Rhapsody in Blue

Ein Versuch, die literaturwissenschaftliche Emotionsforschung für die Musikkritik fruchtbar zu machen, mit Hinweisen auf einen Sammelband von Claudia Hillebrandt und Elisabeth Kampmann

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die verrückbare Ordnung natürlicher Hirnzustände

Zwei Freunde unterhalten sich über Jazz. Der eine meint: „Bill Frisell ist ein Genie. Das ist ein intelligenter Gitarrist!“ Darauf der andere: „Was für ein Blödsinn! Frisell klingt doch furchtbar. Und klug kann Musik gar nicht sein. Es geht dabei um nichts anderes als um Emotionen!“

Nun lässt sich über Geschmack bekanntlich schlecht streiten. Aber was würde die Emotionsforschung zu diesem Disput sagen? Wie kommt es aus ihrer Perspektive dazu, dass der eine Hörer Sympathie für einen Musiker wie Frisell empfindet, und der andere nicht? Warum fühlen beide so unterschiedlich, wenn sie verfolgen, wie der amerikanische Gitarrist John Lennons Lied „You’ve Got To Hide Your Love Away“ auf den ersten Blick so minimalistisch intoniert wie ein Samuel Beckett des Jazz- oder Folkrock, bevor seine Cover-Version in einem Chor psychedelischer Dissonanzen ausklingt?

Tatsächlich wird schon erstaunlich lange angenommen, dass sich Kognition und Emotion gegenseitig bedingen. Beide Freunde haben also irgendwie Recht. Dem von Hilge Landweer und Ursula Renz 2008 herausgegebenen und seit 2012 in einer preiswerten Ausgabe vorliegenden „Handbuch Klassische Emotionstheorien“ etwa kann man entnehmen, dass bereits Descartes (1596-1650) davon ausging, die Verbindung von körperlichen und geistigen Zuständen ließe sich durch kognitives Training modifizieren. Ob man also Irritationen eigener Hörgewohnheiten und einer in bestimmten soziokulturellen Kontexten als ‚schönes Gitarrensolo‘ geltenden Form der Intonation als gelungen oder einfach nur als schräg empfindet, hat genau mit dieser ‚Verdrahtung‘ von Kognition und Emotion zu tun.

Dominik Perler fasst den Standpunkt von Descartes wie folgt zusammen: „Obwohl es eine natürliche Ordnung gibt, die festlegt, welche Hirnzustände mit welchen geistigen Zuständen verbunden sind, ja im Normalfall verbunden sein müssen, handelt es sich dabei nicht um eine unverrückbare Ordnung. Nicht nur Gott, der jederzeit eine andere Ordnung wählen könnte, sondern auch wir Menschen können diese Ordnung partiell verändern, indem wir einigen Hirnzuständen andere geistige Zustände zuordnen und damit Schritt für Schritt unsere emotionalen Reaktionen transformieren.“ Wir seien also „keine Automaten, die gemäß einem festgelegten Programm immer wieder die gleichen Zustände hervorbringen, sondern kognitive Lebewesen, die über diese Zustände nachdenken und sie durch eine geeignete Therapie zumindest teilweise in den Griff bekommen können.“

Kurz: Wo der eine nicht verstehen will, warum ein bestimmter Jazzmusiker mit Dissonanzen arbeitet beziehungsweise die Intonation einzelner Noten in fast schon ironischer Weise verlangsamt oder minimalisiert, hat der andere begonnen, die grundsätzliche Ausrichtung seines gesamten Hörerlebnisses zu verändern. Es geht ihm nicht mehr nur darum, von einer bestimmten Harmonie ad hoc zu positiven Gefühlen stimuliert zu werden, sondern er hat gelernt, gerade die partielle Enttäuschung dieser Erwartung als Strategie des Musikers zu verstehen. So kann er Frisell als ‚klugen‘ Gitarristen begreifen. Auf der Grundlage dieser kognitiven Neueinschätzung wiederum gelingt es ihm, gerade die schiefen Klänge und die seiner Annahme nach intentional gestaltete Abweichung von der Norm mit einer Faszination, also mit Sympathie und positiven Emotionen zu beantworten.

Ist man erst einmal so weit, so fällt einem bei der oben erwähnten Lennon-Cover-Version von einem Auftritt beim La Villete Jazz Festival 2012 in Paris zudem auf, dass es überhaupt nicht dissonant klingt. Ganz im Gegenteil: Wie Frisell und seine Bandkollegen aus dem tonalen Stottern einer Garagenband, von einem meditativen und tastenden Beginn aus mit großer Ruhe dieses trivial erscheinende Liebesliedchen John Lennons rekonstruieren, um seine Intonation zu einer elegischen Symphonie von Frisells Fender Stratocaster und der Pedal Steel Guitar von Greg Liezs zu steigern, erweist sich plötzlich als virtuoses Kabinettstück. Die fugenhafte Variation der Melodie, die auf das psychedelische Ende zu immer heiterer durchgespielt wird, funktioniert dabei sowohl als schrittweise Dekonstruktion, im Sinn eines überzeichneten, ironischen Abgesangs als auch wie eine nostalgische Feier, die beim Zuhören sentimantale Gefühle provozieren kann.  

Die Kölner Professorin für Allgemeine Psychologie und Methodenlehre Brigitte Scheele fasst es in dem von Claudia Hillebrandt und Elisabeth Kampmann herausgegebenen Sammelband „Sympathie und Literatur. Zur Relevanz des Sympathiekonzeptes für die Literaturwissenschaft“ (2014) so zusammen: Der erste Schritt der Einfühlung sei stets eine „kognitive Perspektivenübernahme“. Denn ohne „dass man sich in das Gegenüber kognitiv hineinversetzt hat und die Situation sozusagen mit dessen Augen wahrnimmt“, sei „auch der zweite Schritt des emotionalen Mitfühlens nicht möglich“. Diese Form der Empathie impliziere „eine Übereinstimmung im Werthorizont“ und stelle, „insofern Emotionen Bewertungszustände unter Bezug auf bedürfnisrelevante Wertmaßstäbe sind, auch für die mitfühlende Person eine vollgültige, vitale Emotion dar (nicht lediglich eine abgeschwächte Nachahmung).“

Für den Bereich der Musik wäre damit also auch dem zweiten Freund Recht zu geben, der den Gefühlen beim Hören eine so zentrale Bedeutung zuspricht: Derjenige, der nach Scheele einen kognitiven Zugang zu einer bestimmten Komposition und ihrer spezifischen Intonation gefunden hat, kann beim Lauschen tatsächlich ‚echte Emotionen‘ entwickeln, die sich in geradezu kongenialer Weise kaum von denjenigen des Künstlers unterscheiden dürften, der ganz in seiner Tätigkeit, im Spiel seines Instruments, aufgeht.

Untersuchenswert wäre in diesem Kontext auch die mimische, gestische Vermittlung solcher Gefühle bei der Intonation, also der Habitus des performenden Musikers. Sieht man sich beispielsweise an, wie Keith Jarrett die ersten Noten seines Solokonzerts in Tokyo aus dem Jahr 1984 mit mitfühlenden, verständnisvollen, aber teils auch herrisch anmutenden Gesichtsausdrücken begleitet, so kann einem das – je nach Sympathie oder Antipathie – stimmig oder einfach nur affig erscheinen. Grundsätzlich erfordert die Aufführung von Musik kein Overacting dieser Art. Wer jedoch die Harmonien und die exakte Melodieführung des Pianisten in diesen hochkonzentrierten Momenten einfühlsam verfolgt, kann genauso gut den Eindruck bekommen, dass hier jemand emotional so tief in seiner Performance versunken ist, dass er auch mimisch mit unterstreichen muss, was die Musik, die er spielt, in diesen ersten Augenblicken des Konzerts buchstäblich zu erzählen beginnt. Die Akkorde und die Melodie, die sie verbindet, erscheinen damit als ein Gespräch, in dem tief empfundene Wahrheiten mitgeteilt werden. Jeder einzelne Ton kündet in diesen Augenblicken selbst von einem tiefen Einverständnis, wird zur Auskunft über den Weltschmerz der Situation. 

Brigitte Scheele betont die Prozesshaftigkeit solcher Rezeptionsprozesse, die – je nach Disposition und Werthorizont des Lesers, Zuschauers oder eben auch Zuhörers – großen Schwankungen ausgesetzt sein können. Es kann zu „Rückkopplungsprozessen“ kommen, die bewirken, dass eine kurzfristige Empathie an Intensität und Tiefe gewinnt und zu einer langfristigen, persönlichkeitsspezifischen Sympathie als Einstellung (Attitude) heranreift. Es kann aber auch zu folgenreichen Irritationen und Unterbrechungen dieses Ablaufs kommen, welche die Sympathie in Antipathie umschlagen lassen: Wenn Jarrett etwa stöhnt, wie ein nerviges Kleinkind am Klavier herumquengelt und laute Ausrufe ausstößt, während er weiterspielt, wenn er sich schließlich sogar am Flügel hinstellt und die Augen so zukneift, als müsse er jetzt ganz dringend aufs Klo – dann könnte es manchem Zeugen seines Auftritts auch schon wieder zu viel werden mit der Exaltiertheit dieses Pianisten. Jarrett wäre dann kein ,intelligenter’ Musiker mehr, sondern einfach nur noch ein Angeber und ein eingebildeter Blödmann, dem man nicht mehr weiter zuhören möchte. 

Zum Sympathiekonzept in der Literaturwissenschaft

Zugegeben: Mit den literatur- und kulturwissenschaftlichen Fragestellungen der hier zu Rat gezogenen Publikationen hat all das auf den ersten Blick vielleicht nicht allzuviel zu tun. In dem Band von Hillebrandt und Kampmann geht es größtenteils um Beispiele aus dem Bereich der Literatur. In einem Fall allerdings auch um Filme, wenn sich Tom Kindt und Kai Sina mit der „sympathetischen Kunst und Komik bei Woody Allen“ auseinandersetzen. Brigitte Scheeles Untersuchungsobjekt wiederum ist Bernhard Schlinks Roman „Der Vorleser“. Allerdings bleibt die Sympathielenkung des Erzählers in diesem Text, die den Protagonisten Michael Berg für den Leser in ein positives Licht rückt, bei der Psychologin eher nur ein knapp erwähnter Aufhänger für die Präsentation der erwähnten psychologischen Erkenntnisse über die Prozessualität der Entstehung von Empathie und Sympathie.

Einer der wichtigsten Beiträge des Bands ist die Interpretation von E. T. A. Hoffmanns „Fräulein von Scuderi“, die Katharina Prinz und Simone Winko beigesteuert haben. Darin geht es um die höchst ambivalent dargestellte Figur Olivier Brussons, die trotz ihrer offensichtlichen Verstrickung in ein Mordgeschehen „als Sympathieträger angelegt ist“, wie die Autorinnen herausarbeiten. Sie versuchen zu Beginn ihres Aufsatzes der Begriffsverwirrung bei divergierenden Sympathie-Definitionen aus dem Weg zu gehen, indem sie entschlossen ihr Ziel im Auge behalten, „einen Arbeitsbegriff für die Textanalyse zu gewinnen“. Der konsensuell verwendete Ausdruck „Sympathie“ bezeichnet für sie deshalb ganz pragmatisch „die positive emotionale Einstellung einer Person oder Figur A zu einer anderen Person oder Figur B“.

Auch hier geht es darum, dass A Übereinstimmungen zwischen den eigenen Wertmaßstäben und denen von B wahrnimmt, die zur Entwicklung von Sympathie führen. Auffällig ist dabei eine nicht eben unwichtige Nebendiskussion, die den ganzen Band durchzieht: Prinz und Winko sprechen vorsichtig und problembewusst von „potenziell sympathielenkenden Faktoren“ in Texten, enthalten sich aber jeder Festlegung auf eine „starke autorintentionalistische Position“, um „keine bewussten Strategien des Autors“ zu unterstellen. Es geht bei ihnen also lediglich um die Bestimmung von Indizien dafür, ob die Leser eine Figur in einem literarischem Text als „sympathisch oder unsympathisch auffassen sollen“. Diese analytische Durchforstung eines literarischen Werkes folgt der Annahme, dass solche Hinweise den Lesern nahelegen, eine „positive oder negative affektive Einstellung gegenüber einer Figur, ihren Eigenschaften und/oder Handlungen, auszubilden“. Auch die Herausgeberinnen grenzen sich in ihrem Vorwort von unbefangenen Aussagen über die „Geistesverfassung der Dichter“ ab, die sie in Sigmund Freuds klassischem Vortrag „Der Dichter und das Phantasieren“ (1907/1908) vorfinden, dessen Diskussion sie für den Einstieg in ihre Einleitung ausgewählt haben.

Thomas Anz gibt jedoch in seinem Beitrag über „normative und deskriptive Poetiken emotionalisierender Figurendarstellung“ zu bedenken, dass eine bestimmte ‚Versuchsanordnung‘ eines Autors sehr wohl Schlüsse darüber zulasse, mit welchen literarischen Techniken er welche Emotionen bei den Adressaten zu evozieren versuche: „Autoren gleichen dabei mehr oder weniger bewusst wissenschaftlichen Experimentatoren, die Hypothesen über wahrscheinliche emotionale Reaktionen der Probanden auf die von ihnen arrangierten Reizkonfigurationen aufstellen und diese dann bestätigt und widerlegt sehen. Ihre Texte sind, worauf Begriffe wie Trauer- oder Lustspiel verweisen, mehr oder weniger bewusst vorgenommene Inzenierungen eines Spiels mit den Emotionen der Leser, das ge- oder auch misslingen kann.“

So einleuchtend diese Beobachtungen sind, so auffällig bleibt auch in diesem Fall die Vorsichtigkeit und Vagheit der Formulierungen. Um zum fachfremden Beispiel dieses Artikels zurückzukehren: Ließen sich solche Überlegungen auf den Bereich der Musik übertragen? Könnte man einen Gitarristen wie Bill Frisell als jemanden begreifen, der „mehr oder weniger bewusst vorgenommene Inszenierungen eines Spiels mit den Emotionen“ der Zuhörer seiner Musik versucht?

Gewiss: Die Literaturwissenschaft ist für die Beantwortung solcher Fragen nicht zuständig. Der Blick auf ein anderes Medium verdeutlicht allerdings um so mehr, wie schwierig es ist, die emotionalen Effekte von Kunst zu bestimmen. Im Bereich der Filmwissenschaft etwa spielt die Beachtung der Musik bei der Erzeugung von Zuschauer-Emotionen im Kino eine zentrale Rolle. Komponisten von Filmmusik müssen bewusst damit umgehen. So werden im Kino Figuren, die sympathisch oder unsympathisch erscheinen sollen, gerne bestimmte musikalische Motive zugeordnet, die immer dann ertönen, wenn diese Charaktere auf der Leinwand erscheinen. Man denke hier etwa an Ennio Morricones berühmte Soundtracks zu den Filmen von Sergio Leone.

Auch bei Woody Allen spielt die Musik eine wichtige Rolle, so etwa George Gershwins „Rhapsody in Blue“ in dem Schwarzweißfilm „Manhattan“ (1979). Gershwins Musik hüllt die spezifische Komik und die gesamte Inszenierung New Yorks in diesem klassischen Werk Woody Allens in eine subtile Melancholie. Kindt und Sina, die unter anderem auch auf diese Arbeit Allens zu sprechen kommen, gehen in ihrem Aufsatz jedoch an keiner Stelle auf das Thema musikalischer Emotionalisierungsformen im Kino ein. Wenn die Autoren hervorheben, dass es Allen stets um die Erzeugung emotionaler ,Wärme’ ginge und den Regisseur zitieren, er sei in seiner Bilddramaturgie der Farbe Blau stets aus dem Weg gegangen, so lässt dies gerade im Blick auf den Film „Manhattan“ aufhorchen: „Blue is fatal“, so Allan. „It’s too cold.“

Die Bemerkung wirkt zumindest dann ironisch, wenn man über ein cineastisches Porträt New Yorks redet, dessen Emotionalisierungskraft maßgeblich durch eine Komposition bestimmt wird, die „Rhapsody in Blue“ heißt. Abermals ist es also in „Manhattan“ die Musik, die dem Film seine ganz spezifische emotionale ,Farbe’ verleiht, wobei Gershwins Klavierkonzert, das Jazz und Symphonik verbindet, selbst keinesfalls nur ,kalt’ klingt, sondern teils mit geradezu albern anmutenden Tanzpassagen aufwartet.

Es mag mit der Unwägbarkeit und der grundsätzlichen Ambivalenz der hier beispielhaft geschilderten Prozesse der Sympathiebildung zusammenhängen, dass ein solches soziales Phänomen in der Literaturwissenschaft bis dato kaum untersucht wurde. Nicht nur deshalb seien insbesondere die Beiträge in dem Band von Hillenbrandt und Kampmann zur weiterführenden Lektüre anempfohlen. Schließlich funktionieren auch die Rezeptionsprozesse von Philologen nicht viel anders als die Musikwahrnehmung unserer beiden streitenden Freunde, die sich nicht über Bill Frisell einigen können. Sich die Grundlagen eigener Wertungsprozesse bei der Interpretation auch aus dieser Perspektive bewusster zu machen, ist für die Literaturwissenschaft ein wichtiger Schritt nach vorne.

Anm. der Red.: Da der Verfasser des vorliegenden Essays einige der erwähnten Autorinnen und Autoren persönlich kennt und schätzt, die noch dazu teilweise – wenn auch nur sporadisch – für unsere Zeitschrift geschrieben haben, konnte es hier nicht darum gehen, eine ausführliche Rezension zu verfassen. Auf den Band von Hillebrandt und Kampmann und die daraus herorgehobenen Beiträge wird aus diesen Gründen lediglich neutral hingewiesen, um sie konstruktiv in die Überlegungen mit einzubeziehen.

Titelbild

Hilge Landweer / Ursula Renz (Hg.): Handbuch Klassische Emotionstheorien. Von Platon bis Wittgenstein.
Hg. unter Mitwirkung von Alexander Brungs.
De Gruyter, Berlin/Boston 2012.
712 Seiten, 39,95 EUR.
ISBN-13: 9783110284157

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Claudia Hillebrandt / Elisabeth Kampmann (Hg.): Sympathie und Literatur. Zur Relevanz des Sympathiekonzeptes für die Literaturwissenschaft.
Erich Schmidt Verlag, Berlin 2014.
308 Seiten, 49,80 EUR.
ISBN-13: 9783503155101

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