Rasender Stillstand

Julia Freytag folgt Elektras verdeckten Spuren in Literatur, Psychoanalyse und Film

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Elektra ist nun sicher keine ganz unbekannte Gestalt der griechischen Mythologie, doch stand sie als Figur diverser Tragödien nie so sehr im Rezeptionsfokus wie etwa die verzweifelte Kindsmörderin Medea oder gar die allseits beliebte Antigone, ganz abgesehen von den tragischen Männerfiguren Ödipus und Orest.

Julia Freytag jedenfalls apostrophiert Elektra als „verdeckte Figur“, die „verschüttete weibliche Erfahrungen“ transportiere, „die sich von der Antike auf Familien- und Geschlechterordnungen der Moderne übertragen lassen“. In ihrer Monografie „Die Tochter Elektra“ spürt die Autorin ihnen „in Literatur, Psychoanalyse und Film“ nach. Zunächst aber beginnt Freytag mit den antiken Tragödien selbst, wobei die stete Wiederholungen ihrer Nacherzählungen einzelner Handlungsteile nicht selten redundant sind. Gerade so, als erwarte sie von den Lesenden nur die Lektüre einzelner Kapitel.

Davon abgesehen lässt Freytag die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Figurenkonzeptionen Elektras bei Aischylos, Sophokles und Euripides deutlich hervortreten. Wird Elektra bei Aischylos „als Tochter dargestellt, die zwischen den Ansprüchen ihres (toten) Vaters und ihrer Mutter zerrieben wird“, so „bleibt“ sie auch bei Sophokles „als Tochter zwischen Mutter und Vater verstrickt und entwickelt keinen gangbaren Weg zur Selbsterkenntnis und Ablösung.“ Doch anders als Aischylos lässt Sophokles sie „aus dem Schatten“ ihres Bruders Orest „heraustreten“ und selbst eine die Handlung vorantreibende Rolle einnehmen. Dabei erkennt die Figur bei Aischylos allerdings nicht, dass sie sich ebenso wie ihre Schwester Iphigenie „in der Opferrolle“ befindet. Euripides wiederum stellt im Unterschied zu Sophokles nicht so sehr Elektras Trauer um den ermordeten Vater Agamemnon ins Zentrum, sondern ihre ambivalente Haltung zu ihrer Mutter Klytemnestra, unter deren „Mangel an Mütterlichkeit“ die Tochter leidet.

Besondere Aufmerksamkeit jedoch verdient Freytags Auseinandersetzung mit der Kontroverse zwischen Elektra und ihrer Mutter Klytemnestra bei Sophokles. Elektra, so erklärt Freytag zunächst, „widerlegt die von Klytemnestra aufgeführten Begründungen, warum Agamemnon Iphigenie geopfert habe“. Mit Stirnrunzeln nimmt man zur Kenntnis, dass sich die Autorin somit in dem Mutter/Tochter-Konflikt auf Seiten Elektras zu schlagen scheint. Doch stellt sich schnell heraus, dass Freytag hier nur unbedacht formuliert hat. Denn tatsächlich sieht sie sehr klar, dass Elektra zwar unter Klytemnestras „kaltblütigem Mord“ an Agamemnon leidet, doch ist Sophokels’ Figur außerstande zu sehen, dass ihr Vater Iphigenie „vielleicht nicht weniger kaltblütig“ opferte, und sie selbst ebenso wie ihre Schwester „in der potenziellen Opferrolle ist“.

Dieser Gedanke ließe sich dahingehend weiterspinnen, dass dies auch für Klytemnestra zutreffen mag, die von Agamemnon vermutlich ebenso skrupellos geopfert worden wäre, hätte die von Agamemnon beleidigte Göttin Artemis nicht den Tod von Agamemnons Tochter, sondern den seiner Gattin verlangt. Soweit geht Freytag zwar – vielleicht zu Recht – nicht, doch erkennt sie die Fragwürdigkeit von Elektras „Idealisierung des Vaters und ihres einseitigen Hasses auf die Mutter“. Dass sich, wie die Autorin meint, zumindest bei Sophokles hinter dem von Elektra „erwünschten Muttermord letztlich ein latenter Vatermord verbirgt“, ist vielleicht etwas viel gesagt. Andererseits aber stellt sich die Frage, welche andere These Elektras Haltung plausibler begründen könnte. Gänzlich überzeugt hingegen Freytags These, dass Elektras selbst auferlegte Blindheit gegenüber „der zutiefst kränkenden und demütigenden Einsicht des eigenen Opferstatus“ mit einer gewissen Zwangsläufigkeit dazu führt, „dass sie sich weder mit ihrer Schwester noch mit ihrer Mutter solidarisieren kann“. Bei Euripides hingegen „verbirgt sich hinter Elektras Wut auf die Mutter“ Freytag zufolge „der Wunsch nach Anerkennung und Liebe“.

Nach dem in gewisser Weise zwar nur vorbereitendem, dabei aber durchaus erhellendem Blick auf die antiken Tragödien kommt Freytag zu ihrem eigentlichen Thema, der „Wiederkehr Elektras im 20. Jahrhundert“. Wie bereits in den antiken Tragöden sei Elektra zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch in der Literatur und der heranreifenden Psychoanalyse „eine Figur der Erinnerung“, wie sie unter Bezugnahme auf etymologische Erwägungen erklärt, die insgesamt allerdings nicht immer ganz überzeugend sind. So legt sie bereits auf der ersten Seite dar, „Elektra leitet sich etymologisch von ‚Bernstein‘ ab.“ Das weckt nicht gerade Vertrauen in die Akkuratesse der Arbeit. Denn der Name leitet sich allenfalls vom altgriechischen Begriff für Bernstein ab. Wenig später merkt Freytag an, „das Wort ‚Bernstein‘ geht etymologisch auf das Wort ‚brennen‘ zurück“, um daraus zu folgern, „ihr Name sagt also schon, dass Elektra brennt!“ Schließlich aber argumentiert sie plausibler, „der Name Elektra ist etymologisch abgeleitet von ‚elektron‘=Bernstein“. Der Halbedelstein wiederum lasse sich „als archäologische Metapher für Erinnerung auffassen“. Auch „verkörpert“ die Figur Freytag zufolge die „Eigenschaft des Bernsteins – das Hell-Strahlende und zugleich Dunkel-Verborgene“. Ebenso sei Elektras „Status des Unverheiratetseins“ ihrem Namen „eingeschrieben“, da er von alektros „abgeleitet“ sei.

Interessant und plausibel ist Freytags These, „dass sich Elektra als Projektionsfigur für Freuds adoleszente Patientinnen angeboten hätte“. Ihr gemäß interpretiert sie verschiedene Patientinnen des Psychoanalytikers als verdeckte Elektra-Figuren, unter ihnen Anna O., für die der Tod ihres Vaters „das sie zutiefst prägende traumatische Erlebnis“ war, Elisabeth (v. R.), die nach ihres Vaters Tod versucht „den verlorenen ‚Glanz des Hauses wiederherzustellen‘“, und Dora, in der Freytag aufgrund „ihrer Rebellion und ihrer Wut gegen die familiären Tauschverhältnisse sowie gegen Freuds Deutungskunst“ eine „verdeckte Elektra-Figur“ sieht.

Zu den literarischen Elektra-Figuren der Zeit zählt die Autorin selbstverständlich die titelstiftende Figur von Hofmannsthals „Elektra“. Eine „Umkehrung zu Elektra“ entdeckt sie hingegen in der Anklage, die Schnitzlers Else nicht wie Elektra gegen die Mutter, sondern gegen ihren Vater richtet. Mehr noch: „Während Elektra sich unaufhörlich an den toten Vater erinnert und um ihn trauert, kreist Else um Suizidgedanken und Todesphantasien“, Und „während Elektra ihren toten Vater rächen will, muss Else ihren Vater retten.“ Auch unterscheiden sich Elektra und Else Freytag zufolge dadurch, dass Elektra die auch sie selbst entwertende Opferung Iphigenies „verdrängt“, die den Vater liebende Else sich jedoch sehr wohl über dessen „destruktive und entwertende Verhalten“ im Klaren ist. Doch macht Freytag auch eine Gemeinsamkeit zwischen Else und Elektra aus: Beide lebten sie „in einem rasenden Stillstand und Wartezustand“.

Solche Gegenüberstellungen beziehungsweise Parallelisierungen mögen allerdings doch allzu beliebig erscheinen. So recht überzeugt Else als (umgekehrte) Elektra-Figur jedenfalls nicht.

Auf Autorinnen-Seite ist Mela Hartwig mit der Erzählung „Das Verbrechen“ in Freytags Untersuchung vertreten. Hartwig verdichtet der Autorin zufolge in ihrer 1928 erschienenen Novelle „die in der Moderne mit der Elektra-Figur verbundenen Themen der Bedeutung des ödipalen Modells für die Fixierung der Tochter auf den Vater, der weiblichen Sexualität, der Hysterie, des adoleszenten Konflikts um Autonomie, des Wissens um die familiäre Gewalt und des Wunsches nach Rache.“ Dabei begehe Hartwigs „literarisch-feministische Kritik der Psychoanalyse“ selbst einen „symbolischen Vatermord“.

Nach der Zeitenwende zum 21. Jahrhundert interessieren Freytag vor allem cineastische Elektra-Figuren. Ihnen geht sie anhand der Filme „Volver“, „Grbavica“ und „La teta asustada“ nach. Elektra, so prognostiziert die Autorin am Ende ihrer insgesamt lesenswerten Studie, werde ihre „eigene weibliche ‚unblutige‘, ‚fruchtbare‘ Genealogie“ auch weiterhin „fortschreiben“.

Titelbild

Julia Freytag: Die Tochter Elektra. Eine verdeckte Figur in Literatur, Psychoanalyse und Film.
Böhlau Verlag, Köln 2013.
289 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-13: 9783412221430

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch