Wilhelm Raabe: „Zum Wilden Mann“
Von Rolf Parr
Für mich ist der gleich ‚doppelte‘ Anfang von Wilhelm Raabes 1873/74 entstandener Erzählung Zum wilden Mann einer der verblüffendsten und zugleich modernsten der Literatur des Realismus, der auf Vieles vorausweist, was sich dann in der klassischen Moderne in forcierter Form wiederfindet. Die Erzählung beginnt nämlich zunächst mit einer langen Schilderung des Wetters, um dann recht abrupt zusammenzufassen: „Ohne alle Umschweife, der Herbstabend kam früh, war dunkel und recht stürmisch.“ Das ist ein Textbeginn, für den Robert Musils Mann ohne Eigenschaften dann berühmt geworden ist („Mit einem Wort […]: Es war ein schöner Augusttag des Jahres 1913.“), dem Prinzip nach aber eben auch schon bei Raabe anzutreffen ist. – Doch damit nicht genug: Im ersten, öffnenden Rahmen spricht der Erzähler gleich zu Beginn ‚seine‘ Leser an, „die er aus dem Deutschen Bunde“ (bis 1866) „in den Norddeutschen“ (ab 1866) „und aus diesem in das neue Reich“ (ab 1871) „mit sich hinübergenommen“ habe und die wegen des gerade erst geschilderten Unwetters mit ihm unter „das schützende Dach dieser neuen Geschichte eilen“, „der Erzähler mit aufgespanntem Schirm von links, der Leser, gleichfalls mit aufgespanntem Schirm, von rechts“. Eigentlich also bereits in der Geschichte platziert, flüchtet der Erzähler auf derselben Erzählebene wie seine Figuren und dann auch noch zusammen mit den direkt angesprochenen Lesern vor dem von ihm selbst erzählten Wolkenbruch. Durch dieses Spiel mit den Erzählinstanzen wird die Grenze zwischen dem empirischem Autor Wilhelm Raabe und der Erzählerfunktion im Text ebenso verwischt wie die zwischen den im Text angesprochenen fiktiven Lesern und den tatsächlichen zeitgenössischen Rezipienten Raabes der 1860er bis frühen 1870er Jahre und damit letzten Endes die Differenz zwischen Fiktion und Realität überhaupt. Zugleich wird – darin nicht unähnlich der Exposition der Schiller’schen Dramen – eine Bühne etabliert, auf der Autor, Erzähler, empirische und fiktive Leser zusammenkommen, womit ein weiteres Mal die Unterscheidung von Realität und Literatur vage wird. Das ist für einen Erzählanfang von insgesamt zweieinhalb Seiten Umfang nicht wenig.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen