scheherazade vergleichbar überlebt, indem er Briefe schreibt und das Erlebte in Worten aufhebt. „Manchmal kommt mir alles, was geschieht, wie ein Traum vor, wirr und unerklärlich, doch dabei so real, dass es wehtut, in den Ohren klingt, in die Nase fährt.“

Schischkins „Briefsteller“ (der Titelbegriff steht für eine Anleitung zum korrekten Verfassen von Briefen) verzichtet ganz auf Gegenwartsbezüge. Er erzählt aus der Disparität der Zeiten von den ewig menschlichen Dingen: von Sehnsucht nach Glück und Liebe, von Verrat, Seelenpein und Ängsten, vor allem aber von der Vergänglichkeit des Lebens. Das Glück ist beschädigt. Das Sterben spielt eine zentrale Rolle in Saschas und Wolodjas Briefen. Während dieser ganz unmittelbar vom allgegenwärtigen Tod bedroht ist, erlebt Sascha den unaufhaltsamen Prozess des Alterns.

Schischkin erzählt davon mit einer souveränen Leichtigkeit und feinen Ironie, die in Kontrast zur Schwere der erlittenen Erfahrungen tritt. Die großen Fragen stellen sich ganz natürlich angesichts von kleinen Dingen und intimen Gefühlen. Das macht den Reiz dieses wunderbaren Buches aus, es wirkt darin alles schlüssig erzählt und steckt doch voller Widerhaken, Brüche und Abgründe. Maßgeblichen Anteil daran hat, wie der des Deutsch kundige Autor selbst betont, der Übersetzer Andreas Tretner, der die Intentionen des Autors eindrücklich ins Deutsche übertragen hat.

Gegen Ende verrutscht die Korrespondenz sachte ins Märchenhafte und, auf einmal, erscheint es wieder möglich, dass die beiden Liebenden sich doch noch finden. Und sei es im Tod.

Titelbild

Michail Schischkin: Briefsteller. Roman.
Übersetzt aus dem Russichen von Andreas Tretner.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2012.
380 Seiten, 22,99 EUR.
ISBN-13: 9783421045522

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