Muttersprache ohne Vaterland

Ein Sammelband von Stephan Braese und Daniel Weidner widmet sich dem Verhältnis von Sprachkultur und Wissenschaftsdenken deutscher Juden

Von Irmela von der LüheRSS-Newsfeed neuer Artikel von Irmela von der Lühe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

1926 hat Sigmund Freud in einem Interview formuliert, was im Jahre 2013 einer Tagung und nun auch einem Aufsatzband den Titel lieferte. Es geht um Geschichte, Semantik und Funktion der deutschen Sprache für jüdische Intellektuelle seit der Reichsgründung. Freud bekannte sich seinerzeit emphatisch zu einem Deutschtum, das er in seiner Sprache, seiner Kultur und seinen „Errungenschaften“ verankert sieht. Er verknüpfte dieses freilich mit einem zeitdiagnostisch nicht minder brisanten Bekenntnis: „Geistig betrachtete ich mich als einen Deutschen, bis ich die Zunahme antisemitischer Vorurteile in Deutschland und Deutschösterreich bemerkte. Seither bezeichne ich mich lieber als Juden“.

Aus gutem Grund sehen die Herausgeber in Freuds ebenso scharfsinnigem wie symbolträchtigen Diktum nicht lediglich die Opposition gegen den grassierenden Antisemitismus, der den Juden ihr Deutschsein zu bestreiten versuchte; vielmehr erkennen sie in Freuds Bekenntnis gleichsam das Emblem für eine mentale und wissenschaftliche Disposition mit enormer Auswirkung auf Wissenschaft und Kultur seit der Kaiserzeit. Geht es doch um die sprachliche Seite einer wissenschaftlichen Produktivität, die sich in der Etablierung neuer Disziplinen (Psychoanalyse, Soziologie), ja der Geisteswissenschaften insgesamt zeigt. Es wird mithin gerade nicht nach dem „Anteil“ oder dem „Beitrag“ von Juden an der deutschen Kultur oder den Geisteswissenschaften gefragt, sondern nach den spezifischen Ambivalenzen und Paradoxien, die sich aus der Tatsache ergaben, dass Emanzipation und Akkulturation der Juden seit dem 18. Jahrhundert als Integration in die deutsche Sprache erfolgte.

Die traditionelle jüdische Mehrsprachigkeit, ihrerseits unter anderem eine Folge des Sprachwandels vom Jiddischen ins Standarddeutsche, wurde zu einem eigenen kulturellen Erbe und ließ zudem eine ganz eigene identitäre Bindung an das Deutsche entstehen. Über ihre Sprache – so der Ausgangsbefund des Bandes – identifizierten sich die Juden als Deutsche und zugleich entwickelten sie „ein Verhältnis zur Sprache, das sich von dem der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft unterschied: eine deutsche Sprachkultur von Juden“. Worin sie besteht, vor allem aber welche widersprüchlichen, gelegentlich sogar selbstverleugnenden Haltungen sie zeitigt, das wird in den einzelnen Aufsätzen des Bandes biographisch-exemplarisch oder systematisch-diskursgeschichtlich vorgeführt: an Georg Simmel und Fritz Mauthner, an Gershom Scholem und den Repräsentanten der „Frankfurter Schule“ (Leo Löwenthal, Walter Benjamin und Theodor W. Adorno), an Käte Hamburger und Margarete Susman, an Sigmund Freud und Peter Szondi sowie abschließend und vergleichend an Walter Benjamin und Maurice Blanchot.

Die Unterschiede im Einzelnen sind erheblich, die Aussagekraft der jeweiligen Beiträge für die systematischen Vorgaben des Rahmenthemas naturgemäß sehr unterschiedlich, in jedem Einzelfall aber höchst informativ. So entwickelte sich zum Beispiel das Sprachdenken Mauthners als „politische Sprachkritik“ und von einer randständigen Position aus, während Scholems Rückbesinnung auf das Hebräische im „unsicheren Zwischenraum“ von deutsch-jüdischer und neuhebräischer Sprachkultur entstand. Hingegen firmiert Simmel mit seinem „Exkurs über den schriftlichen Verkehr“ als Beispiel für ein deutsch-jüdisches Sprachdenken, das  jüdische Identität allenfalls als „Chiffre“ akzeptiert, während das assimilatorische Anliegen Löwenthals so weit reicht, dass er „weder ein Sprachdenker noch […] ein jüdischer Denker ist“. Sachlich und methodisch stößt man an solchen und anderen Stellen des Bandes auf die Schwierigkeit, ein „Sprachdenken von Juden“ auch und wohl gerade dort auszumachen, wo seine Repräsentanten ihre jüdische Herkunft, ihr Jude-Sein negierten oder im wissenschaftlichen Diskurs bewusst zum Verschwinden bringen wollten.

Friedrich Gundolfs Wissenschaftskonzeption reicht in dieser Hinsicht wohl am weitesten. Seine Habilitationsschrift „Shakespeare und der deutsche Geist“ (1911) zeugt „zwischen den Zeilen“ von einem „abgelegten Judentum“. Sein Versuch einer „Auflösung des Judentums“ schließt sogar die Absicht ein, das Judentum aus einer „kulturellen Europäizität“ herauszuhalten, die für die deutschen Juden seit der Emanzipation nachweislich von herausgehobener Bedeutung gewesen ist. Die verlegerischen Anstrengungen eines Moritz Veit (1808–1864), vor allem aber die editorischen und interpretatorischen Leistungen der jüdischen Goethephilologie des 19. Jahrhunderts, insbesondere Michael Bernays und Ludwig Geigers, bezeugen das gegenteilige Anliegen, verbunden mit dem unerschütterlichen Vertrauen, dass durch „Bildung“ auch „Teilhabe“ und dass im Dienst an Goethe und einer von der deutschen Sprache getragenen „Weltliteratur“ die dauerhafte Anerkennung als deutsche Juden zu gewinnen sei.

Dem paradoxen Verhältnis der jüdischen Herkunft der Autoren und einem entweder „deutschen“ oder universalistischen Wissenschaftsverständnis gehen die meisten Beiträge nach: Ob man als Jude eine „deutsche Sprachkultur von Juden“ repräsentierte, ob man dies im expliziten oder impliziten Verzicht auf das eigene Judentum tat oder ignorierte, oder ob man wie Scholem und Susman die Bindung und gar Rückbesinnung auf das Judentum zum integralen Bestandteil dieser „deutschen Sprachkultur von Juden“ machte, all dies markiert nicht lediglich das historisch-systematische Spektrum der behandelten Themen, es markiert auch eine kaum auflösbare methodische Problematik, die aus der Fragestellung des gesamten Bandes erwächst. Wenn „deutsche Sprachkultur von Juden“ ihre empirische und performative, ihre nachweisbare und implizite geistes-und ideengeschichtliche Wirkungsmacht auch dann noch zu entfalten vermag, wenn ihre Repräsentanten an einer solchen „deutschen Sprachkultur von Juden“ nicht interessiert waren, wenn sie ihren Beitrag zu dieser „Kultur“ und den Geisteswissenschaften im wissenschaftlich objektivierten Verzicht auf solche Zugehörigkeitssignale zu erbringen hofften, so wird man sie nur dann für diese „Kultur“ vereinnahmen können, wenn man von ihrem Selbstverständnis absieht, oder wenn man es im Unbewussten der Texte, „zwischen den Zeilen“ meint aufspüren zu können.

In einigen, freilich nicht in allen Fällen sind die Beiträge des Bandes dieser Gefahr nicht entgangen; auch wird man fragen müssen, ob das Desiderat in der Erforschung modernen jüdischen Denkens wirklich darin besteht, „eine Tradition postjüdischer Intellektueller zu erschließen“. Peter Szondis wissenschaftliche Essayistik, deren genuiner „Ethik“ ein eigener Beitrag gewidmet ist, liefert gleichsam den Gegenbeweis. Folgt man den materialreich begründeten Ausführungen, so zeigt sich Szondis „Treue […] zu Juden und deren Schwierigkeiten“ in einem mit großer Strenge praktizierten hermeneutischen Verfahren, das Genauigkeit, Rationalität und Menschlichkeit verbindet. Die Subjektivität des Autors wird nur als „Entzweiung“ fassbar, ihre Objektivierung erfolgt als bewusste Formgebung, also in Gestalt des wissenschaftlichen Essays. Der Konnex zwischen Gattungswahl (Essay), Erkenntnismethode (Hermeneutik) und jüdischer Erfahrung (Szondi als ungarischer Jude) mag ein wenig „gesucht“ anmuten, von „postjüdischer“ Intellektualität zeugt er gewiss nicht. Wohl aber in einer weiteren Variante von den mentalen, existenziellen und intellektuellen Aporien, die der Blick auf die Konstellationen einer „deutschen Sprachkultur von Juden“ freigibt.

So erweist sich diese „deutsche Sprachkultur von Juden“ als „soziale und kulturelle Erfahrung“, insofern sie von erfolgreichen Karrieren in Gesellschaft und Wissenschaft begleitet ist; sie erweist sich als ursächlich für die „Erfolgsgeschichte der Geisteswissenschaften“ und hier insbesondere für deren Öffnung zur „Kulturwissenschaft“ und den intellektuellen Siegeszug der Psychoanalyse. Dies bezeugen vor allem die Beiträge über Sigmund Freuds Goethe-Sehnsucht und über A. J. Storfers „Wortforschung“ als „Kulturgeschichtsforschung“. Ganz anders hingegen das Sprachdenken der deutschsprachigen Emigration; es basiert auf der Erfahrung eines erzwungenen Heimatverlusts, einer Deterritorialisierung auch der Sprache, die in der Vorstellung von Sprache und Kultur als „portativer Heimat“ ihre wiederum ambivalente Kompensation fand.

Titelbild

Stephan Braese / Daniel Weidner (Hg.): Meine Sprache ist Deutsch. Deutsche Sprachkultur von Juden und die Geisteswissenschaften 1870-1970.
Kulturverlag Kadmos, Berlin 2015.
290 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783865992864

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